Kerzen für die Ukraine
Wie hundertmal zuvor und danach haben wir damals die Kerzen angezündet, und doch leuchtete ihre Flamme am Heiligen Abend 1989 anders. In ihrem Licht lag mehr Hoffnung und Erwartung, aber auch mehr Solidarität und Mitgefühl mit anderen Menschen.
Es war das erste Weihnachten nach der so genannten Samtenen Revolution, das erste Weihnachtsfest in einem Land, das seit kaum mehr als einem Monat wieder frei war. Viele Studenten haben die Feiertage damals nicht im Familienkreis, sondern an den noch streikenden und besetzten Universitäten verbracht. Nur einen Tag vor dem Heiligen Abend haben Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei, Hans Dietrich Genscher und Jirí Dienstbier, den Stacheldraht an der gemeinsamen Grenze durchschnitten und somit die Grenze zwischen Ost und West symbolisch durchbrochen.
Allerdings nicht überall in Europa glückte es, dass die politische Wende so samten und friedlich verlief. Wer am Heiligen Abend 1989 in die Messe oder einfach nur spazieren ging, konnte Kerzen in den Fenstern vieler Häuser und Haushalte leuchten sehen: Kerzen, die man für Rumänien angezündet hat, wo über das weitere Schicksal erst noch in jenen Tagen entschieden wurde. Weihnachten war in jenem Jahr wirklich ein Fest der Solidarität.
Eine ähnliche Atmosphäre wie die vor 15 Jahren in der Tschechoslowakei herrscht heute in einem anderen Land des einstigen Ostblocks: in der Ukraine Auch dort sind im Herbst Tausende Menschen auf die Straßen gegangen, auch dort äußerten die Leute offen ihre Meinung über das öffentliche Geschehen und ihre Unzufriedenheit mit der politischen Entwicklung. Natürlich gibt es Unterschiede: Es geht dort nicht mehr um den Sturz des kommunistischen Regimes, sondern um eine Umwandlung des postkommunistischen Systems, das noch ein langer Weg von der Demokratie trennt. Die Ukraine hat im Herbst einen großen Sieg erreicht, indem die Bürger die Wiederholung der manipulierten zweiten Runde der Präsidentschaftswahl erzwungen haben. Diese steht an diesem Sonntag bevor. Wir wollen nicht die beiden Kandidaten beurteilen und sagen, welcher von ihnen für die weitere Entwicklung des Landes der rechte ist. Wir möchten nur den ukrainischen Bürgern gratulieren, dass sie Mut und Kraft gefunden haben, um ihre Stimme zu erheben und sich gegen die Verletzung der demokratischen Regeln offen zu stellen. Und wir möchten ihnen wünschen, dass ihre jetzige Wahl gut ist und ihr Land auf den richtigen Weg bringt. Und dabei können wir auch eine Kerze für die Ukrainer in unseren Fenstern oder auf unserem Weihnachtstisch anzünden.