An der Jahreswende: Blick zurück in die Zukunft
Dieser Tage begegnet man in fast allen größeren Medien den traditionell üblichen Jahresrückblicken. Und auch wir von Radio Prag haben mit unserem Anspruch, nämlich in deutscher Sprache Informationen über das Geschehen in der Tschechischen Republik zu präsentieren, für den ersten Januar eine solche Rückschau auf das Jahr 2002 vorbereitet. Doch manche Ereignisse des ablaufenden Jahres werfen bereits jetzt recht klar konturierte Schatten auf das kommende. Dort, wo dies der Fall ist, kann man die Rückschau getrost mit einer Vorschau kombinieren: Welche Entscheidungen stehen 2003 an, und welche Entwicklungen des Jahres 2002 könnten für diese ausschlaggebend sein? Im nun folgenden "Schauplatz" versucht Gerald Schubert, einige Antworten auf diese Fragen zu finden.
Vor etwa einer Woche veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut CVVM eine Umfrage: Mehr als 1000 Tschechinnen und Tschechen waren Ende November und Anfang Dezember danach gefragt worden, welche Ereignisse der letzten Zeit für sie besonders bedeutend waren. Die sechs Spitzenreiter waren: Der Prager NATO-Gipfel, die Wahlgänge des abgelaufenen Jahres, das Hochwasser vom August, der Anfang Februar bevorstehende Abgang von Staatspräsident Vaclav Havel, ein möglicher Angriff auf den Irak und die Vorbereitungen auf den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union. Auffallend dabei ist, dass sich die Hälfte jener führenden Themen unmittelbar auf Ereignisse bezieht, die noch gar nicht stattgefunden haben. Und auch Hochwasser, NATO-Gipfel und Wahlen werden sehr konkrete Auswirkungen auf das Jahr 2003 haben. Kehren wir also noch einmal um, blicken wir in die Vergangenheit der letzten Monate und schlagen wir die Brücke in das nächste Jahr.
Konzentrieren wir uns dabei ganz auf zwei Aspekte der politischen Entwicklung in der Tschechischen Republik: Da sind zum einen die Wahlergebnisse des vergangenen Jahres und deren Bedeutung für die politische Agenda 2003, auf der bekanntlich auch die Bestimmung des Nachfolgers von Staatspräsident Havel steht. Der zweite Themenkreis, dem wir uns widmen wollen, geht aus dem ersten unmittelbar hervor und betrifft den tschechischen EU-Beitritt: Wie geht es nach Kopenhagen nun weiter?
2002 war für die Tschechische Republik ein veritables Superwahljahr. Da waren zunächst, Mitte Juni, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Parlaments. Die sozialdemokratische Partei CSSD konnte ihren Sieg des Jahres 1998 verteidigen und wurde mit einem Ergebnis von etwas über 30 Prozent abermals zur stimmenstärksten Partei. Das Ergebnis der anschließenden Regierungsverhandlungen: CSSD-Parteichef Vladimir Spidla bildete eine Koalition mit der liberalen Freiheitsunion und den Christdemokraten und wurde neuer Premierminister. Gegenüber der aus der rechtsliberalen ODS und den Kommunisten bestehenden Opposition aber kann sich die Regierung im 200 Sitze zählenden Abgeordnetenhaus nur auf die knappe Mehrheit von 101 zu 99 stützen.
Nur wenige Monate später, Ende Oktober und Anfang November nämlich, fanden Wahlen zum parlamentarischen Oberhaus, dem Senat, statt. Und deren zweite Runde wurde, damit sind wir beim dritten Urnengang des Jahres 2002, gemeinsam mit landesweiten Kommunalwahlen abgehalten. In beiden Fällen konnten diesmal die ODS und vor allem unabhängige Kandidaten Erfolge verbuchen. Senatspräsident Petr Pithart von den Christdemokraten meinte im Bezug auf letztere sogar: "Diesmal könnten die Unabhängigen das Zünglein an der Waage sein."
Doch wobei eigentlich? Die Macht des Senats, der etwa mit einfacher Mehrheit vom Abgeordnetenhaus überstimmt werden kann, ist nämlich de facto äußerst begrenzt. Aber es gibt eine gewichtige Ausnahme: Die Wahl des Staatspräsidenten. Diese wird in Tschechien von beiden Kammern des Parlaments durchgeführt und steht bereits Mitte Januar 2003 auf dem Programm. Ende Januar nämlich läuft die Amtszeit von Vaclav Havel definitiv ab.
Damit ist zumindest eines klar: Die Urnengänge des alten Jahres werden gleich zu Beginn des neuen Jahres ihren Niederschlag finden, wenn darüber entschieden wird, wer als neues Staatsoberhaupt auf der Prager Burg einzieht. Im Gespräch sind bisher unter anderem Senatsvorsitzender Pithart, Ex-Justizminister Bures sowie die ewigen Kontrahenten und Ex-Parteichefs von CSSD und ODS, Milos Zeman und Vaclav Klaus. Strategievarianten und politische Planspiele gibt es zur Zeit noch jede Menge. Und wirklich sicher scheint mittlerweile nicht einmal mehr der Wahlmodus selbst: Durch die neue Zusammensetzung beider Parlamentskammern nämlich kann durchaus eine Pattsituation entstehen, die letztlich sogar doch noch eine Verfassungsänderung und eine Direktwahl des Präsidenten durch das tschechische Volk ermöglichen könnte.
Wer also das nächste tschechische Staatsoberhaupt ist, und auf welche Weise es schließlich gewählt werden wird, das dürfte für alle politische Interessierten wohl die spannendste Frage am Beginn des neuen Jahres sein.
Im Zusammenhang mit der Unterhauswahl vom Juni wird auch stets ein anderer Aspekt besonders hervorgehoben: Es gebe, so heißt es oft, eine "parlamentarische Mehrheit für Europa". Die große Oppositionspartei, also die ODS, ist zwar nicht definitiv gegen den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union, hat aber in letzter Zeit immer wieder mit betont EU-kritischen Tönen auf sich aufmerksam gemacht. Auch das Verhandlungsergebnis, das die Regierung nun auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen erzielt hat, wurde von der ODS hauptsächlich negativ gewertet: Man habe, so hieß es aus den Reihen der ODS, im finanzpolitischen Bereich nicht hart genug verhandelt. Und was die historische Dimension eines wiedervereinigten Europas anbelangt, so kritisierte dieselbe Partei, dass es in Kopenhagen ohnehin nur um unwürdiges Feilschen um Millionen gegangen sei.
Vielleicht steckt hinter dieser augenscheinlichen Paradoxie ein grundsätzliches Dilemma: Denn die Frage, ob es in der EU "eigentlich" um die Überwindung der Nachkriegszeit in Europa, oder "eigentlich" doch nur um die Aufteilung von Geld und Macht geht, diese Frage lässt sich nicht zufriedenstellend beantworten. Höchstens vielleicht mit dem Hinweis darauf, dass es auch in Kriegen um Geld und Macht geht, und dass die beiden Interpretationen einander somit nicht ausschließen.
Jedenfalls wird die zweite spannende Frage des neuen Jahres lauten: Wie verhält sich die ODS nun in der Vorbereitung auf das für Juni geplante EU-Referendum, und wie wird die zu erwartende Diskussion die Parteienlandschaft Tschechiens prägen? Die Regierungsparteien haben bereits einen massiven Werbefeldzug für einen EU-Beitritt angekündigt, die Kommunisten geben sich abwartend, und die ODS hat verlautbart, dass sie es wohl sein müsse, die den Bürgern über die Europäische Union die Wahrheit sagt. Wie diese "Wahrheit" letztlich aussehen wird, das bleibt aber abzuwarten. Denn bei allen Ressentiments gegen supranationale Regulierungsmechanismen und bei aller verständlichen Kritik einer Oppositionspartei an der Regierung bleibt die ODS doch eine wirtschaftsliberale Partei, die ihrer Klientel wohl nur schwer einen wirklichen Anti-EU-Kurs verkaufen kann.
Und das Referendum selbst? Eine verlässliche Prognose über seinen Ausgang kann bisher freilich noch niemand wagen. Doch lassen wir zum Abschluss den Politologen und EU-Experten Rudolf Kucera zu Wort kommen, der im Gespräch mit Radio Prag doch eine wichtige Tendenz zu erkennen glaubt:
"Ich glaube, dass es immer noch eine gute Chance für einen positiven Ausgang des Referendums gibt. Denn in der Gesellschaft hat sich bereits eine relativ breite Schicht von Menschen herausgebildet, die sich der Ernsthaftigkeit dieses Schrittes bewusst sind. Ich meine damit zum Beispiel Unternehmer, die Mittelschicht, Studenten usw. Ihnen wird die Mitgliedschaft sehr konkrete und schnelle Vorteile bringen. Und diese Schicht wird das Referendum letztlich entscheiden."
Eines ist jedenfalls ganz sicher: Man braucht keine Kristallkugel, um vorauszusagen, dass das nächste Jahr in der Entwicklung der noch so jungen Tschechischen Republik von entscheidender Bedeutung sein wird. Und wir von Radio Prag werden wie immer versuchen, sie so gut wie möglich auf dem Laufenden zu halten.