Das Jahr 1992

Kardinal Frantisek Tomasek

Die Parlamentswahlen stehen vor der Tür, am 14. und 15. Juni werden die Tschechen zum dritten Mal seit der Unabhängigkeit ihres Staats ein neues Abgeordnetenhaus wählen. Grund für uns, heute einen Blick auf das Jahr 1992 zu werfen, als ebenfalls im Juni Parlamentswahlen stattfanden, die für die Zukunft des Landes von entscheidender Bedeutung sein sollten bzw. für dessen nichtexistierende Zukunft, denn damals - vor 10 Jahren - existierte die Tschechoslowakei noch. In den folgenden Minuten läd Sie Katrin Bock zu einem Ausflug in das Jahr 1992 einladen, in dem nicht nur Parlamentswahlen stattgefunden haben und neue Regierungen eingesetzt wurden, sondern auch über die weitere Existenz des Landes diskutiert wurde und das Staatsoberhaupt zurücktrat.

Das Jahr 1992 begann in der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, wie das Land seit April 1990 hiess, mit Verhandlungen zwischen führenden Vertretern der beiden Landesteile. Diese Verhandlungen im Januar 1992 sollten - wie sooft in den letzten Monaten - die staatsrechtliche Situation im Lande endgültig klären. Seit der Samtenen Revolution zwei Jahre zuvor war es immer wieder zu Diskussionen und Verhandlungen zwischen Tschechen und Slowaken über den Staatsaufbau und die Rechte der beiden Teilrepubliken gekommen. Ausdruck dieser Diskussionen war bereits im März 1990 der sogenannte Bindestrich- Krieg gewesen. Wochenlang diskutierten Parlament und Öffentlichkeit, bis sich die Abgeordneten schliesslich auf einen neuen, provisorischen Namen für ihr Land einigten. Die Tschecho-slowakische Föderative Republik wurde mit einem Bindestrich geschrieben, der einen Monat später von einem "und" ersetzt wurde.

Doch zufrieden waren vor allem die Slowaken noch immer nicht. Im Februar 1992 endeten die neusten tschechisch- slowakischen Verhandlungen über die zukünftige staatsrechtliche Ordnung des Landes mit einem Fiasko - das slowakische Parlament lehnte die zuvor mühevoll ausgearbeiteten Kompromisse ab. Doch die Diskussionen und Verhandlungen über das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken sollten im Jahre 1992 noch ganz andere Dimensionen erreichen. Doch bevor es soweit ist, wollen wir an ein paar andere Ereignisse des Jahres 1992 erinnern:

Vor zehn Jahren, im Feburar 1992, begann das Verfassungsgericht der Tschechoslowakei im mährischen Brno seine Tätigkeit. Heute ist Brno Sitz des nunmehr nur noch tschechischen Verfassungsgerichts.

Ebenfalls im Februar besuchte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl die Tschechoslowakei. In Prag wurde ein Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Beziehungen unterzeichnet. Noch war keine Rede von einer tschechisch-deutschen Deklaration oder der Errichtung eines tschechisch-deutschen Zukunftsfonds, diese folgten erst vier Jahre später.

Im März des Jahres wurden die ersten tschechoslowakischen Soldaten in das ehemalige Jugoslawien entsandt. Dort waren sie im Rahmen der UN- Friedenstruppen UNPROFOR tätig.

Am 1. April 1992 entstand eine neue Partei durch die Fusion zweier kleinerer: die KDU-CSL, zu deutsch Christlich demokratische Union - tschechoslowakische Volkspartei. Diese Partei setzte sich aus der nach 1989 entstandenen Christlichen Union und einer ehemaligen Blockpartei zusammen und spielte in den folgenden Jahren eine recht grosse Rolle in der Politik der Tschechischen Republik.

Im Juni 1992 fanden schliesslich die ersten wirklichen freien Parlamentswahlen nach der Samtenen Revolution von 1989 statt. Zwar hatten die Tschechen und Slowaken bereits 1990 gewählt, doch diese Wahlen hatten einem Referendum gegen den Kommunismus geglichen. In der tschechischen Teilrepublik hatte damals das "Bürgerforum" gewonnen, in der Slowakei die "Gesellschaft gegen Gewalt". Beide Bündnisse waren während der revolutionären Tage des November 1989 entstanden und glichen eher einem bunten Mix verschiedenster Meinungen und Überzeugungen als eine politischen Partei. In den folgenden zwei Jahren hatten sich diese Bündnisse zerstritten und gespalten, neue politische Parteien entstanden, die nun, im Juni 1992, erstmals zu einer Parlamentswahl antraten.

Im tschechischen Landesteil wurde der im April 1991 entstandenen "Demokratischen Bürgerpartei ODS" des amtierenden Finanzministers Vaclav Klaus die meisten Stimmen prophezeit, in der Slowakei wiederum der eher linksorientierten "Bewegung für eine Demokratische Slowakei HZDS" von Vladimir Meciar. Am 5. und 6. Juni 1992 schritten die Tschechen und Slowaken zu den Wahlurnen. Wie bereits bei den ersten Wahlen von 1990 war die Wahlbeteiligung hoch: 85 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Recht gebrauch - Wahl- und Politikverdrossenheit waren vor 10 Jahren noch Fremdwörter.

Sieger im tschechischen Landesteil wurde wie erwartet Vaclav Klaus und seine ODS mit 30 %. In der Slowakei siegte ebenfalls wie erwartet mit 37 % die HZDS von Vladimir Meciar. Im damals noch existierenden föderativen Parlament, das aus zwei Kammern bestand, stellten ODS und HZDS die weitaus meisten Abgeordneten. Damit waren eigentlich die Weichen für die Zukunft des Landes gestellt, denn eine gemeinsame Regierung der beiden Parteien und ihrer Führer war unvorstellbar.

10 Tage nach den Wahlen hatten Vertreter der beiden Siegerparteien beschlossen, in die neue Föderative Regierung nicht ihre besten Männer zu schicken, da diese sowieso nur die Aufgabe einer "Regierung der nationalen Teilung" zu erfüllen habe. Vaclav Klaus verzichtete auf das Amt des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten und wurde tschechischer Premier, auch Vladimir Meciar bevorzugte den Posten des slowakischen Regierungschefs. Damit war klar, dass die letzten Stunden der Tschechoslowakei geschlagen hatten.

Im Juli 1992 erreichte das politische Drama über Sein oder Nichtsein der Tschechoslowakei seinen ersten Höhepunkt: der einzige Kandidat bei der Wahl zum tschechoslowakischen Präsidenten, Vaclav Havel, wurde von den beiden Kammern des Föderativen Parlaments nicht gewählt - ihm fehlten die Stimmen slowakischer Abgeordneter, die ihn ablehnten. Dass die Slowaken den tschechischen Präsidenten nicht gerade liebten, war zuvor bei Besuchen Havels in der Slowakei zu bemerken: das föderative Staatsoberhaupt wurde ausgepfiffen und angegriffen.

Zwei Wochen nach dieser gescheiterten Präsidentenwahl verkündete das Parlament der Slowakischen Teilrepublik feierlich die Souveränität des Landes. In seiner Erklärung hiess es unter anderem:

"Wir, der demokratisch gewählte Slowakische Nationalrat, erklären feierlich, dass die tausendjährigen Bemühungen des slowakischen Volkes um eine Selbständigkeit erfolgreich gewesen sind."

Eine Reaktion von tschechischer Seite erfolgte prompt: in einem Schreiben an das föderative Parlament erklärte der noch amtierte tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel, dass er am 20. Juli 1992 um 18 Uhr sein Amt niderlege - das tat er denn auch und zog sich für die folgenden Monate in sein Wochenendhaus zurück. Die Tscehchoslowakei verlor ihr Staatsoberhaupt, die Amtsgeschäfte übernahm der Ministerpräsident der Tschechoslowakei, Jan Strasky, vorübergehend.

Von nun an ging alles ganz schnell: zwei Tage nach Havels Rücktritt verabschiedeten die tschechische ODS und die slowakische HZDS ein Abkommen über die Teilung des Landes, im August einigte man sich auf ein Harmonogram der Teilung, im Oktober bestätigte die tschechoslowakische Regierung das bevorstehende Ende der Tschechoslowakei zum 31. Dezember 1992. Und dann galt es eigentlich nur noch, Fragen der Teilung zu regeln - wer soll was bekommen, wie werden Schulden und Goldreserven geteilt? Wie teilt man eine Armee, Post oder den öffentlich rechtlichen Rundfunk und Fernsehen? Wer darf oder will die alte Fahne behalten? Wohl nur bei der Frage der Staatshymne gab es keinerlei Probleme: die tschechoslowakische Hymne hatte aus einem tschechischen und einem slowakischen Teil bestanden - nun wandelte jeder seinen Teil zur neuen Staatshymne um.

Am 1. Januar 1993 war es soweit: zwei neue Staaten entstanden: die Tschechische Republik und die Slowakische Republik - Auch wenn damit längst noch nicht alle Fragen der Teilung geklärt waren, eins haben Tschechen und Slowaken vor 10 Jahren geschafft: eine friedliche Trennung, ohne jegliche Gewaltanwendung.

Das Jahr 1992 brachte weitere Ereignisse:

Im Mai begann die erste Runde der sog. Coupon- Privatisierung. Dieser spezifisch tschechische Weg der Privatisierung grosser Betriebe, bei der sich jeder Bürger in Form von sog. Couponheften beteiligen konnte, war, wie es nun aussieht, doch nicht so erfolgreich wie zuvor angepriessen.

Das Ende der Tätigkeit der Charta 77 verkündeten im November 1992 die Teilnehmer einer Versammlung von Charta 77 Signateuren. Am dritten Jahrestag der Samtenen Revolution sahen die meisten der ehemaligen Dissidenten ein Weiterbestehen der Charta als überflüssig an.

Am 4. August 1992 verstarb der Prager Erzbischof Kardinal Frantisek Tomasek im Alter von 93 Jahren. Der im ganzen Land bekannte und geschätzte Kardinal hatte sich während der revolutionären Novembertage eindeutig auf die Seite der demonstrierenden Studenten und Künstler gestellt. Auch während des sozialistischen Regimes hatte sich Frantiek Tomasek nie der Macht gebeugt.

Das Jahr 1992 brachte einen weiteren schweren Verlust für die Tschechoslowakei: Im September 1992 wurde Alexandr Dubcek bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Am 7. November erlag das Symbol des Prager Frühlings seinen Verletzungen. Bis heute kursieren verschiedenste Versionen und Gerüchte über den Unfall: war es ein gewöhnlicher Autounfall oder ein politischer Mord?