Das Tagebuch des Otto Wolf

Ruzena Wolf

Das Tagebuch der Anne Frank ist wohl eines der bekanntesten Zeugnisse des Holocoust - das Tagebuch des Otto Wolf hingegen ist so gut wie unbekannt, obwohl es unter ähnlichen Umständen entstanden ist. Im heutigen Kapitel aus der tschechischen Geschichte wollen wir dem ein bisschen Abhilfe schaffen und Ihnen das Tagebuch des mährischen Juden Otto Wolf vorstellen. Von Katrin Bock.

"22. Juni 1942. Montag, 1. Woche. Um zwei Uhr nachmittags fahren wir von Trsice nach Olomouc. Vor der Abfahrt haben wir in Trsice den Schlüssel unserer Wohnung abgegeben. In Olomouc haben wir unsere Sterne abgemacht und gegen halb fünf Uhr nachmittags haben wir uns auf den Weg zurück nach Trsice gemacht. Hier im Wald sind wir gegen Mitternacht angekommen."

So beginnt im Sommer 1942 das Tagebuch des damals 15jährigen Otto Wolf. Seine Eltern hatten beschlossen, der Deportation der Juden zu entrinnen. Sie versteckten sich mit ihrem Sohn Otto und seiner 7 Jahre älteren Schwester Feilicitas zunächst in einem Waldstück unweit ihres Heimatdorfes. Knapp drei Jahre lang vegetierte die Familie in notdürftigen Unterschlüpfen vor sich hin, abhängig von der Hilfe - und dem Schweigen - anderer. Alle Ereignisse, vor allem aber die Monotonie dieser Jahre hielt Otto Wolf bis zum Ende akribisch in seinem Tagebuch fest.

"16. September 1944. Samstag, 117. Woche. Die Situation ist prima, die Deutschen geben zu, dass Aachen angegriffen wird. Zum Mittagessen Rindfleischsuppe, Kartoffeln und Kraut. Morgen ist Rosch Haschana. Wir beten um 6 Uhr, danach gibt es Nudelsuppe."

Das Tagebuch des Otto Wolf ist ein einmaliges Dokument über das Überleben einer jüdischen Familie während des Zweiten Weltkriegs. Doch es gibt nicht nur Auskunft über den monotonen Alltag der Familie, ihre Angst, Verzweiflung und Hoffnungen, sondern auch über die Hilfe und Solidarität der tschechischen Dorfbewohner. Viele von ihnen wussten über die Familie Wolf Bescheid, auch der Dorfpolizist - doch keiner hat sie angezeigt. Im Gegenteil - stets fanden sich ehemalige Nachbarn und Freunde, die der Familie mit Lebensmitteln und Geld halfen und das, obwohl für diese Taten die Todesstrafe drohte.

Juden im Protektorat besser zu überstehen als in der Stadt. Im Juni 1942 begann die Deportation der Juden aus der Gegend von Olomouc. Am 26. Juni 1942 ging der erste Transport nach Theresienstadt, mit dem auch die vierköpfige Familie Wolf fahren sollte. Doch sie kam nicht zur Sammelstelle. Zunächst war nur der damals 27jährige Jaroslav Zdaril, der Freund der Tochter Felicitas, in das Vorhaben der Wolfs eingeweiht. Ohne ihn hätte die Familie die ersten anderthalb Jahre nicht überlebt. Sehnsüchtig warteten die Wolfs jeden Tag auf das Kommen ihres Helfers, den Otto Wolf in seinem Tagebuch als Slavek bezeichnete. War die Gefahr zu gross und konnte er für einige Tage nicht kommen, begann für die Wolfs eine Fastenzeit.

"7. Juli 1942. Dienstag, 3. Woche. Um halb vier morgens Wasser geholt, um acht Uhr das letzte Brot gegessen. Wir warten immer noch auf Slavek, der Brot und Zigaretten bringen soll. Slavek kam nicht. Wir haben nichts zu Abend gegessen und sind hungrig eingeschlafen. Wir sind verzweifelt."

Die Winter 1942/43 sowie 1943/44 verbrachten die Wolfs in einem Schuppen im Garten der Zdarils. Tagsüber war der Schuppen abgeschlossen, nur nachts konnten die Wolfs ihn verlassen.

"24.Oktober 1943, Sonntag, 70. Woche. Nachmittags schauen wir aus dem Fenster den Leuten zu. Slavek kommt nicht, wir müssen schon dringend mal raus. Wir warten bis 2 Uhr nachts und schlagen dann das Schloss raus. Wir verrichten unser Geschäft und holen Wasser."

Längst wussten Eltern und Bruder Zdaril von der jüdischen Familie Bescheid. In dem kleinen Dorf konnte das Verstecken der Wolfs nicht unbemerkt bleiben.

"8. November 1942, Sonntag, 20. Woche. Slavek kam gegen halb acht ganz unglücklich, Fialova soll es Pecek gesagt haben und der soll davon im Wirtshaus erzählt haben. Pluhar soll es T. gesagt haben, wir wissen nicht was wird."

Slavek versorgte die Familie nicht nur mit Lebensmitteln, sondern auch Briefen von Verwandten, Zeitungen und Nachrichten über den Kriegsverlauf und das Geschehen im Dorf.

"4. Februar 1943, Donnerstag, 33. Woche. Um drei Uhr gehe ich mit Papa Wasser holen, schlafen bis um 6 Uhr und frühstücken gleich. Schlafen bis um halb zwölf und essen Suppe und Kartoffeln zu Mittag. Abends kommt Slavek. Heute ist Stalingrad gefallen, zugleich war heute zum ersten Mal die tschechische Legionseinheit im Einsatz. Vielleicht ist dort auch unser Kurt."

Kurt ist der 12 Jahre ältere Bruder Ottos. Zu Beginn des Protektorats floh er in die Sowjetunion, wo er sich der tschechoslowakischen Einheit anschloss. Die Familie hatte seitdem keinerlei Lebenszeichen von ihm erhalten. Erst nach Kriegsende erfuhren sie, dass Kurt Wolf bereits im März 1943 gefallen war. Stets dachte die Familie an ihn.

"12. Februar 1944, Samstag, 86. Woche. Morgen hat Kurt Geburtstag. Lici hat schon ein Papier mit folgenden Worten beschrieben: Gebe Gott unserem geliebten Kurt Gesundheit und eine baldige Rückkehr. Wir haben sein Photo aufgehängt."

Otto Wolf hielt in seinem telegraphisch geführten Tagebuch vor allem Angaben über die Versorgung der Familie, den Tagesablauf, den Kriegsverlauf und das Wetter fest. Selten teilt er seine Gefühle mit, doch aus seinen Einträgen lässt sich feststellen, dass die Wolfs versuchten, ein so normal wie mögliches Leben zu führen, Geburtstage wurden ebenso wie jüdische Feiertage gefeiert.

"4.Juni 1943, Freitag, 50. Woche. Wir schlafen bis 11 Uhr, dann beten wir Rosch Chodesch. Wir gehen raus, nachmittags spielen wir Karten, dann gehen wir wieder ins Versteck und beten. Papa und alle gratulieren mir zu meinem Geburtstag. Papa segnet mich und gab mir ein Gedenkblatt. Wenn ich meinen nächsten Geburtstag doch schon mit Kurt feiern könnte."

Otto Wolf schrieb nichts darüber auf, worüber sie sich den ganzen Tag unterhielten, an was sie dachten, ob sie sich langweilten. Ab und zu tauchen kurze Bemerkungen auf, aus denen hervorgeht, dass es unter den vier Familienmitgliedern zu Konflikten kam.

"29. September 1942, Dienstag, 15. Woche. Papa hat sich mit Lici und Mama gestritten und wollte noch mal weg. Er erklärte, dass er es nicht mehr aushält. Papa ist böse und redet mit niemanden, Mama hatte einen Anfall."

Die Wolfs lebten in ständiger Angst, entdeckt zu werden, immer wieder sah sie jemand zufällig im Wald.

"13. Oktober 1942, Dienstag, 17. Woche. Es ist Jagd. Unglücklicher Weise landet ein angeschossener Fasan nur 8 Meter von uns. Wir hören, wie der Förster und einige Männer ihn suchen. Der Förster ist mit seinem Hund nur einen Meter von unserem Versteck, der Hund hatte sogar schon die Nase drinnen. Zum Glück hat er nichts gemerkt. Wir sind tot vor Angst und danken Gott, dass alles gut gegangen ist."

" 29. April 1943, Donnerstag 45. Woche. Ich gehe mit Papa vorsichtig im Wald, als wir eine Gestalt näherkommen sehen. Wir verstecken uns und warten bis sie vorbei geht. Dann gehen wir weiter und treffen so auf den jungen Blaha. Er ist ein prima Kerl und hat gesagt, dass wir von seiner Seite nichts befürchten müssen. Wir sind sehr froh."

Die Spannung zwischen den Wolfs und ihrem Helfer Slavek wuchs ständig. Slavek war dem wachsenden Stress, den die Versorgung und das Verstecken der Familie mit sich brachte, immer weniger gewachsen. Die Wolfs wiederum forderten von ihrer einzigen Verbindung mit der Aussenwelt eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln und Nachrichten und wurden, je länger ihre Isolation von der Aussenwelt dauerte, ungeduldiger.

"29.November 1943, Montag, 76. Woche. Seit Samstag war Slavek nicht mehr hier - ein Zeichen seines flegelhaften Verhaltens. Papa hat nichts mehr zum Rauchen - wir sind böse auf Slavek wegen seines Verhaltens uns gegenüber."

"3. April 1944, Montag, 94.Woche. Slavek will eine Vollmacht von uns, dass er an das Gold kommt. Er sagt, das Geld sei ihm ausgegangen. Der Bäcker will ihm nur einmal die Woche für 60 Kronen ein Brot geben. Slavek sagt, er will Geld oder wir bekommen nichts mehr zu essen - der redet auch schon anders als früher."

Im April 1944 zog die Familie Wolf schliesslich um: auf den Dachboden der Familie Zboril. Mit Slavek und dessen Familie verloren sie Kontakt, dafür half nun neben den Zborils auch eine Freundin der Tochter, die Otto in seinem Tagebuch als Anca bezeichnete. In den folgenden Monaten war das Leben für die Wolfs einfacher. Auch tagsüber verliessen sie den Dachboden. Felicitas nähte Kleider für die Helfer, Mutter Wolf strickte - aber auch hier lebte die Familie in ständiger Angst entdeckt zu werden.

"29. April 1944, Samstag, 97.Woche. Zb. kam nach Hause und sagte, dass alle Höfe von oben bis unten durchsucht werden sollen. Zb. ist ausser sich vor Angst."

"3. Oktober 1944, Dienstag, 120.Woche. Lici ist unten und wird dort von Klim. überrascht. Zum Glück kennt diese Lici nicht und Marenka sagt, Lici sei eine Nichte - so wurde alles glücklich gelöst."

Doch auch die Zborils waren mit der Zeit der Belastung, die von dem Verstecken und Versorgen der Familie ausging, nicht mehr gewachsen.

"3. März 1945, Samstag, 141. Woche. Zboril machte Cirkus. Er will uns hier nicht mehr haben. Wenn wir nicht gehen, nimmt er das Beil und haut alles klein. Wir sollen uns eine neue Unterkunft suchen. Warum habe der Teufel uns ausgerechnet zu ihm geschickt und nicht zu reicheren Leuten."

Am 5. März 1945 zogen die Wolfs ein letztes Mal um. Die neue Unterkunft in der Scheune eines kleinen Hofs im nahen Zakrov wurde Otto zum Verhängnis. Mit nahendem Kriegsende kamen Partisanen nach Zakrov und mit ihnen auch Kolaboranten der russischen Armee sowie die Gestapo. Diese umzingelten am 18. April 1945 Zakrov. Sie durchsuchten die Häuser nach Partisanen und verschleppten alle Männer - unter ihnen war auch Otto Wolf sowie Oldrich Ohera, der die Wolfs versteckt hatte. Die Befreiung drei Wochen später erlebte Otto Wolf nicht mehr. Am 20. April wurde er gemeinsam mit 19 anderen Männern in einem Waldstück erschossen. Seine Schwester Felicitas führte nach Ottos Verhhaftung das Tagebuch bis zur Befreiung weiter. Erst dann erfuhren die Wolfs vom Schicksal ihres jüngsten Kindes.

Der Vater, Bertold Wolf, der bei Kriegsende 59 Jahre alt war, wirkte nach 1945 bis zu seinem Tode 1962 als Kantor in der jüdischen Gemeinde in Olomouc. Die Mutter, Ruzena, bei Kriegsende 52 Jahre alt, verstarb bereits 1952 - von den drei Jahren ihres Versteckens und dem Tod ihrer beiden Söhne war sie gesundheitich stark angeschlagen. Felicitas, die Schwester,

Ruzena Wolf
arbeitete vor und nach dem Krieg als Schneiderin, 1968 emigrierte sie mit ihrem Mann Otto Grätz in die USA. Sie hat das Tagebuch ihres Bruders über all die Jahre gerettet und es in den 80er Jahren zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Erst 1997 konnte das Tagebuch des Otto Wolf erstmals erscheinen. Es ist das einzige, heute bekannte Tagebuch, das das Überleben einer jüdischen Familie im Protektorat Böhmen und Mähren schildert.