Die Wiener Tschechen stellen sich vor

Svatováclavské posvícení

Die zurückliegende Woche war, Radio Prag hat bereits mehrfach berichtet, die "Woche der Auslandstschechen". Auf zahlreichen Veranstaltungen hatten tschechische Emigrantinnen und Emigranten aus aller Welt Gelegenheit, sich in Prag zu treffen, sich kennen zu lernen und über ihre Probleme zu diskutieren. Doch bereits am Wochenende zuvor fand man sich in Wien ein, wo sich eine - schon aus historischen Gründen - überaus interessante tschechische Minderheit in der Gastgeberrolle befand. Wie groß die tschechische Population in Wien ist, das kann übrigens niemand so genau sagen. Nach all den Generationen von Migranten ist das wohl auch mehr eine Frage der Definition als des schlichten Zählens. Eines aber ist gewiss: Aktiv ist sie, die Tschechische Minderheit in Wien. Gerald Schubert hat sich während der "Tschechischen Tage" mit den anderen Gästen auf Spurensuche begeben. Hören Sie dazu den folgenden "Schauplatz".

Vinecko bile und vinecko rude werden hier besungen. Der weiße Wein und der rote Wein. Oder - wenn man dem slawischen Hang zum Diminutiv auch im Deutschen Rechnung tragen will: das weiße Weinchen und das rote Weinchen. Vinecko bile ist ein typisches mährisches Volkslied. Wir aber befinden uns mit diesen Klängen nicht in Mähren, und auch nicht in einem anderen Landesteil der Tschechischen Republik, sondern in Wien. Genaugenommen: in der dortigen tschechischen Botschaft, wo am vergangenen Wochenende der Sankt-Wenzels-Kirtag gefeiert wurde, zu Ehren des tschechischen Landespatrons, des Heiligen Wenzel.

Der Sankt-Wenzels-Kirtag in der tschechischen Botschaft war jedoch keine isolierte Veranstaltung, zu der eine Handvoll in Wien lebender Tschechen gekommen wäre, sondern ein riesiges Fest im Rahmen der sogenannten "Wiener Tage", besucht von Tschechinnen und Tschechen aus aller Welt, und natürlich auch von österreichischen Gästen. Der Anlass: In Prag hat ja - wie eingangs erwähnt - soeben die Woche der Auslandstschechen stattgefunden. Und da lag es im wahrsten Sinne des Wortes nahe, vorher noch schnell einen Abstecher nach Wien zu machen. So bekamen die dort lebenden Tschechen eine außergewöhnliche Gelegenheit, sich nicht nur gegenüber den Wienern, sondern auch gegenüber ihren von weither angereisten Landsleuten zu präsentieren.

Auf dem besagten Sankt-Wenzels-Kirtag haben wir den tschechischen Botschafter Jiri Grusa gebeten, für uns den Begriff der tschechischen Minderheit in Wien in seinen Grundzügen zu charakterisieren:

Jiri Grusa  (li.) und Gerald Schubert
"Das ist ein historischer Begriff mit einer sehr großen Aktualität. Es ist eine sehr alte, sozusagen historisch gestaltete Schicht, die seit dem 18. Jahrhundert hier eine wesentliche Rolle spielte. Mal ironisch, mal polemisch, mal kooperierend, mal protestierend. Aber immer ein Bestandteil des Lebens dieser Stadt."

Die gegenwärtige Position der Wiener Tschechen und die Zukunftschancen, die die oft als "Schmelztiegel" bezeichnete Stadt Wien auch durch ihre Beziehung zu ihren tschechischen Bewohnern für sich erschließen kann, die sieht Botschafter Jiri Grusa optimistisch:

"Mit der Öffnung und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist diese ganze Vernetzung immer mehr sichtbar geworden und verwandelt sich in etwas sehr positives. Also sie leuchtet wieder auf und zeigt sich als kulturell und wirtschaftlich sehr zukunftsträchtig."


Tags darauf haben wir im Tschechischen Zentrum in der Wiener Herrengasse Herrn Rudolf Cerny getroffen, den Vorsitzenden der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Herr Cerny will vor allem mit dem Vorurteil aufräumen, dass die tschechische Minderheit Wiens um das Jahr 1900, als sie zahlenmäßig am größten war, hauptsächlich aus den so genannten "Ziegelböhmen" bestand, die in den Ziegelwerken von Favoriten, dem Zehnten Wiener Gemeindebezirk, arbeiteten. Diese sind vor allem deshalb bis heute ein Begriff, weil der Arzt, Journalist und spätere Gründer der Österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, damals eine Reportage über die dort herrschenden katastrophalen Bedingungen veröffentlicht hatte. Rudolf Cerny:

"Die so genannten Ziegelböhm' machten nur ca. sechs bis acht Prozent der Arbeitenden aus, die aus Südböhmen nach Wien gekommen sind. Also das war nicht die dominierende Schicht. Auf jeden Fall waren das arme Teufel. Es gab dort in den Ziegelwerken katastrophale Zustände. Ich möchte gar nicht auf die Details eingehen, aber das waren damals wirkliche Sklaven. Die Idee der Sozialdemokratie jedoch ist wesentlich älter, die entstand schon nach der Revolution 1848. Man hat immer gesagt: Der Mensch lebt nicht von der Arbeit allein, man sollte auch etwas anderes machen. Man gründete damals jede Menge Vereine. Wenn man den von Ihnen angesprochenen Zehnten Bezirk nimmt: Favoriten hatte 54 Kulturvereine. Und diese Kulturvereine wurden eigentlich von Fachgruppen gegründet. Das heißt, das waren Bäcker, Schuster - wenn ich nur Handwerker nenne. Es waren Facharbeiter, nicht Hilfsarbeiter oder Bedienstete. Und wenn man glaubt, das waren alles nur Arbeiter, dann ist das ein riesiger Irrtum. Man braucht doch nur zu vergleichen: Leitende Ärzte, führende Wissenschaftler, Professoren der Universität waren Tschechen."


Vlastenecka omladina
Sehen wir uns einen der Vereine an, von denen Herr Cerny gesprochen hat, und die noch heute existieren. Unser Spaziergang auf den Spuren der tschechischen Minderheit in Wien hat uns unter anderem zum Theaterverein Vlastenecka omladina geführt, in das Gebäude der tschechischen Komensky-Schule, wo es auch einen Theatersaal gibt. Zwei Premieren stellt man hier pro Jahr auf die Beine. Die erste Vorstellung ist jedoch meist auch gleich die letzte, denn größer ist die Zahl der Zuschauer in Wien eben nicht. Dennoch: Man ist mit Freude bei der Sache, stellt selbst Kostüme und Kulissen her, und auch für die Finanzierung seiner Produktionen kommt der Verein größtenteils alleine auf. Nur vom Österreichischen Bundeskanzleramt gibt es eine finanzielle Unterstützung, die aber fast zur Gänze für die Saalmiete verwendet wird. Die Entwicklung des Vereines, die hatte im Lauf des 20. Jahrhunderts ihre Höhen und Tiefen, wie Anna Vadura, Obfrau des Theatervereins Vlastenecka omladina, erzählt:

"Die Vlastenecka omladina hatte ihre Stammbesucher. Und die haben diesen Saal, der zirka 300 Plätze hat, früher immer gefüllt. Sagen wir, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg."

Anna Vadura  (re.)
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Tschechische Minderheit in Wien schon wesentlich geschrumpft. Es kamen immer weniger Leute ins tschechische Theater, und auch die, die nach 1968 nach Wien gekommen waren, blieben großteils fern. Das Repertoire, man spielte hauptsächlich Operetten, sei damals nicht mehr zeitgemäß gewesen, meint Frau Vadura. Gegenwärtig aber gehe es wieder aufwärts:

"Wir hatten Glück, wir haben zwei gute Regisseure bekommen. Und in letzter Zeit spielen wir zum Beispiel Stücke von Jiri Voskovec und Jan Werich, die auch wieder das junge Publikum zu uns bringen."

Die Zeit unseres Aufenthaltes beim Theaterverein Vlastenecka omladina war knapp bemessen. Die Organisatoren mahnten zum Aufbruch, denn eine halbe Stunde später stand bereits ein Besuch beim tschechischen Turnverein Sokol auf dem Programm. Und abends gab es dann noch einen Ball, unter dem Motto "Europa magna".

Doch hetzen lassen wollte man sich dann doch nicht. Ein Lied wollte man noch gemeinsam singen. Nur noch das eine. Also gut. Noch ein Lied. Und dem schließen wir uns zum Abschluss gerne an: