HERZOG WENZEL DER DRITTE: DER LETZTE PRAGER "SCHLARAFFE"
Sie nennen sich Schlaraffen, haben Sinn für Humor, geben sich entsprechend phantasievolle Namen und pflegen die Tradition. Sie bilden einen mittlerweile 141 Jahre alten Männerbund, dessen 14.000 Mitglieder auf allen Kontinenten der Welt vertreten sind. Was sie verbindet, ist die gemeinsame deutsche Sprache - und der Ursprung der Gruppe: Prag. Doch nach jahrzehntelangem Verbot unter den Nazis und den Kommunisten ist die "Schlaraffia" ausgerechnet in ihrer Gründerstadt kaum noch vertreten. Jürgen Webermann hat den letzten Schlaraffen Prags besucht:
Herzog Wenzel der Dritte spricht klar und weise, heißt es. Man nennt ihn auch die "Prager Fundgrube". Das alles steht in seinem Pass. Nicht dem tschechischen natürlich, aber dem mit der Eule drauf. Der Vogel, Wahrzeichen aller Schlaraffen, ziert das Dokument, das alle Mitglieder ausweist, ob sie nun "Gedanius mit dem Düsen-Trieb", "Silentro der Unbeirrbare" oder "Verreist der Kosmopolit" heißen. Jaroslav Charvat, pensionierter Jurist, ist eines dieser merkwürdigen Mitglieder, und ein ganz spezielles dazu. Er ist der letzte Schlaraffe aus der "Allmutter Prag", der Stadt, wo die Schlaraffia ihren Ursprung hat. Doch - was ist die "Schlaraffia" überhaupt und worum geht es? Ein Verein also, in dem sich Denker, Schöngeister und Literaten trafen, um in eine phantastische und humorvolle Welt einzutauchen. Kleiner Haken an der ganzen Geschichte: Nur Männer durften und dürfen mitrmachen. Die Schlaraffia, so lassen die Schlaraffen verlautbaren, sei ein geistiges Spiel, und dieses Spiel könne nur echt sein, wenn es ernsthaft gespielt werde. Es handele sich vielmehr um ein ritterliches Spiel, und das vollziehe sich in einem streng vorgeschriebenen äußeren Rahmen. Das schlaraffische Gesetzbuch, der Spiegel und die Ceremoniale, besagt gleich im ersten Paragraphen:
"Die Schlaraffen bezwecken in gleichgesinntem Streben die Pflege von Humor und Kunst, und der Hauptgrundsatz ist die Hochhaltung der Freundschaft. Diese erstreckt sich vorbehaltlos auf alle, die das Abzeichen der Schlaraffia, die Rolandnadel, tragen."
Die Idee zu alldem ist bereits 143 Jahre alt und stammt von einem Prager Bürger namens Tomme - kein Wunder also, dass Prag in der Symbolik eine große Rolle spielt: Konkret berief Tomme Treffen ein, die bald den Namen Sippungen bekamen. Diese Sippungen finden noch immer nur im Winterhalbjahr statt. Sie sind zwar nicht geheim, aber auch nicht öffentlich, betonen Schlaraffen. Sie verraten nur Details, wenn sie gefragt werden. Zum Beispiel solche: Auf ihren Sippungen tragen die Schlaraffen sogenannte Fechsungen vor. Das können literarische Beiträge sein, aber auch musikalische oder gesangliche. Dabei geht es nicht um die hohe Kunst. Es soll vorkommen, dass Schlaraffen, die aus dem Bauch heraus plaudern, die größten Beifallsstürme ernten. Andere dagegen, die sich intensivst vorbereitet haben, bekommen lediglich höflichen Applaus. Drei sogenannte Ritter, auf einem Thron sitzend, würdigen, werten und belohnen die Beiträge der Schlaraffen. Jaroslav Charvat war ein solcher Ritter, bevor er zum Herzog Wenzel III. Befördert wurde. Er war Ritter Karel III., die "Praga Fundgrube". Fundgrube deshalb, weil er nach der samtenen Revolution begann, über "Schlaraffia" nachzuforschen - zunächst jedoch ohne Erfolg: Der Grund liegt nahe: Während es auf allen Kontinenten Schlaraffen und ihre "Reyche", so heißen die lokalen Gruppen, gibt, fand im ehrwürdig benannten "Allmutter-Reych" Prag seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1939 kein Treffen mehr statt. Die Nazis beschlossen, dass zu viele Juden in der Schlaraffia Mitglied sind, und verboten die Organisation kurzerhand. Das hatten sie bereits 1933 auch in Deutschland getan, und nun traf die "Uhufinstere Zeit", ausgerechnet auch die Prager Schlaraffen. Die Situation änderte sich in Tschechien auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Der Grund liegt für Charvat alias Herzog Wenzel der Dritte nahe: Die Kommunisten untersagten nach 1945 und 1948 eine Wiederbelebung der Schlaraffia, denn sie galt als deutsche Organisation. Dabei waren im Prager Reych unter den Mitgliedern honorige Tschechen, zum Beispiel der Komponist Antonin Dvoøák. Er zählt wohl zu den prominentesten Schlaraffen überhaupt. Mit ihm können sich vielleicht noch die Ehrenmitglieder Goethe und Schiller messen, doch das sei jedem anheimgestellt. In der damaligen Tschechoslowakei gab es keine Schlaraffen mehr, und an die Stelle des Prager "Throns" in seiner allschlaraffischen Stammrolle trat der Weltbund Schlaraffia, der "Allschlaraffenrat". Bis schließlich Jaroslav Charvat einen für die Schlaraffia vielleicht bedeutenden Besuch bei Freunden in Deutschland abstattete. Schlaraffia war für ihn zuvor ein Fremdwort, bis er gemeinsam mit einem Bekannten in der Nähe von Köln auf Jagd ging. Dann ging alles ganz fix: Neben seinem Gepäck nahm Charvat die Idee mit auf den Rückweg nach Prag, dort die Schlaraffia wiederzubeleben. Und im Zuge der Restitutionsgesetze begann er, Nachforschungen über das Vermögen der Schlaraffen anzustellen. Erfolg hatte er damit nicht. Was ihnt noch etwas mehr wurmt, ist vielleicht die Tatsache, dass die formell neu begründete Prager Schlaraffia nicht mehr die - sonst ihr vorbehaltene - Nummer 1 in der Liste der schlaraffischen Verbände trägt.