Mit dem Unfassbaren umgehen: Ein Jahr nach dem Amoklauf an der Prager Karlsuniversität
Mit einer Schweigeminute und einem stillen Gedenkakt wird am Samstag in Prag an die Opfer des Amoklaufs an der Karlsuniversität von vor einem Jahr erinnert. Der Täter, selbst ein Student, erschoss dabei insgesamt 14 Menschen. Radio Prag International zeichnet nach, wie die unfassbare Tat von Studierenden und Lehrenden, Polizisten und Psychologen erlebt wurde und was sie mit ihnen gemacht hat.
Am 21. Dezember vergangenen Jahres, einem Donnerstag, herrschte eigentlich in Prag bereits vorweihnachtliche Stimmung. Doch am Nachmittag kam es zu dem schlimmsten Amoklauf in der tschechischen Geschichte. Kurz vor 15 Uhr gingen bei der tschechischen Polizei erste Anrufe von Studierenden ein, die von Schüssen im Gebäude der Philosophischen Fakultät am Jan-Palach-Platz berichteten. Der Täter, selbst Student, hatte im vierten Stock das Feuer eröffnet. Er schoss wahllos in den Fluren und Vorlesungsräumen auf die Menschen. Lehrende und Studierende flohen oder verbarrikadierten sich in Räumen. Insgesamt 14 Menschen wurden an der Universität getötet und 25 weitere verletzt, zehn von ihnen schwer. Als die Polizei den Täter letztlich ausfindig gemacht und in die Enge getrieben hatte, tötete sich dieser selbst.
Der Student
Für den Geschichtsstudenten Tomáš Hercík ist der 21. Dezember 2023 noch einmal ein arbeitsreicher Uni-Tag. Er hat drei Seminare, und in den ersten beiden hält er jeweils ein Referat. Dann sei das dritte angestanden, bei Professorin Daniela Tinková, einer Expertin für die Zeit der Französischen Revolution, schildert Tomáš gegenüber Radio Prag International:
„Wir sind also in den zweiten Stock in das Seminar von Frau Tinková gegangen. Aber schon in der Pause, als wir auf dem Weg waren, kursierten Gerüchte, dass Polizisten an der Pforte gewesen seien. Wir haben dann gescherzt, dass wohl Bücher geklaut oder nicht zurückgegeben worden seien. Das geschah so ein bisschen in gehobener Weihnachtsstimmung. Um dreiviertel drei begann das Seminar, eine Minute vor drei sagte ein Kommilitone der Dozentin, ihm sei gerade eine Nachricht geschrieben worden, dass weiter oben im Gebäude geschossen werde. Selbst habe ich die SMS aber nicht gesehen.“
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Professorin Tinková bricht darauf das Seminar ab, und es geht die Diskussion los, was nun zu tun sei. Tomáš sagt, er sei sofort losgerannt, um zu helfen. Allerdings liege dieser Moment für ihn im Dunkeln, gesteht er…
„Zwar kann ich mich genau daran erinnern, dass mir da durch den Kopf ging, was ich tun muss. Und ich weiß, dass ich sehr plötzlich aus dem Raum rausgerannt bin. Aber den Moment, als ich aufstand, habe ich nicht mehr gespeichert. Nur, wie ich durch die Tür bin und im hinteren Treppenhaus hoch in Richtung vierter Stock“, so Tomáš.
Denn das große Treppenhaus in der Mitte des Gebäudes führt nur in den dritten, aber nicht in den vierten Stock. Dieser Umstand verzögert wenig später auch das Eintreffen der Polizei am Tatort. Warum aber lief Tomáš ohne Zögern los?
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„Mein erster Gedanke in dem Moment war, dass da wirklich etwas geschieht und es kein Weihnachtsscherz ist – obwohl ich für eine Millisekunde auch das für möglich gehalten habe. Aber die Stimmung in dem Moment, als wir von den Schüssen erfuhren, entsprach dem nicht. Deswegen habe ich mir gedacht, dass die Menschen da oben Hilfe brauchen – dass dort Verletzte sind oder solche, die noch gar nichts wissen. Ich konnte mir einfach nicht erlauben zu erstarren.“
Dabei habe er keine Angst gehabt, etwa dem Attentäter in die Arme zu laufen…
„Als ich die Treppen nach oben bin, habe ich, ehrlich gesagt, nicht daran gedacht. Und zwar aus dem Gesichtspunkt, dass die Schüsse aus der Ferne zu hören waren, dem Widerhall nach zu urteilen. Mir ist zwar schon der Gedanke gekommen, dass es noch einen zweiten Schützen geben könnte. Da ich aber sah, dass niemand weiteres die Stockwerke hochrennt, war mein Gedanke, dass ich einzig im vierten Stock auf den Täter treffen könnte“, schildert Tomáš.
Auf dem Weg hoch rennt der Student durch den zweiten sowie dritten Stock und warnt die Menschen in den Gängen und Räumen. Im vierten Stock seien die Schüsse dann immer stärker zu hören gewesen, sagt Tomáš Hercík. Und er sei geduckt den Gang entlanggeschlichen:
„Ich gelangte dann an die Ecke zu dem Gang, aus dem die Schüsse kamen. Ich habe vorsichtig und in gebückter Position um die Ecke geschaut. Und in dem Moment ging da jemand lang. Ich habe nicht sofort gedacht, dass es er sein könnte, erst später habe ich weiter überlegt. Wenn jemand auf der Flucht gewesen wäre, dann wäre er in meine Richtung und nicht in die andere gegangen. Außerdem bewegte sich dieser Jemand ohne Panik.“
Tomáš rennt dann wieder runter in den zweiten Stock und danach in den dritten. Dort sei aber niemand mehr auf den Gängen gewese
n, deswegen sei er erneut ein Stockwerk tiefer gelaufen…
„Ich bin dann auf die ersten Polizisten zugerannt, die ich im Gebäude gesehen habe. Ich schrie ihnen zu, dass sie mir nachkommen sollten, weil der Täter nicht im zweiten oder dritten, sondern im vierten Stock schieße. Sie haben mich nach meiner Identität gefragt und danach, was ich gesehen hätte. Sie sagten, dass der Schütze oben sei, was ich ja wusste. Ich habe ihnen aber den Weg gezeigt, den sie nicht kannten, sowie den Bereich, in dem sich der Täter bewegte. Leider habe ich auch die nicht sehr schönen Szenen gesehen, die mir immer noch sofort in den Kopf kommen, wenn vierter Stock gesagt wird. Über die rede ich lieber nicht“, so Tomáš.
Die Polizisten
Zu den Polizisten im Einsatz am Tatort gehört auch Kristián. In einem Hotel gegenüber dem Fakultätsgebäude öffnet er ein Fenster und zielt auf den Täter. In dem Moment richtet dieser seine Waffe auf sich und drückt ab. In den Aufzeichnungen der Polizei ist der Einsatz dokumentiert. Der Täter habe die Langfeuerwaffe mit Zielfernrohr fallen lassen, er habe sich selbst getötet, ruft Kristián demnach einem Kollegen zu. Dieser Moment würde sich immer wieder vor seinen Augen abspielen, gesteht der Polizist:
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„Das ist ein unangenehmes Erlebnis für mich, das ich bis zum Ende meines Lebens in mir tragen werde.“
Er habe noch gewartet, bis der Tod des Schützen von den Kollegen aus dem Fakultätsgebäude bestätigt worden sei. Dann sei er zum Einsatzwagen auf die Straße gerannt, habe die Erste-Hilfe-Taschen gepackt und sei im Uni-Gebäude in den vierten Stock hochgesprintet, sagt Kristián.
Währenddessen leitet Adam den Einsatz im Seminarraum 423, in dem der Täter als erstes angegriffen hat. Von den 21 Menschen dort wurden neun durch die Schüsse getötet, die restlichen schwer verletzt.
„Als Einsatzleiter ist man zur Triage verpflichtet – also festzulegen, wem wir helfen können und wem nicht. Deswegen muss man zu jedem hin. Meine Kollegen sagen mir, dass in dem Moment das Adrenalin in einen schießt und sie sich an nichts mehr erinnern. Ich erinnere mich aber an jedes Gesicht. Ich brauche kein Video, um zu wissen, wer wo lag. Und ich weiß sogar noch, was ich den Mädchen in dem Raum gesagt habe. Mich hat das emotional stark mitgenommen“, sagt Adam.
Außerdem gesteht er, dass die Realität ganz anders sei, als in Polizeiübungen trainiert werde. In dem Raum habe absolute Stille geherrscht…
„Uns hat das alle überrascht. Bei den Übungen schreien die Opfer um Hilfe und torkeln auf einen zu. In Wirklichkeit ist das aber gar nicht so. Wir waren bei Selbstmorden und Morden, und die Menschen schreien nicht. Sie haben sich irgendwie schon mit ihrem Schicksal abgefunden, dass ihnen entweder jemand hilft oder nicht.“
Sowohl Adam als auch Kristián sind im Polizeidienst geblieben. Die Familie und die Kollegen hätten ihnen geholfen, die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten, sagen sie. Und Adam berichtet, dass er auch psychologische Hilfe in Anspruch genommen habe.
Die Psychologin
Julie Gábrišová ist Polizeipsychologin. Sie gehört am Tag des Amoklaufs zum Kriseninterventionsteam. Eigentlich hat sie bereits Urlaub. Mitten im Weihnachtsputz wird sie aber von der Einsatzleitung angerufen, dass so viele Interventionskräfte wie möglich gebraucht würden. Die Zahl der Opfer sei nicht klar. Vor Ort wird Julie zunächst in den Räumen des Konzertsaals Rudolfinum gebraucht, wohin die Evakuierten aus dem gegenüberliegenden Fakultätsgebäude gebracht werden:
„Es gibt dafür klare Regeln, und sie lauten, die Menschen ins Warme zu bringen, ihnen etwas Gutes anzubieten und sie vor Journalisten zu schützen. Wir haben den Evakuierten erläutert, was geschehen werde und warum sich die Polizisten ihnen gegenüber so verhalten haben, wie sie das erlebt haben. Wichtig ist, klar zu machen, dass die Polizei auch schärfere Worte gebraucht, um für Sicherheit zu sorgen.“
Gegen halb sieben beginnt für sie und ihre Kollegen dann der schwierigste Teil des Einsatzes…
„Wir haben in der Zwischenzeit bereits darauf gewartet, dass die ersten Toten identifiziert sind. Das bedeutete weitere Arbeit, und zwar zu den Hinterbliebenen zu fahren und ihnen zu erklären, was passiert ist“, sagt die Psychologin.
Laut Julie Gábrišová meint Krisenintervention, eventuell noch viele weitere Monate für die Menschen da zu sein. Das habe auch geheißen, die Hinterbliebenen an die Orte im vierten Stock des Fakultätsgebäudes zu führen, an denen der Täter die 14 Menschen erschossen und nachher sich selbst gerichtet habe:
„Eine Sache, die die Geschädigten allgemein nach solch einem Ereignis verfolgt, sind die mangelnden Informationen. Und für viele ist es wichtig zu wissen, was ihre Angehörigen vor dem Tod durchgemacht haben. Die Fakultät hat es ermöglicht, dass die Hinterbliebenen an die Orte gehen und sie sich anschauen konnten.“
Julie ist mittlerweile seit vier Jahren Polizeipsychologin. Und sie hat im Übrigen ihr Fach an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität studiert.
Die Aufarbeitung
Nach dem Amoklauf ist auch Geschichtsstudent Tomáš Hercík regelmäßig zu psychologischen Sitzungen gegangen, um seine Erlebnisse zu verarbeiten. Zugleich hat er anderen seine eigene Hilfe angeboten. Denn recht schnell bemühte er sich, den Ort des Amoklaufs für sich wieder zugänglich zu machen:
„Ich bin schon zur Widereröffnung der Fakultät am 21. Januar, also einen Monat nach dem Ereignis, gegangen. Bereits am 23. Dezember habe ich sogar am Eingang zum Gebäude meine persönlichen Sachen abgeholt. Mit diesen kleinen Schritten habe ich mich bemüht, dahin zu gelangen, eines Tages wieder in die Fakultät zurückkehren zu können. Ich habe jedoch keine starke Belastung gespürt. Mir haben meine engsten Freunde geholfen. Als ich mich besser fühlte, habe ich Kommilitonen und Lehrenden gesagt, dass sie sich an mich wenden können, wenn sie wollen. Ich habe versucht, ein stiller Zuhörer – im Tschechischen sagt man: eine Weide zu sein.“
Und wie fühlt er sich heute?
„Es ist nicht so, dass ich, wann immer ich ins Gebäude komme, als erstes an das Unglück denke. Ich nehme es so, dass ich vorher immer zum Studieren dort hingegangen bin und nun auch wieder. Ich muss nicht irgendwelche Emotionen unterdrücken. Ich bin auch froh, dass viele Kommilitonen und Freunde, mit denen ich sprechen konnte, ebenfalls nicht mehr mit negativen Gefühlen an die Fakultät kommen, sondern – ich würde sogar behaupten – mit einer gewissen Freude, und dass sie erfolgreich ihr Studium fortsetzen können. Ich hoffe, dass wir im neuen Jahr in eine erfolgreiche Prüfungszeit und dann in ein weiteres Sommersemester schreiten werden.“
Auch für die Fakultät war erste Aufgabe, die psychologische Betreuung der Betroffenen zu gewährleisten. Zugleich wurde über die Sicherheit im Gebäude beraten. Ondřej Dufek ist Sprecher der Fakultät und sagt:
„Die Philosophische Fakultät und die ganze Karlsuniversität, ihr Rektorat, haben gleich nach dem Amoklauf schon eine ganze Reihe Maßnahmen ergriffen. Das ganze Jahr lang wurden diese weiterentwickelt. Erwähnen kann ich das Kriseninformationssystem, mit dem bei Gefahr in kurzer Zeit automatisch SMS-Nachrichten auf die Handys der Studierenden und Beschäftigten geschickt werden. Dieses System haben wir schon mehrfach getestet, und wir passen es weiter an. Außerdem planen wir, die Pforte zur Fakultät so umzubauen, dass von dort der Eingang besser einzusehen ist und sie den Pförtnern mehr Schutz gibt.“
Zudem seien schon mehrere Übungen einer Evakuierung des Gebäudes und Erste-Hilfe-Kurse durchgeführt worden, so Dufek.
Die beiden Räume im vierten Stock, in denen Menschen erschossen wurden, und der Gang davor sind im Mai zu Orten des stillen Gedenkens umgestaltet worden. Das soll auch mindestens noch bis Ende dieses Jahres so bleiben. Doch wie will die Fakultät weiterhin mit dem schrecklichen Ereignis von vor einem Jahr umgehen?
„Auf der einen Seite können und wollen wir nicht so tun, als ob dies nicht geschehen wäre und als ob das keinen Einfluss auf uns habe. Schließlich haben wir Kolleginnen und Kollegen verloren, derer wir gedenken. Auf der anderen Seite kann die Philosophische Fakultät nicht nur der Ort des 21. Dezember 2023 sein. Sie muss auch mit dem weitermachen, was sie kann und was ihr Sinn ist: also Forschung, Wissenschaft, Lehre und – sagen wir – verantwortungsvolles gesellschaftliches Engagement“, so Dufek.
Am Samstag aber wird die Philosophische Fakultät ein stilles Gedenken auf dem Jan-Palach-Platz veranstalten.