„Man hat uns unsere Identität genommen“ – Eugenie Trützschler über ihre Emigration nach Deutschland
Als sie in den 1950er Jahren in Prag in die Schule kam, stellte sie fest, dass sie einen Vornamen hatte wie niemand sonst dort: Eugenie. Später wurde ihr klar, dass die Lehrerin sie möglicherweise auch wegen ihrer Herkunft schlug. Die Familie Fügner galt während des Kommunismus als „nichtarbeitende Intelligenz“. Mit 17 Jahren emigrierte Eugenie mit ihrer Mutter nach Deutschland. Seitdem beschäftigt sie die Frage nach ihrer eigenen Identität und allgemein der Bedeutung von Identität. Eugenie Trützschler, wie sie heute heißt, hat darüber promoviert und später als Beamtin im thüringischen Landtag zahlreiche Projekte in der Euroregion dazu initiiert.
„Im Januar 1967 bin ich mit meiner Mutter von einem einwöchigen Aufenthalt in München nicht mehr nach Prag zurückgekommen....“
Sie waren keine typischen 1968er Emigranten....
„Ich bin eine geborene Fügnerová und stamme aus einer Familie, in der weder mein Vater noch meine Mutter und auch nicht meine Großväter in ihren gelernten oder studierten Berufen tätig sein konnten. Und für meine Mutter war absehbar, dass auch ich in der damaligen Tschechoslowakei nicht einmal Abitur machen dürfe. Deshalb entschied sie sich, mit mir in Deutschland zu bleiben. Mein Vater wollte ursprünglich nachkommen. Er hat dann aber gesagt, dass ein Fügner niemals emigriert. Er wollte nicht als Emigrant im Westen leben.“
Wie war es für Sie in der ersten Zeit, als Emigrantin im Westen zu leben?„Vor allem bewundere ich den Mut meiner Mutter, diesen Schritt damals gemacht zu haben. Ich konnte kaum Deutsch. Und als wir in Deutschland ankamen, haben wir festgestellt, dass unsere deutschen Freunde, die uns geraten hatten, nach Deutschland zu kommen, dann doch sehr überrascht waren über diesen Schritt. Sie haben uns kaum geholfen. Ich habe dann nach zwei oder drei Wochen eine Stelle gesucht und als Kindermädchen in einer Familie gearbeitet. Da lernt man sehr schnell Deutsch.“
Wie war es emotional für Sie: Fanden Sie die Entscheidung Ihrer Mutter, im Westen zu bleiben, richtig?
„Ich war zuerst sehr überrascht. Ich hatte keinerlei Vorstellung von Deutschland. Aber ich war abenteuerlustig. Und ich wollte auf alle Fälle weg aus Prag. Ich hab dann auch kein Heimweh gehabt.“Sie haben sich in Deutschland dann sehr viel mit den deutsch-tschechischen Beziehungen beschäftigt – sowohl wissenschaftlich als auch praktisch, in mehreren Projekten in der Euroregion. Sie haben auch Romane darüber geschrieben...
„1967 war es schon etwas sehr Ungewöhnliches, als Tschechin in München zu leben. Viele Leute haben mich damals gefragt, ob ich eine Deutsche oder eine Tschechin bin. Und da ich eine k.u.k-Identität habe, habe ich dann angefangen, mich mit meiner eigenen Identität und der Identität meiner Familie zu beschäftigen. Für viele Familien ist es 1918 nicht einfach gewesen, sich zu entscheiden, ob sie tschechisch, deutsch oder österreichisch sein wollen. Ich denke, mit der Identität ist das nicht so einfach. Und deshalb finde ich es wichtig, die Gemeinsamkeiten zwischen den Nationen herauszuarbeiten und nicht das Trennende.“
Nach 1989 haben Sie wieder in Prag Fuß gefasst: Sie haben eine Wohnung hier gekauft, kommen regelmäßig zu Tagungen hierher und auch privat. Sie hatten den Wunsch, sich nicht nur von Deutschland aus für die deutsch-tschechischen Beziehungen zu engagieren, sondern auch in Tschechien. Auf welche Reaktion sind Sie gestoßen – als Emigrantin, die zurückkam?„Ich bin im November 1989 nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder nach Prag gekommen. Ich hab mir damals eingebildet, dass alle Mitglieder des Bürgerforums (um Václav Havel, Anm. d. Red.) begeistert sein werden, wenn jemand kommt und ihnen Tipps gibt, wie man Pressekonferenzen veranstaltet und politischen Wahlkampf macht. Die Idee, nach Prag zu ziehen, habe ich dann schnell wieder aufgegeben. Ich sah ein, dass das Interesse nicht nur an mir, sondern auch an anderen Emigranten und deren Ratschlägen sehr beschränkt war.“
Woran lag das Ihrer Meinung nach?Es gab damals eine große Nachfrage nach deutschen Gesetzesbüchern. Ich habe viele solche Bücher hierhergebracht. Es ist nicht so, dass man mir gesagt hätte: Wir haben kein Interesse. Aber ich denke, im Wesentlichen lag es wohl daran, dass diejenigen, die 1989 sehr aktiv waren und versucht haben, einen demokratischen Staat aufzubauen, nach 1992 nicht mehr in führenden Positionen waren. Die Macht haben dann Technokraten übernommen. Das ist mein persönlicher Eindruck.“
Haben Sie sich, als Sie 1989 wieder hierhergekommen sind, als Tschechin gefühlt – oder eher als Deutsche?
„Ich habe mich nie als Deutsche gefühlt. Ich bin hier geboren, ich bin Pragerin und bin hier zu Hause. Offensichtlich ist es so, dass man den Ort, an dem man geboren wurde und an dem man seine ersten 15 Lebensjahre verbracht hat, als seine Heimat betrachtet. Und das ist der Vorwurf, den ich dem sozialistischen Regime mache: dass mir und meinen Kindern die Heimat und damit letztlich die Identität genommen wurden. Ich habe in München gelebt und versucht, meinen Kindern klarzumachen, dass sie Tschechisch lernen sollen, weil sie eine tschechische Mutter haben. Das ist sehr schwierig, wenn die Mutter nicht die Möglichkeit hat, nach Hause zu fahren, um ihren Kindern zu zeigen, wo sie herkommt. Dann können Sie keinem Kind klarmachen, warum es eine Sprache lernen soll.“
Sie haben mit Ihren Kindern nicht von Anfang an Tschechisch gesprochen?„Ich habe bewusst nur Tschechisch gesprochen. Und ich spreche nach wie vor mit meiner Mutter Tschechisch. Aber mein Sohn hat mit zwei oder drei Jahren, wenn wir Tschechisch gesprochen haben, immer mit der Faust auf den Tisch gehauen und gerufen: Nicht Tschechisch sprechen! Er hat es nicht verstanden, weil mein Vater und meine Großmutter mit den Kindern Deutsch gesprochen haben.“
Ihre Kinder fühlen sich als Deutsche?
„Das ist sehr interessant: Ich glaube, meine Kinder fühlen sich weder als Tschechen noch hundertprozentig als Deutsche. Jedenfalls haben sie sich mit Deutschland nicht so identifiziert, dass sie in Deutschland geblieben wären. Und ich glaube, insbesondere meine Tochter hat ein Identitätsproblem.“Sie fühlen sich als Tschechin. Aber auf Veranstaltungen des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums werden Sie als Vertreterin der deutschen Seite eingeladen....
„Ich glaube, das ist das Problem der Identität. Ich weiß nicht, ob ich mich so hundertprozentig als Tschechin fühle. Ich fühle mich als Pragerin. Ich finde, es ist gar nicht so ausschlaggebend, ob man sich als Tscheche oder als Deutscher fühlt. Wir können auch eine regionale Identität haben.“
Zurück zu Ihrem Engagement in Tschechien: Wo brennt es hier am meisten? Wo würden Sie sich am liebsten engagieren?„Ich würde gerne den Tschechen, vor allem denen aus meiner Generation, klarmachen, welche positive Geschichte sie mit den Deutschen in den böhmischen Ländern erlebt haben. Damit sie die Deutschen nicht mehr als die Buhmänner sehen, wie man ihnen das in den 1950er und 1960er Jahren beigebracht hat. Sie sollten also nicht das Trennende sehen, sondern das Positive. Und ich würde gerne den Deutschen vermitteln, wie stark das kommunistische System versucht hat, in den Alltag jedes Einzelnen einzugreifen. Ich glaube, das ist vielen noch nicht bewusst. Und da habe ich mir eingebildet, hier einen Beitrag leisten zu können. Ich musste aber erfahren, dass man an meinen Erfahrungen in diesem Bereich hier nicht interessiert ist.“
Sie werden demnächst pensioniert und überlegen, zusammen mit Ihrem Mann eventuell wieder ganz nach Prag zurückzukehren....„Wir überlegen das. Ich denke schon, dass ich hier zu Hause und immer auch gerne bin. Und mein Mann hat, obwohl er Deutscher ist, eine ganze Menge tschechische Freunde hier. Also, wir fühlen uns hier ausgesprochen wohl.
Was würden Sie in Prag vermissen, wenn Sie hier dauerhaft leben würden?
„Ich glaube, ich würde hier nichts vermissen. Ich bin hier zu Hause.“
Dieser Beitrag wurde am 4. Juni 2013 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.