Das Jahr 1901
Im ersten Kapitel aus der tschechischen Geschichte im neuen Jahr und neuen Jahrtausend blicken wir zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt auf das Jahr 1901, das Jahr, in dem die britische Königin Viktoria verstarb, der Habsburger Kaiser Franz-Josef seinen 70. Geburtstag feierte, in Südafrika der Burenkrieg tobte, der Bundesstaat Australien gegründet wurde und Theodore Roosevelt zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde. Was sich vor 100 Jahren in den böhmischen Ländern so alles ereignete, erfahren Sie in den folgenden Minuten. Gute Unterhaltung und einen ungestörten Empfang wünscht Ihnen dabei Katrin Bock.
Die Töne der Oper Rusalka von Antonin Dvorak erklangen vor 100 Jahren, genauer gesagt am 31. März 1901, erstmals vor der Öffentlichkeit. Im Prager Nationaltheater fand die triumpfale Uraufführung der Oper des damals 59jährigen Dvorak statt. Ein paar Wochen zuvor war es fraglich gewesen, ob die Premiere zum geplanten Zeitpunkt stattfinden wird. Ähnlich wie 100 Jahre später sorgte ein Streik von Angestellten einer sozusagen öffentlich rechtlichen Anstalt für erheblichen Aufruhr. Während im Jahre 2001 das von der gesamten Nation verfolgte Fernsehen im Mittelpunkt des Streites steht, war es vor 100 Jahren das Nationaltheater. Angefangen hatte der grosse Streit - wie sooft - mit einer Kleinigkeit:
Am 9. Februar hörte der Dirigent des Orchesters Karel Kovarovic während der Vorstellung der Oper Carmen einen falschen Ton. Streng blickte der Maestro auf den Violonisten Alois Palecek, von dem seiner Meinung nach der falsche Ton gekommen war. Angesichts der unerhörten Unterstellung, fluchte dieser so laut, dass dies nicht nur der Dirigent sondern auch die Zuschauer hören konnten, packte seine Geige und begann absichtlich falsch zu spielen. Am folgenden Tag entliess ihn der Dirigent. Doch der hatte dabei nicht mit der Solidarität der restlichen Mitglieder des Theaterorchesters gerechnet. Diese traten kurzerhand in einen Streik und weigerten sich unter Dirigent Kovarovic zu spielen.
Das Nationaltheater war damals eines der wichtigsten nationalen Symbole der Tschechen, auf das das gesamte Volk mit Stolz blickte - und nun so etwas: die Musiker streikten. Die Theaterleitung stand hinter Dirigent Kovarovic und stellte die Orchestermitglieder vor die Wahl: entweder unter dem bisherigen Dirigenten spielen oder aber das Orchester verlassen. Das gesamte Orchester verliess das Naitonaltheater - aus heutiger Sicht kann man sagen: zum Glück. Denn ab August 1901 traten diese Musiker als tschechische Philharmonie professionel auf. Dies war also im Grunde genommen die Geburtsstunde des wohl bekanntesten tschechischen Orchesters. Seinen 100. Geburtstag hat es allerdings bereits vor fünf Jahren gefeiert, da die Musiker des Nationaltheaters bereits seit 1896 ab und zu als tschechisches Philharmonieorchester auftraten.
Im Nationaltheater aber begann mit Erfolg ein neues Orchester zu spielen - bereits einen Monat nach den aufregenden Ereignissen feierte es seine erste Premiere - Mozarts Figaros Hochzeit. Am 31. März 1901 folgte dann die Uraufführung von Dvoraks Rusalka. Kovarovic blieb bis zu seinem Tode 1920 Chef der Oper und Dirigent des Nationaltheaters, in dem 1901 auch seine eigene Oper "Auf der alten Bleiche" ihre Uraufführung erlebte.
1901 konnte Antonin Dvorak nicht nur die Premiere seiner Rusalka feiern, sondern im August auch seinen 60. Geburtstag. Bereits im April hatte ihn Kaiser Franz Josef zu einem Abgeordneten des Wiener Herrenhauses auf Lebenszeit ernannt - eine grosse Auszeichnung für einen tschechischen Komponisten.
Überhaupt schien dem Kaiser und der Wiener Regierung in jenem Jahr das Wohl ihrer tschechischen Untertanen am Herzen zu liegen. Mit einem weitreichenden wirrtschaftlichen und kulturellen Programm sollten die Tschechen, die mehr Mitspracherecht im Habsburgerreich forderten, beruhigt werden. Im Zuge dieses Programmes wurde im April die Galerie für Moderne Kunst in Prag eröffnet, die Vorläuferin der heutigen Nationalgalerie. Zudem wurde über die Gründung einer neuen tschechischen Universität in Brünn verhandelt sowie den Bau eines Elbe-Oder-Donau-Kanals.
Im Juni 1901 besuchte Kaiser Franz Josef persönlich die böhmischen Länder. Anlass war die Eröffnung einer neuen Brücke über die Moldau in Prag, die seinen Namen trug. Der Kaiser unternahm einen kurzen Spaziergang auf der neuen Brücke und kam so zu seinem wohl bekanntesten Spitznamen in Prag. Am folgenden Tag erschien ein Photo des Monarchen in der Zeitung mit der Unterschrift: "Prochazka na moste". - Spaziergang auf der Brücke. Da Prochazka ein recht gebräuchlicher tschechischer Nachname ist, hiess Kaiser Franz Josef von nun an im Prager Volksmund Pan Prochazka - Herr Spaziergang.
Das Jahr 1901 begann mit Wahlen in den Wiener Reichsrat. Diese fanden nicht wie heute an einem Tag oder einem Wochenende statt, sondern vom 12. Dezember 1900 bis 18. Januar 1901. In den böhmischen Ländern siegten die sog. Jungtschechen - eine bürgerlich-liberale Partei. Im Februar legten sie der neuen Reichsregierung einen neuen Vorschlag zur Sprachenregelung in den böhmischen Ländern vor. Ministerpräsident Ernst von Körber versprach die Erfüllung einiger der Forderungen der Tschechen, doch das Jahr 1901 brachte keinerlei Veränderungen für die Tschechen in der Habsburgermonarchie, die noch immer für mehr nationale Rechte kämpften.
Im Herbst des Jahres fanden erneut Wahlen statt - diesmal in den tschechischen Landtag. Zu diesen traten neun Parteien an. Erneut siegten die Jungtschechen. Doch die beiden Siege im Jahre 1901 waren die letzten für diese zweitälteste tschechische Partei. Bei den folgenden Wahlen 1907 wurde erstmal das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer eingeführt. Bisher hatte ein Ständewahlrecht gegolten.
Eine eindrucksvolle Präsentation des tschechischen Nationalismus war im Juni das vierte Sokol-Treffen in Prag. Hunderte von Mitgliedern der 1862 gegründeten nationalen Sportbewegung kamen nach Prag und führten hier ihre Massenturnübungen vor.
Ebenfalls im Juni 1901 erlebte die alterwürdige philosophische Fakultät der Karlsuniversität in Prag eine Premiere: zum ersten Mal erhielt eine Frau einen Doktorentitel. Zdenka Barborova zählte zu den Vorreiterinnen der tschechischen Frauenbewegung, die sich 1897 den Zugang zum Hochschulstudium erkämpft hatte.
In der Kunstszene siegte der Jugendstil bzw. die Sezession auf ganzer Linie. Alfons Mucha, der bekannteste tschechischer Jugendstilkünstler, feierte in Paris Erfolge und in Prag entstanden die ersten Bauten in Jugendstil - so wurde der Bau des Hauptbahnhofs begonnen - auch heute noch ein Juwel des Jugendstils, zudem waren die Pläne für das Gemeindehaus - das Obecni dum fertig, das sich auch heute noch in seinem Jugendstil-Glanz präsentiert.
In der Literatur waren historische Themen beliebt, Geschehnisse und Gestalten der tschechischen Geschichte wurden in Romanen, Gedichten und Theaterstücken verarbeitet. Zu den meistgelesensten Autoren des Jahres gehörten Svatopluk Cech und Alois Jirasek, dessen Theterstück über Marie Rettigova, die Autorin des ersten tschechischen Kochbuchs im 19. Jahrhundert, im Nationaltheater im März 1901 uraufgeführt wurde. Die bekanntesten Dichter waren Jaroslav Vrchlicky, von dem 1901 ein neuer Gedichtband erschien, sowie Julius Zeyer, der im Januar des Jahres verstarb.
Das neue Jahrhundert wurde in den Böhmischen Ländern mit gemischten Gefühlen erwartet. Die sozialdemokratische Tageszeitung "Pravo Lidu" drückte am 1. Januar 1901 ihre Hoffnung aus, dass das begonnene Jahrhundert das Jahrhundert des Sozialismus werden möge und eine Epoche der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. In der nationalistischen Zeitung "Narodni Politika" erwartete man im neuen Jahrhundert den Sieg des tschechischen Nationalismus. In der ebenfalls nationalistisch eingestellten "Narodni Listy" warnte man vor der Gefahr der grossdeutschen Politik, die ein Reich von der Adria zur Ostsee anstrebe und der nur der böhmische Kessel im Wege stehe. Für das 20. Jahrhundert gab die "Narodni Listy" den Tschechen den Rat, sich selbst treu und ein gebildetes, patriotisches Volk zu bleiben, das keine Verräter und käufliche Renegaten zulässt - so werde es der deutschen Gefahr widerstehen.
Zum Abschluss unseres Ausflugs in das Jahr 1901 erinnern wir an ein paar bekannteste Persönlichkeiten, die vor 100 Jahren das Licht der Welt erblickten:
Am 18. Feburar 1901 kam einer der bekanntesten tschechischen Schauspieler der Zwischenkriegszeit zur Welt: Hugo Haas. In den 30er Jahren brach der Held zahlreicher Kinofilme unzählige Frauenherzen. 1939 emigrierte Hugo Haas in die USA, wo er bis 1961 als Schauspieler, Regisseur und Produzent wirkte. 1968 verstarb Hass in Wien.
Am 23. März 1901 wurde einer der führenden Funktionäre der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei geboren: Jan Sverma. Seit ihrer Gründung 1921 war Sverma Mitglied der KPC, in den 30er Jahren zählte er zu den führenden Persönlichkeiten der Partei. 1938 emigrierte Sverma nach Moskau, 1944 beteiligte er sich dann am slowakischen Nationalaufstand, im November 1944 starb er in der Tatra an Erschöpfung.
Ein weiterer führender kommunistischer Politiker kam vor 100 Jahren zur Welt: am 31. Juli 1901 wurde Rudolf Slansky geboren. Nach einer beispiellosen Karriere in der Kommunistischen Partei wurde er 1952 Opfer des grössten politischen Prozesses in der Nachkriegstschechoslowakei. In einem konstruierten Schauprozess nach sowjetischem Vorbild wurde Slansky des Hochverrats für schuldig befunden und im Dezember 1952 hingerichtet.
Seinen 100. Geburtstag könnte dieses Jahr auch einer der grössten tschechischen Dichter feiern: am 23. September 1901 kam Jaroslav Seifert zu Welt, der 1984 den Nobelpreis für Literatur erhielt. 1986 verstarb Seifert in Prag.
Ein weiterer bedeutender tschechischer Dichter erblickte im Jahre 1901 das Licht der Welt: Frantisek Halas wurde am 3. Oktober in Brünn geboren. Bereits 1949 verstarb der politisch engagierte Dichter in Prag.
Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1901 kam Milada Horakova zur Welt. In der Zwischenkriegszeit war sie Mitglied der Nationalen sozialistischen Partei und engagierte sich für soziale Gerechtigkeit. Während der deutschen Okkupation verbrachte Horakova mehrere Jahre in Gefängnissen. Nach der Machtergreifung der Kommunisten wurde sie 1949 plötzlich verhaftet und in dem ersten grossen politischen Prozess zum Tode verurteilt. Trotz internationaler Interventionen wurde Milada Horakova im Juni 1950 hingerichtet.