Wachstumsaussichten für Mitteleuropa
Herzlich willkommen bei einer weiteren Ausgabe unserer Magazinsendung mit Themen aus Wirtschaft und Wissenschaft, am Mikrofon begrüßt Sie Rudi Hermann. Werden die Länder Mittel- und Osteuropas zu Tigern der Weltwirtschaft? Dies stellt ihnen eine Studie der deutschen Hypo-Vereinsbank in Aussicht, denn, wie es in einem von dieser Bank vor einiger Zeit publizierten Papier heisst, die postkommunistischen Reformstaaten sollten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts rund doppelt so hohe Wachstumsraten erreichen wie die Länder des sogenannten Euroland, also die 15 gegenwärtigen Mitglieder der Europäischen Union. Mehr zu dieser Studie und den in ihr enthaltenen Informationen in den nächsten Minuten, zu denen wir guten Empfang wünschen.
"Das enorme Wachstum in Mittel- und Osteuropa ist ein Glücksfall für Europa. Wir ernten jetzt die Früchte der schmerzhaften Transformation in diesen Ländern in den 90er Jahren. Die Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen Staaten wird dazu beitragen, dass die erste Dekade des neuen Jahrzehnts zu einem europäischen Jahrzehnt werden kann." Dies sind die Worte des Chefökonomen der deutschen Hypo-Vereinsbank, geäussert auf einer Pressekonferenz anlässlich der Präsentation der Studie, die aus Anlass der Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank von Ende September in Prag ausgearbeitet wurde.
Die Studie unterteilt die 90er Jahre in zwei sehr unterschiedliche Etappen. In der ersten Hälfte erlebten die Reformstaaten eine kürzere oder längere Phase der sogenannten Anpassungsrezession. Dies war ein Rezession, die sich aus der grundsätzlichen Neuorientierung der Wirtschaft von Planbedürfnisse auf Marktnachfrage ergab und die zunächst überall zu einem Schrumpfungsprozess führte. War die Talsohle allerdings einmal durchschritten - in Tschechien war dies um 1994 der Fall - die Privatisierung eingeleitet und die Nachfrage wieder steigend, kam es in verschiedenem Ausmass zu Wirtschaftswachstum. Seit 1996 ist Polen als Vorreiter der Transformation mit einem Durchschnittstempo von 5.5 % gewachsen, Slowenien, Ungarn, die Slowakei und Estland liegen nur wenig dahinter. Eine Ausnahme ist in gewissem Sinne die Tschechische Republik, die ab 1997 mit einer hausgemachten Währungs- und Haushaltskrise zu kämpfen hatte und deswegen viel Terrain verlor. So bewegt sich Tschechien für die Zeit, in der die direkten Nachbarn kräftig zulegten, im Bereich des durchschnittlichen Nullwachstums. Dennoch gilt das Land nach wie vor als der effizientesten Gruppe der Transformationsländer zugehörig, deren Weg in die Europäische Union wohl wesentlich kürzer ist als derjenigen von Ländern, die immer noch mit grundsätzlichen Reformproblemen kämpfen wie etwa den balkanischen Staaten.
Die Studie der Hypo-Vereinsbank sieht zwei wesentliche Elemente als Grundlage für das kräftige Wachstum in Ostmitteleuropa in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Einmal habe die konsequente Bekämpfung der Inflation eine wichtige Rolle gespielt, was sich namentlich am Beispiel Polens gezeigt habe. Wer schnell und konsequent Reformen eingeleitet habe, habe damit die grössten Chancen erzeugt, später zu einem kräftigen Wachstum zu finden. Zweitens hätten auch ausländische Direktinvestitionen und Kapitalimporte eine Schlüsselrolle gespielt, begleitet von Technologietransfers. Denn expandierende Märkte würden Investoren anziehen und damit weiteres Wachstum begünstigen. Hier gilt eine Klammerbemerkung einmal mehr der tschechischen Couponprivatisierung, die sich rückblickend als wenig günstige Privatisierungsform erwiesen hat. Auch dieses Handicap ist in der Tschechischen Republik jedoch nicht mehr so signifikant wie früher.
Wenn die Hypo-Vereinsbank für die fortgeschritteneren Transformationsländer Ostmitteleuropas im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine starke Wachstumsphase erwartet, dann auf Grund der folgenden Elemente: Hohes Arbeitskraftpotential bei relativ tiefen Löhnen, eine gut ausgebildete Arbeitskraft, Kapitalinvestitionen und finanzielle Restrukturierung, technologische Modernisierung und die sich abzeichnende EU-Mitgliedschaft. Zu den einzelnen Stichworten:
Bei der Arbeitskraft gilt die gegenwärtige Arbeitslosenrate, die in zahlreichen Transformationsländern 10% übersteigt oder sich an dieser Grenze bewegt, gar als leichter Vorteil. Denn auf diese Weise drohe nicht, dass der Arbeitsmarkt beim Eintritt geburtenschwacher Jahrgänge ins produktive Alter respektive durch den Abfluss qualifizierter Arbeitskräfte in die Emigration allzu grossen Schaden erleide und damit unverhältnismässige Lohnsteigerungen provoziere. Der fortschreitende Restrukturierungsprozess auf Unternehmensebene erlaube ferner die Freistellung von Arbeitskräften, die von den expandierenden Wirtschaftssektoren absorbiert werden könnten.
Die Ausbildung der Arbeitskraft ist generell einer der meistgenannten Vorteile der Transformationsländer Ostmitteleuropas. Ein wesentlicher Unterschied im Ausbildungsgrad gegenüber Westeuropa wird nicht festgestellt, und staatliche Investitionen in den Ausbildungsbereich haben angezogen. Gegenüber Ländern Mittel- und Südamerikas sowie Südostasiens wird damit Ostmitteleuropa ein komparativer Vorteil zugeschrieben.
Ein Rückgang der Auslandinvestitionen als treibende Kraft bei der Erneuerung der Finanzsstruktur der Transformationsländer wird gegenwärtig nicht progostiziert. Direktinvestitionen könnten ferner auch eine wichtige Rolle spielen für die Entwicklung von Zulieferfirmen, die nicht selbst Subjekt ausländischer Investitionen geworden sind. Ausserdem setzten sie die inländische Wirtschaft unter Konkurrenzdruck und führten damit zu Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen. In dieses Kapitel gehen auch die Technologieimporte, die zu diesen Zielen nötig sind. Damit könne der Unterschied in der technologischen Ausstattung der Volkswirtschaften zwischen West- und Ostmitteleuropa langsam geschlossen werden.
Schliesslich wird in der Studie die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft als wesentlicher Ansporn zu Entwicklung und Wachstum bezeichnet. Eine absehbare EU-Mitgliedschaft verkürze die Periode der Unsicherheit für Investoren, in welche Richtung sich ein Land entwickeln werde, begünstige damit höhere Direktinvestitionen, die sich wiederum günstig auf das Wachstum auswirkten - eine Kreisbewegung positiver Wirkungen.
Dank Wachstumsraten, die in den nächsten 10 Jahren in Ostmitteleuropa höher liegen sollten als in den Ländern der EU, sollte es auch möglich sein, das Wohlstandsgefälle zu vermindern. Dass dieses ganz abgebaut werden könnte, ist allerdings höchstens in Ausnahmefällen zu erwarten. Gestützt auf statistische Daten schreibt die Studie der Hypo-Vereinsbank, im Kaufkraftvergleich würde es für Slowenien als Land, das sich beim Lebensstandard den EU-Ländern am meisten angenähert hat, noch rund 8 Jahre dauern, um auf das Niveau der EU-Länder von 1999 zu kommen, für Ungarn 13 und für Tschechien sogar 14 Jahre. Bei einem ungünstigeren Szenario, sprich verzögerter Osterweiterung der EU, würde sich die Zeitspanne gar noch um mehrere Jahre verlängern und für die meisten Länder im Bereich von 15 bis 25 Jahren liegen. Dennoch kommt die Studie zum übergreifenden Schluss, der Prozess zur Marktwirtschaft hin sei in Ostmitteleuropa schon so weit gediehen, dass er in den meisten Fällen als unumkehrbar anzusehen sei. Die meisten Länder hätten eine kritische Masse eines leistungsfähigen Privatsektors erreicht, und die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft habe die Durchführung von Strukturreformen begünstigt.