Die Tschechen in Wien
Im heutigen Kapitel aus der tschechischen Geschichte von und mit Katrin Bock erfahren Sie mehr über die Geschichte der Tschechen in Wien.
"Zu Hause in der Fremde - Tschechen in Wien im 20. Jahrhundert" - so lautete der Titel einer Ausstellung, die dieses Wochenende in Prag ihre Tore schloss. Damit Sie nicht das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben, wollen wir Sie im heutigen Geschichtskapitel durch diese Ausstellung führen. Deren Besonderheit sieht Frau Jaroslava Naprstkova vom Prager Informationsdienst in Folgendem:
"Der Prager Informationsdienst nutzt diese Ausstellung, die eine der ersten ist, die sich der Problematik der tschechisch-österreichischen Beziehungen widmet, um diese der Öffentlichkeit vorzustellen. Leider haben die österreichisch-tschechischen Beziehungen bisher nur geringe Aufmerksamkeit erhalten. In letzter Zeit stieg ausserdem das Interesse an der Erforschung multikultureller Grossstädte - vor allem in den USA aber auch in Europa. So begann man auch die spezifische Problematik der Geschichte der tschechischen Minderheit im multikulturellen Wien der Habsburger Monarchie bis zur Gegenwart zu untersuchen".
Eine erste grosse Einwanderungswelle aus den Böhmischen Ländern erlebte Wien Mitte des 19. Jahrhunderts. In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Zahl der Tschechen in der österreichischen Hauptstadt - um die Jahrhundertwende lebten schätzungsweise 100.000 Tschechen in Wien.
"Als in Wien die Bautätigkeit zunahm, kamen viele Arbeiter aus den Böhmischen Ländern. Sie waren zumeist Ziegelarbeiter, die die Ziegel für den Bau der Prachtbauten entlang der Ringstrasse anfertigten. Unter den Tschechen gab es aber auch viele Handwerker, insbesodere Schuster, Schneider und Tischler. Der bekannteste tschechische Tischlerlehrling, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien sein Handwerk lernte, ist wohl Klement Gottwald - der spätere erste kommunistische Präsident der Tschechoslowakei. In den meisten Wiener Haushalten waren zu jener Zeit Dienstmädchen, Köchinnen oder Ammen aus den Böhmischen Ländern anzutreffen. Die Tschechen bildeten die grösste und bedeutenste Minderheit in Wien"
Mit dem zunehmenden Bildungsgrad der Tschechen wandelte sich auch ihre soziale Struktur. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die ersten tschechischen Abgeordneten des Reichsrates nach Wien, mit ihnen Beamte und Journalisten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten die Tschechen ca. 5 Prozent der Ministerialbeamten. Einige Tschechen schafften es sogar bis zum Ministerposten. An der Wiener Universität studierten Tschechen, auch unter den Lehrenden waren Tschechen anzutreffen, wie z.B. Tomas Masaryk, der spätere erste tschechoslowakische Präsident. Es entstanden tschechische Vereine und politische Organisationen, die die Interessen der Tschechen vertraten. Die Wiener Bevölkerung reagierte nicht nur mit Begeisterung auf die Neuankömmlinge aus Böhmen und Mähren, wie Frau Naprstkova erklärt:
"Der Zuzug wurde nicht unbedingt als etwas Positives betrachtet. Die Tschechen wurden einerseits zwar als willkommene Arbeitskräfte begrüsst, andererseits hatte man aber auch Angst vor dem slawischen Element in dieser überwiegend deutschen Umgebung. Angesichts des Zustroms der Tschechen hatte man einfach Angst um das Deutsche in Wien. Zu dieser Zeit entstand auch der Stereotyp des "Böhm", der in keinem der Wiener Lieder und Kabaretts fehlen durfte."
Der "Böhm" oder "Bem" wurde zu einer beliebten Spottfigur der Volksunterhaltung, unzählige Lieder über den "Wenzel" und die "Marianka" entstanden. Der Ausdruck "Ziegelbehm" war lange Zeit ein Schimpfwort. Auch sonst bereicherten die Tschechen den Wiener Wortschatz, insbesondere im Küchenbereich, dafür sorgten die tschechischen Köchinnen.
Wie kann man sich das Leben der tschechischen Minderheit in Wien vor dem Ersten Weltkrieg vorstellen? Dazu Frau Naprstkova:
"Es gab Bezirke, in denen mehr Tschechen als in anderen lebten, wie z.B. im X. oder XVI. Bezirk. Aber man kann nicht sagen, dass sie in einem abgeschlossenen Gebiet, in einer Art Ghetto lebten, das nicht. Die Arbeiter lebten mit Arbeitern anderer Nationalitäten in den Unterkünften, die Dienstmädchen über die ganze Stadt verteilt bei ihren Dienstherren im Haus. Aber man traf sich im Rahmen von Vereinen, wie den Turnvereinen, Sängervereinen oder Theatergruppen - da war der Zusammenhalt gross."
Von grosser Bedeutung für die Wiener Tschechen war ihr Kampf für eine eigene, tschechische Schule. Ein damals heftig umstrittenes Thema, das selbst im Reichsrat zur Sprache kam.
"Die Wiener Tschechen vereinigte der grosse Kampf um die Entstehung einer tschechischen Schule, gegen die sich die Österreicher mit allen Mitteln wehrten. Sie verhinderten schliesslich die Entstehung einer staatlichen tschechischen Schule. So entstanden private, die der von den Tschechen gegründete Komensky-Verein finanzierte. Diese verfügten allerdings nicht über das sogenannte Öffentlichkeitsrecht, d.h. die Schüler mussten jedes Jahr über die böhmische Landesgrenze fahren, um dort ihre Prüfungen abzulegen - das galt bis 1918."
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Zerfall der Habsburger Monarchie und der Entstehung der Tschechoslowakei änderte sich vieles für die in Wien lebenden Tschechen - plötzlich waren sie Ausländer.
"Interessant ist auch die Zeit, als es 1918 zu einer Unterbrechung der Kontinuität kam - Unter den Wiener Tschechen herrschte Unsicherheit und Verwirrung. Wir Tschechen feiern den 28. Oktober 1918 als einen Tag der Freude und sind uns gar nicht bewusst, was er für die Wiener Tschechen bedeutete - die hatten plötzlich enorme Probleme, verloren ihre Arbeit, mussten sich entscheiden, ob sie in Wien bleiben, Österreicher werden oder in die Tschechoslowakei ziehen."
Die Beamten, die sich zu ihrem Tschechentum bekannten, verloren ebenso ihre Anstellung wie alle anderen im öffentlichen Dienst tätigen Tschechen. Wie viele Tschechen nach 1918 Wien verliessen, lässt sich nicht genau feststellen, aber man schätzt ihre Zahl auf ca. 100.000. Bei der Volkszählung von 1923 führten aber immer noch 80.000 Wiener Tschechisch als ihre Nationalität an. Viele der Tschechen, die Wien verlassen hatten, waren Beamte und Politiker gewesen, die nun in Prag beim Aufbau eines neuen Staatsapparats halfen.
Die Prager Regierung hatte die Frage der Wiener Tschechen zu einem Thema auf der Pariser Friedenskonferenz gemacht. Die Tschechoslowakei und Österreich regelten die Stellung der Minderheit 1920 in einem Vertrag, Prag förderte das kulturelle, wirtschaftliche und schulische Leben der Wiener Tschechen. Diese erhielten nun endlich ihre erste staatlich anerkannte Schule. Deren Zahl stieg in der Zwischenkriegszeit auf 34.
Interessant ist, das in der österreichischen Nationalversammlung, die 1919 die neue Verfassung ausarbeitete, ein tschechischer Abgeordneter sass. In der Prager Nationalversammlung, die die gleiche Aufgabe zur gleichen Zeit erfüllte, war hingegen kein Deutscher vertreten. In der Zwischenkriegszeit sassen stets Tschechen im Wiener Gemeinderat, die die Interessen ihrer Landsleute vertraten.
Das ruhige Leben der Wiener Tschechen fand mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 ein jehes Ende. Gleich in den ersten Tagen kam es zu anti-tschechischen Aktionen, Schulen wurden geschlossen, Gebäude tschechischer Vereine konfisziert. Offiziell hatten die meisten Tschechen in einer Volksbefragung für den Anschluss gestimmt - sie hatten gehofft, so weiteren Verfolgungen zu entgehen. Aber darin hatten sie sich getäuscht. Im Verlauf des Krieges wurden alle tschechischen Schulen geschlossen, Vereine aufgelöst und Zeitungen eingestellt. 1941 äusserten die Nazis ihre Absicht, Wien "Tschechenfrei" machen zu wollen. Viele Tschechen beteiligten sich am Widerstand. Eine Gruppe junger tschechischer Kommunisten gehörte zu den aktivsten im Wiener Untergrund. Es existierte auch eine katholische tschechische Widerstandsgruppe. Ihre bekannteste Vertreterin ist Schwester Maria Restituta, die Papst Johannes Paul II. selig gesprochen hat und heute Schutzpatronin der Wiener Tschechen ist. Zwischen 1940 und 1945 wurden 69 Wiener Tschechen von den Nationalsozialisten als Volksfeinde hingerichtet, an sie erinnert heute auf dem Wiener Zentralfriedhof ein Mahnmal.
Nach Ende des zweiten Weltkrieges rief die Prager Regierung Auslandstschechen auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie versprach ihnen das Eigentum der vertriebenen Deutschen. Rund 5.000 Wiener Tschechen folgten dem Aufruf. Die meisten von ihnen wurden jedoch enttäuscht. Als Gewerbetreibende und Handwerker hatten sie gehofft, Betriebe von Deutschen übernehmen bzw. sie gegen ihre Betriebe in Wien tauschen zu können. In der Tschechoslowakei wurden sie jedoch als Arbeiter eingesetzt. Diejenigen, denen es trotzdem gelungen war, eine eigene Existenz aufzubauen, wurden nach der Machtergreifung der Kommunisten 1948 wieder enteignet. Wer konnte, kehrte wieder nach Wien zurück. Durch den niedergehenden eisernen Vorhang wurden zahlreiche Familien für Jahrzehnte getrennt. Selbst zu Beerdigungen durfte man nicht über die Grenze reisen. Über die heutige tschechische Minderheit in Wien sagt Frau Naprstkova:
"Sie existiert, ist aber natürlich unvergleichbar kleiner als früher. Ausserdem setzt sie sich aus verschiedenen Gruppen zusammen - aus den Alteingesessenen, die seit Generationen in Wien wohnen, den Emigranten von 1948 und vor allem 1968 und dann aus neuen Zugezogenen seit 1989. Viele Wiener Tschechen kehrten nach 1989 auch in die Tschechoslowakei zurück. Die heutige Zahl wird auf einige Tausend geschätzt, aber es ist schwieirg zu sagen, wer Tscheche ist, ob die Sprache ein Kriterium ist oder aber das Nationalgefühl. In Wien gibt es heute einen tschechischen Kindergarten, eine tschechische Schule, natürlich den Turnverein Sokol und eine Zeitung. "
Soweit Frau Jaroslava Naprstkova vom Prager Informationsdienst und soweit auch das heutige Geschichtskapitel. AUf Wiederhören in zwei Wochen sagt Katrin Bock.