Die Geschichte von Paseky nad Jizerou
Mitte August machte ich mich auf den Weg in das kleine Riesengebirgsdorf Paseky nad Jizerou. Grund für diesen Ausflug in den Norden des Landes waren die alljährlich stattfindenden Musikfeierlichkeiten in der dortigen Dorfkirche. In Paseky besuchte ich das Heimatmuseum und traf einige interessante Leute. Und dabei erfuhr ich soviel über dieses scheinbar ganz normale Dorf, dass ich Ihnen davon berichten will. Im heutigen Geschichtskapitel hören Sie das Divertimento für Streichorchester des tschechischen zeitgenössischen Komponisten Frantisek Xaver Thuri, das dieses Jahr in der St. Wenzels-Kirche in Paseky seine Premiere erlebte.
Beginnen wir mit etwas Lokalgeschichte: Paseky wurde wahrscheinlich im 16. Jahrhundert gegründet. Erste schriftliche Quellen existieren jedoch erst aus dem 17. Jahrhundert. Wie die meisten Riesengebirgsdörfer war Paseky ein armes Dorf, dessen Bewohner sich seit dem 17. Jahrhundert vor allem durch Weberei ernährten, wie Marta Breuerova aus dem Paseker Museum erklärt:
"Im Riesengebirge herrschte Armut und Not, einziger Broterwerb war das Auffädeln von Glasperlenketten und die Weberei. Leinen wurde hier angebaut, verarbeitet und schliesslich verwebt. Als die Baumwolle aufkam, brach eine schlechte Zeit für die hiesigen Bewohner an. Baumwolle war teuer und wurde hierher vor allem aus dem damals deutschen Schlesien geschmuggelt. In allen Häusern von Paseky waren im 19. Jahrhundert Webstühle anzutreffen, oftmals sogar zwei, obwohl die Häuser sehr klein sind. Zwei Webstühle sind heute im Museum."
1789 wurde die Kirche in Paseky gebaut, die bis heute fast unverändert ist. Das war zu jener Zeit, als in den Böhmischen Ländern die nationale Wiedererweckung begann. Man entdeckte die tschechische Geschichte und Sprache wieder und versuchte, diese wiederzubeleben, denn in den Städten und gebildeten Kreisen wurde nur deutsch gesprochen. Ende des 18. Jahrhunderts begann auch Josef Simunek in Paseky, in seiner Wohnstube regelmässigen Schulunterricht in Tschechisch abzuhalten. Simuneks Sohn übernahm 1827 die Arbeit seines Vaters, drei Jahre später kam Venceslav Metelka als Hilfslehrer nach Paseky. Die beiden Dorflehrer leisteten in der Tat nationale Aufklärungsarbeit in dem Bergdorf: sie verliehen Bücher und Zeitschriften, sammelten Kirchenmusik, organisierten Konzerte und Theaterstücke. Dies war die Zeit, als in den Böhmischen Ländern Lesevereine und erste Laienschauspielgruppen entstanden. 1844 erfüllte sich ein Traum der Lehrer: Paseky erhielt für seine damals über 100 Kinder endlich eine eigene Schule. In dieser wurde in Tschechisch unterrichtet - keine Selbstverständlichkeit in der damaligen Zeit. Nach 17 Jahren hängte Venceslav Metelka seinen Lehrerberuf an den Nagel und widmete sich ganz der Instrumentenbauerei. Josef Waldmann aus Paseky erläutert im Paseker Museum die Bedeutung dieses Berufswandels von Venceslav Metelka.
"Metelka kam 1830 als Hilfslehrer aus dem Nachbardorf hierher. Hier hat er geheiratet, sich niedergelassen, Kinder bekommen. Und hier hat er begonnen, Geigen zu bauen. Sein Handwerk hat er auch seinen drei Kindern beigebracht, Vaclav, Josef und Johana - seine Tochter Johana war die erste Geigenbauerin in Mitteleuropa. Als 18jährige starb sie an Tuberkolose, vorher hat sie es allerdings noch geschafft, eine Geige zu bauen."
Diese Geige ist heute im Museum von Paseky zu sehen, neben anderen Instrumenten, die Mitglieder der Familie Metelka hergestellt haben. Venceslav Metelka wurde zum Begründer der sog. Riesengebirgs-Geigenbauschule. Deren Schüler waren Ende des 19. Jahrhunderts sowohl in den Böhmischen Ländern und den Niederlanden als auch in Berlin und Russland anzutreffen. Es gab Zeiten, da lebten in Paseky bis zu 11 Geigenbauer. Der letzte Geigenbauer verstarb in Paseky 1971, doch die Tradition der Geigenbauer aus Paseky ist bis heute ununterbrochen. Im Paseker Museum ist eine Art Stammbau zu sehen - in Prag und Hradec Kralove sind heute noch in direkter Folge Geigenbauer tätig.
Doch das ist nicht alles: Venceslav Metelka war nicht nur Dorflehrer und Geigenbauer, er schrieb auch Tagebücher über das Geschehen in diesem tschechischen Bergdorf sowie eine Autobiographie mit dem Titel "Aus dem Leben eines Dorfschullehrers". Literaturkritikern zufolge gehören Metelkas Erinnerungen zu dem Besten, was die tschechische Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts zu bieten hat. Inspiriert haben sie einige Jahrzehnte später den Schriftsteller Vaclav Rais. Dieser nutzte sie als Vorlage für seinen recht vaterländischen und aufklärerischen Roman "Zapadli vlastenci" - zu deutsch "Die vergessenen Patrioten", der 1894 erschien. Bei den diesjährigen Paseker Musikfeierlichkeiten war auch eine Inszenierung dieses Romans zu sehen. Regisseur Pavel Stingl erläutert die Zeit, zu der der Roman entstand.
"Zur Zeit der nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert sprach man noch fast überall in den Böhmischen Ländern Deutsch. Nur in einigen abgelegenen Dörfern, wie Paseky, hielt sich das Tschechische als Umgangssprache. Als die nationalen Erwecker sich entschlossen haben, das Tschechische wiederzubeleben, begannen Sie eine tschechische Geschichte zu verfassen, die Sprache zu kodifizieren und eine Grammatik zu schreiben. Dann brauchten sie auch irgendeine tschechische Literatur, die die Kinder in den Schulen lesen könnten und so begannen tschechische Schrifsteller sozusagen auf Bestellung Romane mit tschechischem Inhalt zu verfassen. Vaclav Rais entschloss sich, einen Roman zu schreiben, der in einem tschechischen Bergdorf spielen sollte. Durch Zufall erielt er das Tagebuch von Venceslav Metelka und das inspirierte ihn.
Paseky ist also das Dorf aus Rais` Roman von den vergessenen Patrioten. Alles, was in der heutigen Inszenierung zu sehen war, sind Erlebnisse der Vorfahren der heutigen Schauspieler. Und genau das hat mich fasziniert und inspiriert, eine Inszenierung des recht patriotischen Romans von Vaclav Rais hier in Paseky zu riskieren."
Die Inszenierung der "vergessenen Patrioten" war ein Riesenerfolg. Rund 50 Laienschauspieler aus Paseky und Umgebung spielten ihre Vorfahren. Über 1.000 Zuschauer sahen unter freien Himmel das Theaterstück - und das in einem abgeschiedenen Gebirgsdorf mit nur 300 Einwohnern!
Paseky unterschied sich in einem von den umliegenden Gebirgsgemeinden wie Harrachov-Harrachsdorf oder Rokitnice-Rochlitz: Paseky war stets ein rein tschechisches Dorf - das am nördlichst gelegene tschechische Dorf in Böhmen. Wegen seiner strategischen Lage an der Iser gehörte es während des Zweiten Weltkriegs zum Reichsgau Sudetenland. Auch wenn in Paseky keine Deutschen lebten, war es Ende des Zweiten Weltkriegs von der Vertreibung der Deutschen betroffen. Josef Waldmann erinnert sich:
"In allen Gemeinden lebten früher Deutsche und Tschechen ohne Probleme zusammen. Die Deutschen sprachen Tschechisch und die Tschechen Deutsch. Eigentlich gab es keine Probleme, auch während der Okkupation nicht. Der Abschub der Deutschen hatte auch für Paseky grosse Folgen: viele Leute aus Paseky zogen runter nach Rokytnice oder andere Dörfer, aus denen die Deutschen weg waren - da war das Leben einfacher und die Häuser standen leer, man brauchte sie sich nur zu nehmen. Früher hatte Paseky über 1.000 Einwohner, jetzt sind es nur noch 300."
Wer sich für die Geschichte von Paseky, die dortige Geigenbauschule, Venceslav Metelka und den Roman der "Vergessenen Patrioten" interessiert, der sollte das Paseker Museum besuchen. Zu dessen Entstehen hat übrigens auch Josef Waldmann beigetragen:
"Auf Anregung unseres Lehrers begannen wir, Gegenstände aus der Geschichte unseres Dorfes zu sammeln. In jedem Haus fanden wir etwas, alte Zeitschriften, Bücher, und vor allem Musikintrumente von den Metelkas und ihren Schülern. Und so haben wir eigentlich als Schüler den Grundstein für das Museum gelegt."
Anfang der 50er Jahre war Josef Waldmann auch an der ersten Inszenierung der "Vergessenen Patrioten" beteiligt. 1951 fanden zum ersten Mal die Paseker Musikfeierlichkeiten statt, doch die Kommunisten verboten diese nicht nur im nächsten Jahr, sondern für Jahrzehnte. Ebenso verboten die Prager Machthaber die Laienschauspielgruppe und Blasmusik. Josef Waldmann und seiner Familie gefiel dies nicht und ihnen ist es zu verdanken, dass wieder regelmässig Konzerte in der Dorfkirche zu hören sind. Jakub Waldmann, Josefs Sohn, Kontrabassist der tschechischen Philharmonie, erinnert sich an die Anfänge der Konzerttätigkeit:
"In unserer Familie sind wir alle gläubig, auch unter den Kommunisten sind wir regelmässig in die Kirche gegangen. Die Kommunisten haben allerdings die Musik aus den Kirchen verbannt, und das hat uns gestört. In Prag besuchte ich das Konservatorium, wo ich einige gute Freunde hatte und die kamen mit mir nach Paseky, um in der Kirche bei Gottesdiensten zu musizieren. Und so habe ich zusammen mit meinem Vater 1980 den St. Wenzels Chor und etwas später auch das Orchester gegründet."
Es scheint, dass Paseky etwas besonderes hat, was andere Dörfer nicht haben. Jakub Waldmann, der als Mitglied der tschechischen Philharmoniker nun in Prag lebt, aber oft nach Paseky kommt, versucht zu erklären, was das besondere ist:
"Es ist schwierig zu erklären, warum die Leute gerne hierherkommen. Schon allein, wenn man in die St. Wenzel-Kirche kommt, spürt man eine besondere Atmosphäre. Wenn wir Musiker hierherkommen und üben, und alles ohne Anspruch auf Honorar machen, dann ist es auch etwas besonderes, es ist wie eine gesellschafltiches Ereignis, aber ohne Stress und Rummel. Und noch etwas ist besonders in Paseky: es gibt keine Zäune. Die Gärten haben einfach keine Zäune. Das war schon zu Zeiten von Venceslav Metelka so, man besuchte sich einfach - und das ist vielleicht wirklich etwas besonderes."
Und noch etwas hat Paseky zu bieten: neben zahlreichen denkmalgeschützten typischen Riesengebirgsholzhäuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert den Friedhof mit der laut Kennern schönsten Aussicht im Lande: nämlich auf das Panorama des Riesengebirges.