Die deutschen Bundestagswahlen aus tschechischer Sicht

Die deutschen Bundestagswahlen, Foto: CTK

Mit den Wahlen zum deutschen Bundestag vom 22. September 2002 ist eine wichtige innenpolitische Weichenstellung in einem der wichtigsten europäischen Länder gefallen. Auch in Tschechien hat das Ergebnis zu zahlreichen Reaktionen geführt. Mehr darüber erfahren Sie nun im folgenden Schauplatz von Silja Schultheis und Robert Schuster.

Die deutschen Bundestagswahlen,  Foto: CTK
Dem Ausgang der Wahlen zum Bundestag wurde in den vergangenen Monaten nicht nur in Deutschland entgegengefiebert. Auch in Tschechien war man auf den Ausgang des in der Schlussphase äußerst knappen Rennens gespannt. Schließlich ist ja Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner Tschechiens und zudem ein wichtiger Faktor im Zusammenhang mit dem angestrebten Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union. Seither wurde das Ergebnis und der lange Zeit offene Ausgang des Duells zwischen Amtsinhaber Gerhard Schröder und dessen Herausforderer Edmund Stoiber ausgiebig von den heimischen Politologen kommentiert und analysiert. Einer der besten Kenner Deutschlands unter ihnen ist der Politikwissenschaftler Rudolf Kuèera von der Prager Karlsuniversität. Radio Prag fragte ihn deshalb, ob es etwas gibt, was er im Zusammenhang mit der Wahl in Deutschland besonders hervorheben würde?

"Also am meisten hat mich überrascht und ehrlich gesagt auch verunsichert, dass bei den diesjährigen Bundestagswahlen der Populismus so eine große Rolle gespielt hat, der sich vor allem in den antiamerikanischen Standpunkten der Regierung Schröder so kurz vor den Wahlen bemerkbar machte. Ich habe nämlich bisher stets angenommen, dass Deutschland gegenüber solchen Wahlkampfmethoden immun ist und dass letztendlich das Wahlergebnis durch diese massive Welle an Antiamerikanismus so stark beeinflusst wurde, das hat mich sehr beunruhigt."

Der Politikwissenschaftler Kuèera mahnt aber gleichzeitig die vielen Kritiker die nun Bundeskanzler Schröder vom Ausland her kritisieren etwas differenzierter vorzugehen und warnt davor, verbal jetzt nur auf die Deutschen loszugehen. Denn Antiamerikanismus sei schließlich etwas, was auch in anderen europäischen Ländern gegenwärtig eine Konjunktur erlebe, was aber auch im Zusammenhang mit dem Vorgehen der USA in Afghanistan durchaus zu erwarten war. Ebenso musste man auch damit rechnen, dass die Welle der Solidarität, welche den Vereinigten Staaten nach den Ereignissen des 11. September 2001 entgegenkam, irgendwann abflauen wird. In Europa gebe es Länder, wo nach der Überzeugung Kuèera, gerade in Vorwahlzeiten die Politik nicht ohne gewisse Seitenhiebe Richtung USA auskomme:

"Ich meine, dass es z.B. in den französischen Wahlkämpfen zu ähnlichen Äußerungen kommt und zwar schon seit vielen Jahren regelmäßig, dennoch stößt sich aber fast niemand mehr daran. Es stimmt, dass der Rechtspopulist Le Pen vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen stark nationale Töne angeschlagen hat, aber er wurde dann in der zweiten Runde von einer klaren Mehrheit der Franzosen abgelehnt. In anderen Ländern ist das nicht anders. Was mich aber im Zusammenhang jetzt mit Deutschland so überrascht hat, war dass das Publikum dafür anscheinend empfänglich war, ohne jedoch, im Gegensatz etwa zu den Franzosen, die möglichen Folgen dessen abzusehen, d.h. die Schwächung des internationalen Ansehens, oder des Vertrauens in Deutschland usw."

Der Populismus selbst, der vor allem als Mittel zur Stimmenmaximierung angewandt wird, bringt jedoch laut Kuèera in den meisten Fällen nicht die erhofften Ergebnisse. Dass mussten seiner Meinung gerade auch die tschechischen Politiker bei den Wahlen vom Juni diesen Jahres erfahren, als sie vorher im Wahlkampf auch massiv auf populistische Versprechen und nationalistische Töne setzten. Das Hauptproblem mit dem Populismus sieht Kuèera vor allem darin bestehen, dass mit seiner Hilfe in den allermeisten Fällen keine stabilen und regierungsfähigen Mehrheiten entstehen. Die Ursache dafür sieht er darin, dass populistische Politik die Gesellschaft polarisiert und die so zustande gekommenen Regierungen sich nur auf schwache und zumeist wackelnde Mehrheiten stützen können. Längerfristig gesehen birgt er aber noch eine weitere Gefahr in sich:

"Populismus gefährdet wirklich den demokratischen Grundkonsens in der Gesellschaft, das Vertrauen in die Gesellschaft, die Solidarität in einer Gesellschaft, deswegen ist zu hoffen, dass Populismus nicht zu einem üblichen Stilmittel in der Politik wird und diese Methoden nicht nachgeahmt werden, weil dann würde Europa sehr schlecht dastehen."

Eine der wichtigsten Fragen, die vor den deutschen Wahlen fast überall angeklungen ist, war die nach möglichen Auswirkungen des Ergebnisses auf die deutsch-tschechischen Beziehungen. Oft kam es dann zu Vereinfachungen, wonach ein Sieg von Kanzler Schröder den bisherigen Kurs einer gedeihlichen und auf die Zukunft ausgerichteten Zusammenarbeit beider Länder auf allen Ebenen fortführen würde, ein Triumph von dessen konservativen Widersacher Stoiber hingegen wieder das Hauptaugemerk auf die Anliegen der Vertriebenen Sudetendeutschen richten würde. Laut Politikwissenschaftler Rudolf Kuèera war jedoch diese Deutungsweise von Anfang an falsch und entsprach vielleicht höchstens dem Wunsch einiger tschechischer Medien nach einem vereinfachten "Freund-Feind-Schema". Er ist davon überzeugt, dass es in der "Tschechien-Politik" beider Politiker keine gravierenden Unterschiede gebe. Wenn es um den Themenkomplex Sudetendeutsche-Vertreibung-Bene-Dekrete gehe, hat ja laut Kuèera selbst die bisherige rot-grüne Regierung den Standpunkt vertreten, dass es nicht primär um die Aufhebung der Dekrete gehe, sondern um die Aufhebung der rechtlichen Folgen dieser Gesetzesnormen noch vor dem EU-Beitritt des Landes. Können also vom jetzigen deutschen Wahlergebnis irgendwelche Folgen auf die gegenwärtige Schlussphase der tschechischen Beitrittsverhandlungen erwartet werden? Rudolf Kuèera von der Prager Karlsuniversität mein dazu im folgenden:

"Ich meine, dass die Situation in Deutschland nach wie vor sehr kompliziert sein wird, nicht zuletzt wegen der knappen Mehrheit der neuen Regierung Schröder. Die Erweiterung der Union kann es nur dann geben, wenn darüber zwischen den beiden wichtigsten Staaten der EU, also Deutschland und Frankreich Einigkeit herrschen wird. Und in dieser Hinsicht schaut es gegenwärtig nicht besonders gut aus, weil sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich unter der Regierung Schröder verschlechtert hat. So kam es dazu, dass beide Länder heute in vielen Bereichen nicht mehr miteinander reden und die Positionen abstimmen. Zum anderen sehen wir, dass bestimmte Teile Westeuropas heute eine wirtschaftliche Krise durchmachen - Deutschland ist ganz besonders stark davon betroffen, wo es ja schon soweit gekommen ist, dass Deutschland nicht mehr den Stabilitätspakt für die gemeinsame europäische Währung einhalten wird. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Regeln des Stabilitätspaktes und so etwas könnte natürlich auch Auswirkungen auf die Beitrittsverhandlungen haben."

Im September fanden Wahlen in Deutschland und in der Slowakei statt, im November wird es vorgezogenen Neuwahlen in Österreich geben - gegenwärtig scheint es also, als ob Tschechien von Ländern umgeben wäre, in denen wichtige innenpolitische Weichenstellungen getroffen werden. Kann das direkte oder indirekte Auswirkungen auf Tschechien haben? Wie stark können eigentlich die Wahlergebnisse die Politik im Land selber beeinflussen? Gibt es da Zusammenhänge, oder sind die Wahlen von Land zu Land lediglich isolierte Einzelerscheinungen? Abschließend kommt noch einmal Politologe Rudolf Kuèera zu Wort:

"Ich denke bestimmt, weil hier ist noch etwas, was wir vielleicht nicht immer ganz konsequent wahrnehmen und zwar, dass die EU die Länder in der Mitte Europas immer noch als eine untereinander verbundene Einheit betrachten. Damit ist auch der Wunsch verbunden, dass diese Mitte Europas wenn möglich gemeinsam in die Union aufgenommen wird, ebenso aber auch eine gewisse Erwartung, dass die Mitteleuropäer ihre Probleme, die sie untereinander haben, selber lösen können, bzw. von Natur aus zu einer engen Zusammenarbeit neigen. Leider ist es aber so, dass die Regierungen in den von ihnen erwähnten Ländern - einschließlich Tschechien - nicht besonders stabil sind, und zwar gerade in einer Zeit, in der wichtige Entscheidungen, wie etwa die Erweiterung der Europäischen Union anstehen. Ich denke wir sollte uns das gut vor Augen halten und wenn möglich, auch danach handeln."

Liebe Hörerinnen und Hörer, soweit unser heutiger Schauplatz. Für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und auf ein Wiederhören freuen sich Silja Schultheis und Robert Schuster.