Historiker sehen Zukunft des Geschichtsunterrichts bedroht/ Von der Regierung geplante Novellierung des Archivgesetzes löst heftige Debatte aus

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Um die Zukunft des Geschichtsunterrichts in Tschechien ist in den letzten Wochen eine heftige Diskussion entbrannt. Der Hintergrund: Die Regierung will den Zugang zu den Archiven deutlich begrenzen und den Geschichtsunterricht künftig in ein übergreifendes Fach "Mensch und Gesellschaft" integrieren, ein entsprechender Gesetzentwurf liegt dem Abgeordnetenhaus bereits vor. Dies scheint v.a. vor dem Hintergrund brisant, dass bereits heute in vielen Schulen die Behandlung insbesondere der jüngeren Geschichte viel zu kurz kommt und Tschechien im europäischen Vergleich in puncto Geschichtsunterricht regelmäßig miserabel abschneidet. Dementsprechend alarmierend fiel der Aufschrei der Geschichtslehrer aus, der eine heftige öffentliche Debatte nach sich zog. Welche Argumente dabei ins Feld geführt wurden, ist Gegenstand der heutigen Sendung von Silja Schultheis.

Die Historiker sind fassungslos: Geschichte soll es an tschechischen Schulen künftig nicht mehr als selbständiges Fach geben, das neue Fach "Mensch und Gesellschaft" kann - so die Befürchtung - auch von Lehrern unterrichtet werden, die keine historische Ausbildung haben, welche Geschichtsepochen im Unterricht schwerpunktmäßig behandelt werden, soll nicht mehr einheitlich per Lehrplan, sondern individuell durch die jeweilige Schuldirektion entschieden werden. Weiter soll der Zugang zu den Archiven deutlich beschränkt werden, Akten über noch lebende Personen sollen künftig nur noch nach Einverständnis mit der betreffenden Person ausgehändigt werden, die etwa 20 selbständigen Archive in Tschechien sollen künftig staatlichen Institutionen unterstellt werden,

Verständnislos auf den Gesetzentwurf reagieren die Geschichtslehrer nicht zuletzt deshalb, weil er von einer Regierung vorgelegt wurde, an deren Spitze mit Premier Vladimir Spidla und Vizepremier Mares zwei Historiker stehen. Der Vorschlag komme einer Absage an diejenige Entwicklung gleich, die sich seit der politischen Wende von 1989 in tschechischen Archiven und Schulbüchern - zumindest behutsam - abgezeichnet habe, meint Jiri Pesek, Vorsitzender des tschechischen Historikerverbandes:

"Also, das wichtigste war natürlich in den 90er Jahren die Entkommunisierung des Unterrichts, die Öffnung der Archive und die Möglichkeit, einen Dialog zwischen den Historikern und der Gesellschaft zu führen. D.h. aber auch, es war notwendig, die Geschichte des 20. Jh. zu öffnen - das ist bislang zu wenig gelungen - stattdessen kommen diese für mich absolut unverständlichen Initiativen des Schul- und Innenministeriums, Geschichtsunterrichts zu minimalisieren und die Archive zu schließen. Also, das ist wirklich eine Kontrabewegung zu allem, was bisher seit der Wende in Tschechien geschah."

Für Helena Mandelova, Vorsitzende der Assoziation der tschechischen Geschichtslehrer, zeugt das Vorhaben der Regierung von Konzeptlosigkeit und der mangelnden Bereitschaft zum Dialog mit der Fachöffentlichkeit - einer Erscheinung, die ihrer Meinung nach nicht neu ist. Seit Beginn der 90er Jahre seien die Geschichtslehrer mit ihren Forderungen nach einer Reformierung des Geschichtsunterrichts in den Ministerien auf taube Ohren gestoßen:

"Die Pläne für eine Reform wurden seit 1990 ausgearbeitet, wir haben darin eine höhere Stundenzahl für den Geschichtsunterricht gefordert, dazu ist es nicht gekommen. Die Lehrer haben heute keine Lehrmaterialien, auf die sie sich stützen können. Publikationen gibt es zwar genug, aber keine methodologischen Anleitungen. Die sind seit 1990 nicht erschienen - keine einzigen."

Auf diesen Umstand führt Mandelova auch die viel beklagte Unlust und Unfähigkeit tschechischer Geschichtslehrer zurück, die Geschichte ihres Landes nach 1945 im Unterricht zu behandeln:

"Bevor sie den Schülern einfach irgendetwas vorkauen, ohne die Quellen zu studieren, nehmen sie es lieber gar nicht durch. In einer bloßen Wiedergabe von Fakten sehen viele keinen Wert. Es ist immer wieder eine Frage der geeigneten Bedingungen."

Anders sieht dies Michal Kosyna, Gymnasiallehrer im nordböhmischen Ceska Lipa. Er - hat keine Probleme mit mangelnden Lehrmaterialien und einer zu geringen Stundenzahl:

"Mir persönlich ist es, seit ich unterrichte, noch nie passiert, dass ich mit dem Zweiten Weltkrieg im Unterricht ende. Ich habe immer die Nachkriegszeit bis hin zum Fall des Eisernen Vorhangs durchgenommen. Man muss Schwerpunkte setzen können. Und nach meinen Erfahrungen interessiert die Schüler das 20. Jh. am meisten."

Michal Kosyna ist zuversichtlich, dass ihm auch nach der Integration des Geschichtsunterrichts in das Fach "Mensch und Gesellschaft" genügend Spielraum und Zeit zur Behandlung dieses Themas bleiben würde. Im Gegensatz zur Vorsitzenden der Assoziation der Geschichtslehrer begrüßt er die größere Selbständigkeit, die aus dem Gesetzentwurf für die Schulen resultiert und den breiteren Kontext, in dem Geschichte nach Verabschiedung des Gesetzes künftig unterrichtet werden würde. Ähnlich sieht es auch Hana Effenbergerova, Schülerin am Salda-Gymnasium in Liberec/Reichenberg:

"Es ist klar, dass Geschichte nicht nur so allein stehen kann - man könnte zwar sagen: ja, das ist passiert. Aber was vorher passiert ist und was damit zusammenhängt, das ist ebenso wichtig. Geschichte allein ist nicht alles."

Dass der Geschichtsunterricht auch künftig in Form eines übergreifenden Faches nicht an Qualität einbüßen wird, beteuert Schulministerin Petra Buzkova. Den Befürchtungen der Geschichtslehrer hält sie entgegen, dass Lehrer anderer Fächer gegen die Zusammenlegung einzelner Fächer zu größeren Komplexen schließlich auch nichts einzuwenden hätten.

Aus internationaler Perspektive betrachtet ist die Idee, Geschichtsunterricht in ein übergreifendes Gemeinschaftsfach zu integrieren, keineswegs neu. Ähnliche Versuche hat es in der Vergangenheit auch anderswo in Europa gegeben. Andreas Helmedach, Koordinator der deutsch-tschechischen Schulbuchkommission am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, hat sie am eigenen Leib erfahren:

"In den 70er Jahren habe ich in Hessen gelebt, an einem Reformgymnasium, an dem es keinen Geschichtsunterricht als selbständiges Fach gab. Diese Ideen kommen immer wieder und scheitern immer wieder. Im sog. roten Hessen hat man versucht, Geschichte, Geographie und Sozialkunde als gemeinsames Fach zu unterrichten. Das hatte zur Folge, dass ich in der Schule nur äußerst sporadisch erfahren habe über Rom und die NS-Zeit, dazwischen gab es nichts. Und ich kann nur warnen davor, diesen Fehler anderswo zu wiederholen."

Sollte es dazu in Tschechien kommen, so Helmedach, wäre dies nicht nur ein Rückschlag für die deutsch-tschechische Schulbuchkommission, sondern vor allem für die tschechischen Kinder. Und der Historiker Jiri Pesek befürchtet zudem die negativen Auswirkungen, die das neue Gesetz auf das Image Tschechiens als Standpunkt für ausländische Forscher hätte und nicht zuletzt auf die Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission, deren Mitglied er selbst ist:

"Es forschen hunderte von ausländischen Historikern, Studenten oder Akademikern in den tschechischen Archiven. Also, wie sollten die Möglichkeit der Öffnung und des Dialogs auf europäischer Ebene schaffen. Das ist das, was wir als Historiker und Archivare erzielen möchten."