Der Optimismus des Trotzalledem. Eine Erinnerung an den Schriftsteller und Erfinder der Taubblindensprache Hieronymus Lorm (1821-1902)

Hieronymus Lorm

In der heutigen Feiertags-Ausgabe von Forum Gesellschaft zum Sankt-Wenzels-Tag möchten wir Ihnen einen besonderen Menschen vorstellen: Hieronymus Lorm. Geboren 1821 im südmährischen Mikulov/Nikolsburg, hinterließ er als Schriftsteller, Feuilletonist, Philosoph und streitbarer Kritiker seiner Zeit ein ebenso vielfältiges wie tiefes Werk. Hieronymus Lorm musste aber nicht nur die Widerstände seiner Zeit überwinden, sondern auch die seines Körpers: Er war taubblind. Lorms Werk wird heute nicht mehr beachtet und ist kaum noch zugänglich. Die von ihm geschaffene Taubblindensprache lebt aber fort und ermöglicht Tausenden seiner Leidensgenossen, ihre Isolation zu durchbrechen. Thomas Kirschner erinnert an einen zu Unrecht Vergessenen.

"Der Dichter und Philosoph Hieronymus Lorm wurde vor 100 Jahren geboren. Man weiß heute wenig mehr von ihm, als dass er taub und blind war und einige schöne Gedichte schrieb."

Mit diesen Worten leitete der Brünner Literaturhistoriker und Gymnasialprofessor Karl Kreisler im Jahre 1921 eine knappe Biographie über Hieronymus Lorm ein. Wenig ist ihr nachgefolgt, und so gelten Kreislers Worte heute nur umso mehr. Der Mensch Hieronymus Lorm ist in der Geistesgeschichte praktisch vergesessen. Geblieben aber ist das, was von ihm nur als Hilfsmittel erdacht wurde, um die Isolation seines Geistes zu überwinden: die Fingertastsprache für Taubblinde, das Lormen.

Mikulov  (Foto: Jan Richter)
Hieronymus Lorm wurde als Heinrich Landesmann am 9. August 1821 in Mikulov/Nikolsburg in Südmähren geboren - ein schwächliches Kind, dem die Ärzte kaum einige Tage gaben. Es wurden schließlich mehr als 80 Jahre. Sein Leben aber stand immer unter dem Schatten schwerer gesundheitlicher Probleme. Die Eltern, wohlhabende Kaufleute, zogen kurz nach seiner Geburt aus Mähren nach Wien. Einer der wenigen, die sich mit Lorm näher befasst haben, ist der Berliner Historiker Hartmut Mehls:

"Wir müssen bei Lorm wissen, dass er einer reichen jüdischen Familie zugehörte und hier schon als Kind das Leben und die Kunst in den Wiener Salons kennen gelernt hatte und selbst am Klavier als Wunderknabe galt. Und dann trat plötzlich die Taubheit ein - ganz schlagartig, dass er mit 16 Jahren ertaubte - und später auch noch die Blindheit."

Die Ärzte sind ratlos, die Hoffnungen auf eine musikalische Laufbahn zerschlagen. Lorm wird sein Leben lang taub bleiben. Zeitweise quälen ihn auch noch Lähmungserscheinungen, und 1845 verliert er über Nacht sein Augenlicht, das aber nach Monaten teilweise zurückkehrt. Anfängliche Selbstmordgedanken besiegt er, indem er zu dichten beginnt. Es folgen journalistische Arbeiten und Rezensionen, in denen er scharf gegen diejenigen Literaten das Wort ergreift, die sich der österreichischen Staatszensur beugen. Als unabhängiger Geist gerät Lorm bald ins Visier der Spitzel des Staatskanzlers Metternich, der mit eiserner Hand alle neuen Ideen zu unterdrücken versucht. Er muss aus Österreich fliehen, geht nach Deutschland und publiziert seitdem unter Pseudonym: aus Heinrich Landesmann wird Hieronymus Lorm. Die Revolution 1848 zieht ihn zurück nach Wien, später wechselt er noch mehrfach den Wohnort. Die 1850er und 60er Jahre zeigen ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Lorms Lyrik ist trotz seiner Taubheit von eigentümlich-musikalischem Klang, als Kritiker ist er hoch angesehen, und als Feuilletonist bei der Wiener Zeitung zählt er zu den führenden Gestalten des aufstrebenden Genres. Er gibt den lockeren Plaudereien sprachliche Brillanz und philosophische Tiefe, bevor Daniel Spitzer in den Jahren danach das Wiener Feuilleton zur satirischen Vollendung führt.

Seine Augen machen Lorm jedoch immer größere Probleme, nur unter größten Mühen kann er noch Lesen und Schreiben. 1881, mit sechzig Jahren, erlischt sein Augenlicht endgültig, Lorm ist taubblind. Seine Familie, besonders die Tochter Marie, kümmert sich aufopfernd. Mit Marie entwickelt Lorm eine Fingersprache: Durch Antippen und Berühren verschiedener Punkte in der geöffneten Handfläche werden die einzelnen Buchstaben bezeichnet. Nochmals der Historiker Hartmut Mehls:

"Es ging so weit, dass Marie ganze Bücher in Hand las, denn wenn wir uns seine Rezensionstätigkeit angucken, dann setzt er sich noch in den 80er und 90er Jahren, wo er bereits total blind und taub ist, mit Büchern auseinander, und zwar auf einem sehr hohen Niveau - das heißt, er kennt sie im Einzelnen. Und das kann er nur kennen, weil die Tochter ihm mit aller Geduld das Buch in die Hand gelesen hat. Auch ganze Musikwerke soll sie hineinbuchstabiert haben - ich weiß nicht, wie man das kann. Aber zumindest hat er auch dann noch sehr viel gelesen, und Marie hat es sehr sorgfältig gemacht. Da er selber keine Punktschrift - also Blindenschrift - konnte, war er auch darauf angewiesen."

Mit Hilfe der Tochter bleibt Lorm bleibt auch nach der Erblindung produktiv. Von der Außenwelt abgeschlossen, entfaltet sich ein umso reicheres inneres Leben, bei dem er von den Jugenderinnerungen im vormärzlichen Wien zehrt. Als Taubblinder verfasst er unter anderem allein noch ein knappes Dutzend Romane, meist Unterhaltungslektüre, die ihm, wie er selbst sagt, sein Bäcker und sein Fleischer diktiert haben. Immerhin ist Hieronymus Lorm damit einer der wenigen Schriftsteller seiner Zeit, die von der Literatur leben können - trotz seiner Behinderung. Verstärkt aber wendet er sich auch der Philosophie zu, wobei ihm Schopenhauers Pessimismus nahe ist. 1894 erscheint Lorms philosophisches Vermächtnis unter dem Titel "Der grundlose Optimismus". Zieht Lorm hier die Konsequenz aus seinem Schicksal und sagt sich von dem Glauben an das Positive los? Oder liegt die Betonung doch auf dem Optimismus, auf dem Prinzip Leben, das trotz aller Beschwernisse siegt?

"Sie liegt auf dem Trotzalledem. Das ist ja eigentlich das, was er gegenüber Schopenhauer ins Feld führt, dass er eben trotz alledem lebt, und ganz bewusst lebt und gern lebt und sich auch gern unterhält. Obwohl er mit 16 Jahren total taub wird, kann er bis ins hohe Alter deutlich und vollkommen artikuliert sprechen. Und damit bleibt er auch in seiner Lyrik - trotz aller pessimistischen Strömungen - Optimist. Im Grunde genommen ist es ein umheimlicher Optimismus, ein gewisses inneres Gleichmaß, das er mitbringt."

1892 kehrt Hieronymus Lorm in die mährische Heimat zurück, nach Brünn, wo sein Sohn Ernst sich als Arzt niedergelassen hat. Er lebt noch zehn Jahre mit seiner Familie in Brünn, liegt fast den ganzen Tag auf der Chaiselongue, weil er so die Einschränkungen seiner Behinderung am wenigsten spürt, denkt, phantasiert, diktiert, empfängt Besuch. Immer begleitet ihn dabei seine Tochter Marie und übersetzt ihm alles in die Fingersprache.

"Als er dann 1902 starb, hat sich Marie hingesetzt und das, was sie mit ihren Vater über lange Jahre ausprobiert hatte, in einer Broschüre zusammengefasst und veröffentlicht. Und gerade im deutschen Sprachraum hat sich diese Fingersprache dann durchgesetzt. Wir haben noch andere Sprachen, aber hier in der Bundesrepublik ist das Lormen als die Sprache unter den Taubblinden gebräuchlich und kann so gehandhabt werden, dass man sich fast so schnell verständigen kann, wie wir sprechen."

Auch in der Tschechischen Republik findet das Fingeralphabet nach Hieronymus Lorm noch heute Verwendung - leicht abgeändert: statt Umlauten gibt es Häkchen und Längenzeichen. Während es in Deutschland geschätzte 3000 - 5000 Taubblinde gibt, sind es hierzulande etwa 1500. Ein Verband kümmert sich um sie und bietet ihnen Beratung, Rehabilitation und Hilfestellung im Alltag. Der Name des Verbandes: LORM. Was bedeutet heute noch die Fingersprache, die im Zeitalter modernster elektronischer Hilfsmittel etwas antiquiert wirkt? Jitka Hlavacova, die als Sonderpädagogin bei LORM in Prag tätig ist, macht deutlich, dass das Lormen keineswegs überholt ist.

Logo des Verbandes LORM
"Das ist ein sehr wichtiges Kommunikationssystem, schon weil es ein ganz klares und ausgearbeitetes System ist, etwa im Unterschied zur Gebärdensprache wo die Zeichen in unterschiedlichen Gegenden ganz verschiedene Bedeutung haben können. Beim Lorm-Alphabet ist dagegen genau festgelegt: dieser Punkt ist dieser Buchstabe. Taubblinde können sich so ganz einfach untereinander verstehen, es macht ihnen sehr viel Spaß, dass sie miteinander in Kontakt treten können und ohne Hilfsmittel oder eine dritte Person dem anderen etwas mitteilen können."

Und das ist wohl auch der wichtigste Aspekt: Wenngleich Taubblinden auch noch andere Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen, etwa die Blindenschrift, bleibt das Lormen doch die einzige Möglichkeit, ganz unmittelbar mit Taubblinden in Kontakt zu treten. Für ungeübte Lormer bietet der Deutsche Blindenverband sogar Lormhandschuhe aus Stoff an, auf denen die Berührungspunkte markiert sind. Was am Anfang noch etwas verwirrend aussehen mag, wird schnell zur Gewohnheit, so Jitka Hlavacova:

"Das Lorm-Alphabet sieht zwar nicht danach aus, aber es ist schrecklich einfach. Wir bringen es unseren Kunden in fünfzehn bis zwanzig Minuten bei. Zudem sind taubblinde Menschen umso sensibler in den Sinnen, die sie noch haben, das heißt also vor allem im Tastsinn. Das Lorm-Alphabet ist sehr einfach, und wenn man es ein wenig einübt, dann ist es wirklich ein ausgezeichnetes Kommunikationssystem für taubblinde Menschen."

Jüdischer Friedhof im Brünner Vorstadtbezirk Julianov  (Foto: Kirk,  CC BY-SA 4.0 International)
Hieronymus Lorm alias Heinrich Landesmann hat sein Schicksal angenommen und überwunden. Er starb am 3. Dezember 1902 in Brünn. Sein umfangreicher Nachlass liegt kaum beachtet in der Wiener Stadtbibliothek. Keine Gedenktafel erinnert an ihn, kein Schild weist zu seinem schlichten Grab auf dem jüdischen Friedhof im Brünner Vorstadtbezirk Julianov. Seine Schriften sind vergessen, und dennoch hat er das Höchste erreicht, was ein Schriftsteller erreichen kann: er hat den Menschen eine neue Sprache gegeben.