Zdenek Primus: die Freiheit der Fiktion
Zdenek Primus hat immer viel geschrieben: Studien, Katalogtexte und Bücher, hauptsächlich über die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts. Seinen ersten belletristischen Text aber verfasste er im Alter von bereits 57 Jahren. Es war der Versuch, ein Stück Familiengeschichte zu verarbeiten, die Geschichte der Generation seiner Eltern, die geprägt war vom Krieg. Geboren wurde Primus 1952 im mährischen Brünn als Sohn einer deutsch-tschechischen Familie. 1977 emigrierte er nach Deutschland.
„Ja, mein Vater ist Sudetendeutscher, der im Krieg gekämpft hat. Irgendwann 1950 hat er meine Mutter kennen gelernt, die eine Tschechin war. Mit uns Kindern hat man nur Tschechisch gesprochen.“
Warum war Ihr Vater nach dem Krieg, als Sie 1952 geboren wurden, noch hier? Sehr viele Deutsche wurden ja nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben.
„Er ist mit 16 in den Krieg gezogen. Mit 19 ist er nach eineinhalb Jahren Gefangenschaft in Russland zurückgekommen. Da mein Vater sehr jung war, suchte er die Unterstützung durch die Nachbarn. Die mussten unterschreiben, dass er nichts Schlimmes verbrochen hat, dass sie ihn schon seit der Kindheit kannten. Wenn man 13 Unterschriften bekommen hat – vielleicht waren es auch 17, ich weiß es nicht mehr – dann hat eine Behörde entschieden, dass man bleiben kann.“Und offensichtlich wollte er auch bleiben. Hat sich das dann später geändert? Sehr viele Menschen wollten ja später aus der mittlerweile schon kommunistischen Tschechoslowakei emigrieren. Gab es in Ihrer Familie auch solche Versuche? Und wie ist es letztlich dazu gekommen, dass Sie selbst das Land verlassen haben?
„Mein Vater hat es ein paar Mal versucht. Aber es war ihm nicht klar, dass er eigentlich auch ganz offiziell hätte auswandern können. Irgendwie hat er das nicht gecheckt. 1969 haben wir versucht, nach Österreich zu gehen, aber wir wurden an der Grenze angehalten, und man hat uns die Pässe weggenommen. Danach lief es nicht mehr. Ich habe dann jedes Jahr versucht, ganz alleine, ohne mit ihm zu reden, aus der Tschechoslowakei hinauszukommen. Ich wollte unbedingt studieren, ich wollte etwas aus mir machen. Studieren durfte ich hier nicht, und viele meiner Freunde verfielen dem Alkohol, wussten nicht mehr weiter. Ich wollte nicht so enden. 1977 ist es mir dann endlich gelungen, hinauszukommen. Meinem Vater habe ich einen Tag vor der Abreise gesagt, dass ich nicht mehr zurückkomme. Es war keine offizielle Ausreise, ich habe eigentlich nur ein Visum für Frankreich und die Beneluxstaaten bekommen. Mein Vater hat mich zunächst gefragt, was ich dort machen will, dass ich doch die Sprache gar nicht kann. Da habe ich ihm erzählt, was ich vorhabe. Er sagte: Du hast dich richtig entschieden. Zweieinhalb Jahre nach mir ist er dann auch gekommen.“
Als Sie 1977 emigriert sind, waren Sie 25. In Deutschland konnten Sie dann studieren, Sie haben sich für Kunstgeschichte entschieden. War das in Ihnen schon vorher angelegt, oder wurden Sie erst in Deutschland zur Wahl dieses Studiums inspiriert?
„Ich mochte schon immer die Antike sehr und wollte eigentlich klassische Archäologie studieren. Aber als ich erfahren habe, dass ich dafür außer Deutsch noch Englisch, Französisch, Italienisch, Latein und Altgriechisch lernen muss, da war mir das einfach zu viel. Also habe ich Kunstgeschichte studiert, und klassische Archäologie und Germanistik habe ich als Nebenfach genommen. Da musste ich nur drei Sprachen lernen, das war okay. Und es war eine richtige Entscheidung.“
Sie waren dann also als halber Deutscher, der aber anfangs mit der Sprache noch Schwierigkeiten hatte, in Deutschland. Haben Sie sich sehr fremd gefühlt, oder sind Ihre Wurzeln dann doch relativ schnell durchgekommen, so dass Sie sich in Deutschland bald heimisch gefühlt haben?„Das ist eine wichtige Frage. Ich bin nach Deutschland gekommen, und ich habe mir gesagt: Jetzt bin ich hier, ich bin hier zu Hause, hier sind meine Wurzeln. Ich habe mich nie benommen wie ein Ausländer, und dadurch wurde ich auch nie als Ausländer wahrgenommen. Mein Deutsch ist übrigens jetzt viel schlechter als früher, weil ich so wenig Deutsch spreche. Ich hatte gar keine Schwierigkeiten. Ich fühlte mich wohl, und ich hatte nie so genannte Emigrantenträume. Alle andere hatten diese Träume, ich nie. Denn ich fühlte, ich war zuhause.“
Emigrantenträume sind schlechte Träume aus Sehnsucht nach der Heimat?
„Nein, das sind Träume, in denen man plötzlich wieder in dem alten Land ist und nicht mehr hinausdarf.“
Sie sind dann nach dem Fall des Eisernen Vorhangs trotzdem wieder ins alte Land zurückgehrt.
„Ja, 1991.“
Was hat sie dazu bewogen? Wollten Sie doch wieder die alte Heimat aufsuchen?„Nein, überhaupt nicht. Ich wollte überhaupt nicht zurück. Aber ich habe eine Amerikanerin kennen gelernt und mich in sie verliebt. Sie bekam das Angebot nach Prag zu gehen, um hier eine Fotogalerie zu leiten. Ich selbst habe gerade in Frankreich eine Ausstellung gemacht und dort jemanden von der FAMU, der Prager Filmhochschule kennen gelernt. Wir haben uns gut verstanden, und er hat gesagt: Wenn Sie schon nach Prag gehen, wollen Sie nicht an der FAMU unterrichten? Ich habe gesagt, ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber er meinte: Sie werden das sicher können! Also bin ich, eigentlich wegen der Liebe, zurückgekommen. Am Anfang war Euphorie, dann war es schwierig, dann war es sehr, sehr fremd. Und jetzt bin ich gelöst, und ich bin sehr froh, dass ich hier bin.“
Im Jahr 2009 kam es bei Ihnen dann noch einmal zu einer kleinen Lebenswende: Sie haben sich der belletristischen Prosa gewidmet, nachdem Sie vorher sehr viele Texte als Kunsthistoriker, etwa Fachliteratur in Ausstellungskatalogen veröffentlicht haben und als Kurator vieler Ausstellungen tätig waren. Was hat Sie dazu gebracht?
„Wenn ich sage, ich habe es geträumt, dann werden Sie mir nicht glauben. Aber tatsächlich konnte ich einmal in Spanien in der Nacht nicht schlafen, es war sehr heiß. Da ist mir die Idee für eine Novelle gekommen, die mit dem Krieg zu tun hat. Bis sieben Uhr früh habe ich die Geschichte im Geiste zu Ende geschrieben. In den nächsten Tagen habe ich mir Notizen gemacht, und als ich zwölf Seiten hatte, stellte ich fest, dass ich alles auf Deutsch geschrieben habe. Also habe ich auch auf Deutsch zu Ende geschrieben. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Diese Freiheit, Fiktion zu schreiben! Das ist etwas Anderes als in der Kunstgeschichte, denn dort dient man im Grunde der Kunst. Aber hier war ich völlig frei. Nachdem ich diese Novelle geschrieben hatte, habe ich Kurzgeschichten geschrieben, dann wieder Novellen, dann einen Roman. Das macht mir richtig Spaß!“
In dem Text „Ich bin tot“ geht es darum, dass ehemalige Kriegsteilnehmer an den Schauplatz ihrer Kriegserlebnisse zurückkehren. Alle leiden psychisch und auch körperlich unter den Folgen des Krieges. Sie kommen mit dem Ziel zusammen, sich zwar noch untereinander auszutauschen, aber eigentlich, um danach ihrem Leben, ihren Erinnerungen und ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Am Schluss des Buches gibt es eine Szene, in der Leichen in einen Brunnen – und Steine auf die Leichen geworfen werden. Deckel zu. Ist das ein gangbarer Weg? Verdrängung hat ja auch nicht funktioniert.„Das mit dem Brunnen, das hat der 16- oder 17-Jährige gemacht. Das ist der Sohn eines der fünf Teilnehmer, und der wollte aufräumen, wollte sich befreien. Die Männer haben das schon getan, nämlich durch den Tod. Nun wollte auch er sich befreien. Er wollte es nicht mehr sehen, er wollte, dass es niemand mehr sieht. Natürlich ist das nicht der Weg. Es ist eine Fiktion, ich wollte es ganz stark machen. Und die Männer haben schon auch versucht, die Erlebnisse zu verarbeiten. Sie sind auf die Insel gekommen und haben geredet. 25 Jahre nach dem Krieg haben Sie sich getroffen und waren endlich bereit darüber zu sprechen.“
„Ich bin tot / Jsem mrtev“ von Zdenek Primus ist 2011 beim Verlag Aula in der Edition „Literární kabinet“ erschienen. Die Ausgabe ist zweisprachig. Am Ende der Audio-Version dieses Beitrags liest der Autor auf Deutsch eine Passage aus seinem Buch.
Dieser Beitrag wurde am 28. Januar 2012 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.