Tschechen, Deutsche, Österreicher und die Rolle von Gesten bei der Aufarbeitung der Vergangenheit

"Staaten haben keine Freunde, Staaten haben nur Interessen." So lautet einer der Stehsätze, die man in politischen Analysen und öffentlich geführten Debatten immer wieder zu hören bekommt. Und sowohl in der Theorie als auch in der Praxis scheint sich diese Aussage immer wieder mühelos bestätigen zu lassen. Theoretisch zum Beispiel deshalb, weil Freundschaft eine sehr individuelle Beziehung darstellt, Staaten aber höchst komplexe Gebilde sind. Und was die Praxis betrifft, so finden wir im tschechisch-deutschen, respektive tschechisch-österreichischen Verhältnis nahezu ein Paradebeispiel für die Wechselhaftigkeit von Interessen und auch für die Instrumentalisierung von Konflikten vor. Über die jüngsten Entwicklungen rund um das historisch belastete Verhältnis zwischen jenen drei Ländern hören Sie den nun folgenden "Schauplatz", den Gerald Schubert gestaltet hat:

Keine Frage: In den tschechisch-deutschen und tschechisch-österreichischen Beziehungen bewegt sich etwas. Und dies bedeutet, fast möchte man sagen logischerweise, zweierlei: Nämlich einen gewissen Fortschritt auf der einen Seite, aber auch das Wiederaufflammen alter und doch noch aktueller Konflikte auf der anderen. Als Katalysator dieser beschleunigten Entwicklung in den jeweils bilateralen Angelegenheiten müssen sowohl die Parlamentswahlen gelten, die dieses Jahr in allen drei Ländern abgehalten wurden, als auch die Tatsache, dass die Europäische Union kurz vor ihrer Erweiterung steht, und auch Tschechien einer der Beitrittskandidaten ist.

Anfang der Woche hat nun der Vizepräsident des tschechischen Senats, Jan Ruml von der liberalen Freiheitsunion, eine neue Episode des Dialogs eröffnet, indem er mit dem Vorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, in den Räumlichkeiten des parlamentarischen Oberhauses zu einem Mittagessen zusammentraf. Anschließend sprach sich Ruml gar für eine Geste der Entschuldigung gegenüber jenen Sudetendeutschen aus, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet der damaligen Tschechoslowakei vertrieben worden waren. Eine solche Geste vonseiten Prags war ja erst kürzlich in einer Erklärung des Europaparlaments als "wünschenswert" bezeichnet worden.

In den folgenden Minuten wollen wir zwei Politiker mit gegensätzlichen Standpunkten zu dieser Frage zu Wort kommen zu lassen. Nämlich Jan Ruml selbst und den Vorsitzenden der tschechischen Abgeordnetenkammer, Lubomir Zaoralek, von den Sozialdemokraten. Beide hat Radio Prag vors Mikrophon gebeten. Beginnen wir mit Jan Ruml und einer Erklärung zu seinem Treffen mit Posselt:

"Ich glaube, zu einer Zeit, in der all die rechtlichen Fragen rund um die Benes-Dekrete und letztlich auch rund um die Eigentumsverhältnisse geklärt sind, wie dies auch aus dem Bericht der EU hervorgeht, sollte es möglich sein, einfach normal miteinander zu sprechen, die gegenseitige Spannung zu enttabuisieren, die Sudetendeutschen und unsere antideutschen Einstellungen zu entmystifizieren und miteinander sehr offen zu reden. Denn in nicht allzu langer Zeit werden wir alle zusammen in der Europäischen Union sein. Die Barrieren müssen fallen, und jeder muss mit jedem sprechen können, wo immer es auch geht, auf allen Ebenen. Das war im wesentlichen das Hauptmotiv für mein Treffen mit Herrn Posselt."

Zur Frage, welche Bedeutung der Beschluss des Europaparlaments, indem Tschechien eine Geste gegenüber den Sudetendeutschen nahegelegt wird, für ihn habe, meinte Ruml:

"Ich glaube, dass man diese Aufforderung zwar übergehen könnte, aber dass dies nicht richtig wäre. Wenn uns das Europäische Parlament dazu auffordert, eine Geste zu setzen, dann sollten wir darüber auch ernsthaft reden."

Was hat nach Rumls Meinung die tschechisch-deutschen und tschechisch-österreichischen Beziehungen zuletzt besonders belastet?

"Ich meine, die tschechisch-deutschen Beziehungen sind durch dieses Superwahljahr ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden, in dem jeder etwas an die Adresse eines anderen sagte. Stoiber in Deutschland an die Adresse der Tschechischen Republik, Zeman und Klaus an die Adresse Deutschlands und Österreichs, Haider an die Adresse aller. Aber nach den Wahlen sollten wir uns doch rational, wie normale Menschen verhalten und in einem etwas anderen Ton miteinander reden können. Ich glaube, dass es durchaus Raum für Erwägungen dieser Art gibt, und den wollte ich mit meinem Treffen mit Posselt einfach öffnen."

Schließlich haben wir Jan Ruml noch auf seine Äußerung angesprochen, der zufolge die außenpolitischen Interessen der Tschechischen Republik auch im Falle einer Versöhnungsgeste Tschechiens im Mittelpunkt stehen müssten. Worin bestehen nach Rumls Meinung diese Interessen vor allem?

"Ich denke, eines der außenpolitischen Interessen Tschechiens ist es, mit den Nachbarn gute Verhältnisse zu haben. Diese gehören sogar zu den Grundpfeilern unserer Außenpolitik, und wir müssen alle Möglichkeiten ausloten, wie man sie sinnvoll gestalten kann. Also in dieser Hinsicht wäre es sicher möglich, über einen Schritt zu sprechen, der die nachbarschaftlichen Beziehungen stärken könnte. Ich habe keine konkrete Vorstellung vom Inhalt einer solchen Geste, oder davon, wann man sie setzen sollte. Ich glaube nur, man sollte dies vor dem Beitritt zur Europäischen Union tun. Denn nachher macht es offenbar nicht mehr viel Sinn."


Einen anderen Standpunkt zur Zukunft der tschechisch-deutschen Beziehungen und zu einer Entschuldigung für nach dem zweiten Weltkrieg begangenes Unrecht nimmt hingegen Abgeordnetenchef Lubomir Zaoralek ein. Wenigstens seine Rhetorik unterscheidet sich grundlegend von der Rumls. Auf den entsprechenden Beschluss des Europaparlaments angesprochen meinte Zaoralek:

"Ich würde nicht sagen, dass dieser Text uns dazu auffordert, eine Geste zu setzen. In dem Text ist eher davon die Rede, dass es passend wäre, wenn die Tschechische Republik über die Möglichkeit einer solchen Geste als ein moralischer Akt nachdenkt."

Zaoralek sieht allerdings auch eine Alternative zu einer einseitigen Erklärung Prags:

"Es gibt in demselben Beschluss des Europaparlaments - und es ist dies ein allgemeiner Text, der nicht nur die Tschechische Republik betrifft - auch noch einen anderen Absatz. Dort wird gesagt, dass es gut wäre, eine europäische Erklärung in Betracht zu ziehen, die sich mit den schmerzhaften Punkten der Vergangenheit, verbunden mit dem Zweiten Weltkrieg, seinem Verlauf und seinen Folgen, auseinandersetzen soll. Mit Verbrechen, Ungerechtigkeit und Leid, zu dem es während dieser Zeit gekommen ist. Dadurch würden alle Seiten, die an diesen Geschehnissen beteiligt waren, sich dazu äußern und dazu Stellung beziehen. Mir scheint dieser Gedanke sehr interessant zu sein. Denn im Gegensatz zu irgendeiner einseitigen Geste wird hier gesagt, dass man nichts aus dem Zusammenhang von Raum und Zeit herausreißen und keine Begebenheit isoliert betrachten sollte. Dass wir nur den gesamten historischen Ablauf behandeln und auch über Ursachen und Wirkungen nachdenken sollten."

Eines ist für Zaoralek jedenfalls klar: Welche Geste auch immer von tschechischer oder gesamteuropäischer Seite gesetzt werden mag, um die Zukunft nicht von ungelösten Fragen der Vergangenheit beeinträchtigen zu lassen: Niemals stünde dabei die Befriedigung der Ansprüche anderer im Mittelpunkt, sondern immer nur die eigene Beschäftigung mit der eigenen Geschichte:

"Ich will über die Geschichte nicht urteilen und über sie sprechen, damit ich jemanden zufrieden stelle. Ich lehne überhaupt diese ganze Denkweise ab. Ich lehne Entschuldigungen, zu denen mich jemand auffordert, ab, und auch ich fordere niemanden auf, sich zu entschuldigen. Denn entweder er entschuldigt sich von selbst, oder nicht. Aber ich werde ihn zu nichts auffordern und auch nichts von ihm verlangen. Denn man sollte sich dessen bewusst sein, dass man damit vom richtigen Weg abkommt."

Denn, so Zaoralek: damit würden die alten Konflikte nur immer wieder neu belebt:

"Wir sind wahrscheinlich nie dazu in der Lage, mit derlei Gesten alle in ausreichendem Maß zufrieden zu stellen. Und damit beginnt nach jeder solchen Geste der ganze Prozess wieder von vorne. Diesbezüglich bin ich mir leider ganz sicher."

Zuletzt griff auch noch Zaoralek die Frage danach auf, was denn eigentlich die Beziehungen zwischen den beteiligten Ländern in letzter Zeit besonders belastet hat. Dort, wo Ruml auf das "Superwahljahr" in Tschechien, Deutschland und Österreich verwiesen hatte, sprach Zaoralek den EU-Beitritt selbst an:

"Wir stehen heute vor dem Beitritt zur Europäischen Union, und dadurch entsteht auch eine Situation, in der es ein letztes Mal möglich erscheint, diese Dinge aufzugreifen. Und gerade vor dem Beitritt ist es ungünstig, dass die Situation für manche nochmals als Anlass für den Versuch dient, die Beziehungen zu anderen Ländern mit dem Hinweis auf die Vergangenheit zu trüben. Das ist unangenehm, denn die EU ist für mich vor allem ein Symbol der Zukunft. Ich bin aber davon überzeugt, dass dies nur eine Episode vor dem Beitritt ist, und dass sich dies mit dem Beitritt ändern wird. Dass wir, als Teil der europäischen Völkergemeinschaft das tun werden können, wozu die Union eigentlich bestimmt ist. Und das ist die Schffung einer gemeinsamen Zukunft."

So gesehen stehen freilich auch Zaoraleks Worte im Zeichen der Überwindung einer schwierigen Vergangenheit und der Schaffung einer von gegenseitigem Vertrauen geprägten Zukunft. Und das war auch nicht anders zu erwarten. Denn immerhin stehen alle Regierungsparteien in Tschechien, unter ihnen also auch die Partei Rumls und die von Zaoralek, einem EU-Beitritt Tschechiens deklariert positiv gegenüber. Umso wichtiger wird es für die Bürger und Bürgerinnen auf beiden Seiten der jetzigen EU-Außengrenzen sein, auch auf die feineren Aspekte der politischen Rhetorik zu achten, um sich ein differenziertes Bild über den Weg der EU in ihre historische Erweiterung zu verschaffen.