Jungautor Jaroslav Rudis: Von Berlins U-Bahnwelt zu schwarz-weißem Dampflokwahnsinn im Sudetenland
In unserem heutigen Kultursalon führt Sie Katrin Sliva in eine schwarz-weiße Bergwelt, die es in sich hat. Unterschiedliche Kulturen begegnen sich dort, sprechen ihre unterschiedlichen Sprachen und bewegen sich zwischen Bahnschienen und Irrenanstalt... Willkommen und viel Vergnügen.
"Unser Hauptheld heißt Alois Nebel. Er ist halb Deutscher und halb Tscheche und ist Fahrdienstleiter auf einem kleinen Bahnhof im ehemaligen Sudetenland. Er hat das Gefühl, dass er ab und zu sieht, was andere nicht sehen können. Deshalb endet er auch in einer Irrenanstalt, wo er seine wirren Geschichten aus dem 20. Jahrhundert, die er erlebt, nicht erlebt oder vielleicht doch erlebt hat, den anderen "Insassen" erzählt. Wir wollten die Geschichte des 20. Jahrhunderts durch die Eisenbahn und diesen Mann betrachten. Das Ganze spielt auf einem realen Bahnhof, der nur anders heißt und auf einer realen Eisenbahnstrecke im Altvatergebirge liegt, und zwar zwischen Jesenik und Hanuschovice. Diese Region ist so reizvoll, künstlerisch und Jaromir stammt aus der Gegend, ich selbst fahre dort sehr gerne hin, dass wir sie als Thema gewählt haben."
Erzählt Jaroslav Rudis, der die Figuren des Comics "Bily potok" das Sprechen gelehrt hat. Jaromir 99 hat die kantigen Figuren gezeichnet. Die Idee zu dem Comic sei irgendwie beiläufig entstanden. Er selbst stamme nun mal aus dem ehemaligen Sudetenland und Jaroslav Rudis aus dessen Nähe, darüber habe man sich regelmäßig unterhalten und irgendwann wurden Vorstellungen zusammengetragen. Welche Vorstellungen konkret von wem stammen, frage ich:
"Jara (Jaroslav) hatte seine Eisenbahn und ich diese Geschichten aus dem Irrenhaus. Die Idee zur Figur des Stummen stammt auch von mir. Außerdem trug ich natürlich die Berge und überhaupt die Gegend in mir."
Der Stumme ist ein finsterdreinblickender Mann, dem Alois Nebel seine Geschichten in der Irrenanstalt erzählt. Ob er sie überhaupt wahrnimmt, weiß niemand, denn er zeigt keine Reaktionen. Und der Stumme wird er deshalb genannt, weil er nicht spricht. Ob gewollt oder nicht, dass sei dahin gestellt.
Bily potok ist ein Comic, der im ehemaligen Sudetenland spielt und somit auch die Geschichte dieses Landstriches streift. Ob das Autorenduo Rudis und Jaromir 99 nicht befürchtet, durch die gewählte Form, dem Comic als Ausdrucksmittel nämlich, negative Reaktionen zu ernten, vor allem von Zeitzeugen?
"Davor haben wir überhaupt keine Angst. Es gibt, oder gab vielleicht für einige tschechische Autoren ein Tabu, überhaupt darüber zu schreiben. Auch in der Schule war das immer so ein Tabu. Man wusste sehr wenig über Deutsche in Tschechien. Man wusste aber auch sehr wenig über die Juden hier. Es ist mehr über die Gegend als über die Menschen dort. Wir haben versucht, etwas mitteleuropäisches zu zeigen, denn, das sagt auch unser Held, Alois Nebel, das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert, das mit den Menschen gespielt hat. Sie wurden abgeschoben, verschoben, zurückgeschoben...In unserem Comic wird tschechisch, deutsch polnisch, und russisch gesprochen und ich meine, das ist genau die Mischung, die Mitteleuropa zu einem bunten Schauplatz macht und sehr reizvoll. Aber es ist überhaupt nicht gegen Sudetendeutsche, über Sudetendeutsche oder für Sudetendeutsche, auch nicht gegen oder für Tschechen. Wie gesagt, die Hauptfigur ist halb Tscheche und halb Deutscher und genau so fühle ich es, wenn ich mich so umgucke, dass das alles ganz schön gemischt ist nämlich. Und das sollten wir nicht vergessen."
Jaromir 99 kehrt nicht nur in diesem Comic ins ehemalige Sudetenland zurück, wo er groß geworden ist. Als Sänger und Texter der Band Priessnitz verarbeitet er die Eindrücke, die er mit sich herumträgt, auch in seinen Songs, und zwar schon seit über einem Jahrzehnt. Auch er fürchtet keine negativen Reaktionen auf den Comic:
"Ich finde, über diese Dinge sollten wir offen reden und dabei der Wahrheit ins Gesicht schauen. Zugeben, dass auf beiden Seiten Dinge geschehen sind, die wohl besser nicht geschehen wären. Ich gehöre der Generation an, der man diese Ereignisse nur sehr oberflächlich erklärt hat und die man "Deutschland feindlich" erzogen hat. Aber weil ich in dem ehemaligen Sudetenland aufgewachsen bin, habe ich viele Sachen allein herausgefunden. Auf Dachböden gab es beispielsweise viel zu entdecken. Ich habe angefangen, mich für diese Geschehnisse zu interessieren. Es gab Zeitzeugen, die man so allerlei fragen konnte und ich habe Bauklötze gestaunt, als ich erfuhr, wie das alles wirklich war."
Die Affinität zu der Schönheit der Berge hindert die Autoren nicht daran, ihre Hauptfigur Alois Nebel in die Großstadt reisen zu lassen. Allerdings erst im nächsten Teil der Nebel-Trilogie:
"Der zweite Teil spielt in Prag, auf dem Prager Hauptbahnhof, und heißt 'Hlavni nadrazi' (Hauptbahnhof) und im dritten kehrt unser Held wieder in die Berge zurück, Dieser Teil heißt 'Zlate hory' nach einer Stadt im Altvatergebirge, die auf deutsch Zugmantel heißt."Jaroslav Rudis' Erstlingswerk war ein Berlin-Roman aus tschechischer Sicht, dessen einzelne Kapitel als Songtexte funktionierten, die von der zunächst fiktiven Band "U-Bahn" gespielt wurden. Und aus der Fiktion musste wohl oder über Realität werden, als sich herausstellte, dass Leser des Romans "Himmel unter Berlin" von der Existenz der Band überzeugt waren und Live-Auftritte forderten. Beim nächsten Mal ist man klüger, Rudis auch, denn diesmal gibt es den Song zum Comic von vornherein. Gespielt wird er von der Band Umakart und das hören wir uns jetzt an:
Zu dem Song soll ein Zeichentrick-Videoclip entstehen. Möglicherweise wird Alois Nebel schon bald in deutscher Sprache erscheinen, Verleger haben bereits Interesse an der Übersetzung bekundet, so die Autoren. Und wen die Neugier gepackt hat, der kann sich einige der Zeichnungen vorab unter www.aloisnebel.com anschauen.
Genug des Nebels für heute. Der Kultursalon schließt aus Zeitgründen für heute. Auf bald.