Der erste Tscheche in der Antarktis
Der 27. Januar 1929 mag in der damaligen Tschechoslowakei ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen sein, doch für einen Tschechen war es ein ganz besonderer. Genau an jenem Tag nämlich betrat Vaclav Vojtech als erster Tscheche die Antarktis. An diesem Tag begann auch die Geschichte der bis heute eher bescheidenen tschechischen Antarktis-Forschungen. Doch einen Rekord halten die Tschechen: 1997 trat Lubomir Brabec als erster Künstler in einem öffentlichen Konzert in der Antarktis auf. Seine Musik hören Sie im heutigen Geschichtskapitel.
Es scheint, dass die weißen Kontinente um den Süd- und den Nordpol eine besondere Anziehungskraft auf bestimmte Menschen ausüben. Vaclav Vojtech zählte zu ihnen. Der 1901 in Ostböhmen geborene Förstersohn wählte bewusst das Studium der Geographie und Geschichte an der Prager Karlsuniversität, denn er hoffte, dass es ihn in die weite Welt führen werde. 1922 verbrachte der Student Vojtech im Auftrag des Tschechischen Landesarchivs einige Monate in Paris. Durch Zufall sah er dort einen Film über die tragische Südpolexpedition von Robert Scott. Die weiße Wüste begeisterte Vojtech und ließ ihn nicht mehr los. In seinem Tagebuch bemerkte er damals:
"Ständig musste ich an den Film denken, Tag und Nacht verfolgte er mich bis nach Prag. Die Sehnsucht nach polaren Landschaften hatte mich erfasst und weiße Landschaften erfüllten mein Denken."
Heute gehört Dagmar Havlova, die Schwägerin von Ex-Präsident Havel, zu jenen Menschen, die von der Antarktis begeistert sind. Bereits viermal war sie dort und schwärmt vom weißen Kontinent:
"Mich fasziniert an der Antarktis am meisten die Reinheit. Eine Reinheit in vieler Hinsicht. Nicht nur die der Luft und der Umwelt, sondern auch die des Geistes. Die Tiere sehen in den Menschen dort noch keine Gefahr. Der Lebensmittelkreislauf funktioniert natürlich und ausgeglichen. Vielleicht liegt es daran, dass es keine ständigen Bewohner in der Antarktis gibt, aber dort gibt es wirklich keine Feindschaft untereinander. Alle helfen sich gegenseitig - nicht nur aus Notwenigkeit. Die Atmosphäre ist dort einfach in vieler Hinsicht sauber und rein."
Für Vaclav Vojtech war es in den 20er Jahren ein gewaltiges Problem, die Antarktis zu erreichen. Wie sollte ein angehender Geograph und Historiker aus einem kleinen Staat in der Mitte Europas es ans andere Ende der Welt schaffen? In der Tschechoslowakei gab es damals niemanden, der hätte helfen können - niemand an der Universität konnte ihn lehren, niemand ihm Ratschläge geben. 1927 erfuhr Vaclav Vojtech, dass der Amerikaner Richard Evelyn Byrd eine Expedition zum Südpol plant. An dieser wollte der Tscheche auf jeden Fall teilnehmen, war es doch die einzige Chance, sein Traumziel zu erreichen.
Es war wohl vor allem Dingen die Sturheit von Vaclav Vojtech, die ihn in die Antarktis brachte. Er bombardierte Byrd mit Briefen und bot ihm seine Dienste an. Auch eine Absage des Amerikaners konnte den Tschechen nicht von seiner Idee abbringen. Was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das wollte er auch in die Tat umsetzen und so schrieb er weiter Briefe an Byrd. Dieser lud ihn daraufhin zu einem Treffen nach Neuseeland ein, wo man alles persönlich besprechen könne. Byrd hoffte wohl, so den nervigen Tschechen endgültig loszuwerden, denn eine Reise nach Neuseeland war in jenen Tagen ein schwieriges Unternehmen. Vojtech jedoch schaffte es, innerhalb einer Woche das Geld für die Fahrt aufzutreiben - unterstützt wurde er von Präsident Masaryk, dem Schuhfabrikanten Bata und einem Prager Verlag. Am 25. September 1928 war Vaclav Vojtech auf dem Weg nach Neuseeland. In seinem Tagebuch vermerkte er:
"Ich fuhr als völlig Unbekannter los, jedoch mit Mut, Kühnheit und Entschlossenheit im Herzen. Ein junger Tschechoslowake hatte sich aufgemacht, die Welt zu erobern."
In Neuseeland erhielt Vojtech zunächst von seinem zukünftigen Chef eine weitere Abfuhr. Doch der starrköpfige Tscheche ließ sich so leicht nicht abwimmeln. Seinen Kampf um einen Platz in der Expedition verfolgte auch die dortige Presse und am 1. Dezember 1928 konnte man in der United Press lesen:
"Kommandeur Byrd hat sich entschieden, Dr. Vaclav Vojtech aus der Tschechoslowakei wegen dessen Ehrgeiz und Entschlossenheit als Mitglied in seine Expedition aufzunehmen."
Zwar war Vojtech nicht als Geograph und Wissenschaftler dabei, sondern als Heizer unter Deck, doch das war dem Antarktis-Besessenen egal. Am 29. Januar 1929 erfüllte sich schließlich sein Traum: Als erster Tscheche betrat Vaclav Vojtech die Antarktis. In seinem Tagebuch beschrieb Vojtech den historischen Moment:
"Kaum war der Anker herabgelassen, stand ich auch schon unten auf dem Eis. Mit Begeisterung und Inbrunst betraten meine Füße den ersten Schnee und das erste Eis des sechsten Kontinents. Am Sonntag, den 27. Januar 1929 gegen sechs Uhr Abends stand der erste Tschechoslowake auf dem Boden der Antarktis."
Für Dagmar Havlova sah die erste Begegnung mit der Antarktis 1997 etwas anders aus:
"Sie ist in vielen Dingen anders, als man denkt. Die meisten stellen sich die Antarktis als weißen Eiskontinent vor. Das stimmt, aber die Antarktis hat auch Randgebiete, die nicht immer verschneit sind. Im Sommer schmilzt der Schnee sogar an manchen Küsten. Dort befinden sich meistens auch die Forschungsstationen, wie die tschechische."
Zur großen Enttäuschung Vojtechs gehörte er damals nicht zu der Mannschaft, die mit Byrd den antarktischen Winter in der neuen Forschungsstation Klein Amerika verbringen und wissenschaftliche Experimente durchführen sollte. Ein knappes Jahr trainierte Vojtech stattdessen in Neuseeland die Hunde, die für die weitere Expedition von Richard Byrd bestimmt waren. Noch einmal durfte der besessene Tscheche die Antarktis betreten, und zwar im Januar 1930 - erneut als Hilfsarbeiter, der beim Ausladen der Vorräte half. Seinen Abschied vom sechsten Kontinent hielt Vojtech in seinem Tagebuch fest:
"Meter für Meter entfernte sich die City of New York von den Eisufern der Antarktis. An Bord standen 69 Männer, die Jungs von Byrd, Freiwillige und Begeisterte, die zwei Jahre ihres Lebens geopfert haben, um ihrer Heimat Ehre und der Wissenschaft Erfolge zu bringen. Ihre Münder verstummten, ihre Augen wurden feucht. War es möglich, dass wir fortmüssen? Die Augen suchten die letzten Spuren des Eises und die Lippen flüsterten: eines Tages werde ich wiederkommen..."
Vojtech kehrte in seine Heimat zurück, wo er zu den bekanntesten Zeitgenossen gehörte. Er hielt Vorträge und veröffentlichte ein Buch mit dem Titel "Als Matrose, Heizer und Hundetrainer in der Antarktis". In der Tschechoslowakei begann Vojtech neue Expeditionen zu planen. Am 6.August 1932 kenterte der Antarktis-Fahrer mit einem Kanu auf der Elbe. Sein Kopf schlug dabei auf einen Stein und er ertrank. Vojtech war 30 Jahre alt.
Es sollte rund 20 Jahre dauern, bis 1959 erneut ein Tscheche die Antarktis betrat. Weitere zehn Jahre später, an Weihnachten 1969 erreichte mit Josef Sekyra der erste Tscheche den Südpol. 1989 entstand die tschechoslowakische Forschungsstation auf der Nelson-Insel in der Südshettland Inselgruppe. Am Programm dieser rein ökologischen Station nahm auch Dagmar Havlova teil:
"Eko-Base Nelson ähnelt in mancher Hinsicht den anderen Forschungsstationen, in anderen nicht. Alle Stationen sind so gebaut, dass sie minimal oder gar nicht die Umwelt beeinflussen. Die Gebäude sehen wie Container aus und stehen auf leicht entfernbaren Fundamenten. Unsere Station ist sehr klein, streng ökologisch und z.T. aus angeschwemmtem Holz gebaut. Drei bis vier Leute können sich dort bequem aufhalten. In unserer Station beobachten wir unter anderem Anschwemmungen. Man kann so Meeresströmungen verfolgen - aus welchen Ländern welche Sachen angeschwemmt werden. Aber jetzt finden wir immer öfter Dosen und anderen Abfall, der von den Touristenschiffen ins Meer geworfen wird. Diese stellen wirklich eine Gefahr für die Antarktis dar."
Vaclav Vojtech kehrte nicht mehr in die Antarktis zurück. Dagmar Havlova plant noch für dieses Jahr ihren bereits fünften Aufenthalt in der tschechischen Forschungsstation auf der Nelson-Insel.