Prag und der deutsche Exodus 1989

Foto: Markéta Kachlíková
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Vor 30 Jahren, im Sommer und Herbst 1989, haben mehrere Tausend DDR-Bürger über die Deutsche Botschaft in Prag den Weg in die Freiheit gesucht. Eine Flüchtlingswelle überflutete damals die Kleinseite in Prag, auf der sich die Botschaft befindet. An die Ereignisse erinnert eine Ausstellung in der Mitte des Kleinseitner Rings. Blanka Mouralová vom Institut zum Studium totalitärer Regimes hat die Schau mitkonzipiert.

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Blanka Mouralová  (Foto: Markéta Kachlíková)
Frau Mouralová, die Ausstellung „Der Weg ist frei! Der deutsche Exodus 1989“ bietet einen Rückblick ins Jahr 1989, konkret in den Spätsommer und den Herbsts damals in Prag. Können Sie kurz zusammenfassen, was sich da auf der Prager Kleinseite abgespielt hat?

„Viele DDR-Bürger suchten damals ein Loch im Eisernen Vorhang. Weil die Tschechoslowakei in jener Zeit das einzige Land war, das man als DDR-Bürger ohne Visum besuchen durfte, kamen im August viele Leute in die Botschaft Westdeutschlands in Prag. Im September waren es schon etwa 4000, die die Ausreise in den Westen erzwingen wollten. Einzigartig an diesen Ereignissen war, dass diese Tausende von Leuten damals deutlich zu sehen waren – in der Botschaft und in den Straßen Prags. Schon früher, seit der Eröffnung der westdeutschen Botschaft in Prag, hatte es immer wieder Flüchtlinge gegeben, die über die Botschaft in den Westen wollten. Aber jetzt war es ein sichtbares Problem. Nach vielen Besprechungen ermöglichte die DDR, dass die Leute in die Bundesrepublik ausreisen durften. Am 30. September bekamen sie die entsprechende Nachricht, vermittelt durch Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher. Dann dachte die DDR, jetzt habe man die Luft aus dem Kessel genommen, jetzt werde es wieder ruhiger. Doch das Gegenteil war der Fall: Nachdem bekannt wurde, über Prag sei die Ausreise möglich, kamen noch mehr Leute. Im Oktober waren wieder 8000 Menschen auf dem Gelände der bundesrepublikanischen Botschaft. Und dann kam noch eine dritte Welle: Anfang November fuhren mehr als 60.000 DDR-Bürger über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik.“

„Einzigartig an diesen Ereignissen war, dass diese Tausende von Leuten damals deutlich zu sehen waren – in der Botschaft und in den Straßen Prags.“

Wie werden die Ereignisse von damals vergegenwärtigt? Auf dem Kleinseitner Ring stehen vier gelbe Ausstellungspanels. Was kann man darauf sehen und lesen?

„Sehen kann man Fotos aus der damaligen Zeit. In erster Linie etwa zwanzig Aufnahmen von Antonín Nový. Er fotografierte auf dem Gelände der Botschaft und dokumentierte damit die Flüchtlingswelle. Weiter gibt es hier Fotografien von der Deutschen Presseagentur. Und es gibt auch Dokumente von der tschechoslowakischen Staatssicherheit und Belege über die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der damaligen Tschechoslowakei und der DDR. Zu lesen ist eine spannende Geschichte von Leuten, die alles auf eine Karte gesetzt haben. Es war keine große Schwierigkeit, über den Zaun in die Botschaft zu kommen. Aber dann erwartete die Leute eine lange Wartezeit, bei der sie das eigene Schicksal nicht mehr in ihren eigenen Händen hielten. Es ist eine Geschichte voller Emotionen und dem Wunsch nach Freiheit, die dann eigentlich direkt zum Fall der Berliner Mauer führte.“

Foto: Markéta Kachlíková
Eine Seite waren die Flüchtlinge, die andere bildeten die politischen Vertreter der damaligen Tschechoslowakei und der DDR. Präsentiert die Ausstellung auch diese offizielle Ebene, das heißt die Verhandlungen zwischen den Staaten über eine Lösung der Situation?

„Wir gehen da in keine großen Details der politischen Verhandlungen. Was wir aber zeigen, sind die Grundmotivationen und Grundpositionen der einzelnen Staaten. Die DDR und die ČSSR waren im Frühjahr 1989 zu engsten Verbündeten geworden, weil sie konservativ waren im Gegensatz zu Polen und Ungaren, wo es zu ernsthaften demokratischen Reformen kam. Jetzt war dieses Bündnisses auf Probe gestellt. Die DDR wollte ihr 40-jähriges Bestehen großartig feiern und damit nochmal die Kraft des Regimes und des Staates präsentieren. Für sie war es schwierig, dass es zu diesen Problemen mit der Flüchtlingswelle kam, über die auf den ersten Seiten der Weltmedien berichtet wurde. Für die Tschechoslowakei war es einfach ein großes, sichtbares Problem, ein Zeichen des Bankrotts eines Verbündeten. Die Staatsspitzen waren offiziell solidarisch mit der DDR, ließen die DDR mit der Bundesrepublik verhandeln und mischten sich da nicht ein. Sie haben nicht – wie es die Ungarn gemacht hatten – direkt mit der Bundesrepublik verhandelt, sondern haben dies als innerdeutsche Angelegenheit wahrgenommen. Unter dieser formalen Prämisse übten sie aber immer stärkeren Druck auf Ost-Berlin aus. Sie hatten Angst vor einem Bündnis zwischen den DDR-Flüchtlingen und der tschechoslowakischen Opposition und wollten das Problem einfach loswerden. Am Ende spricht man sogar von einem Ultimatum aus Prag.“

Die Einwohner Prags erinnern sich bis heute vor allem an unzählige Trabbis, die die Botschaftsflüchtlinge hier zurückließen. Wird auch dieses Symbol in der Ausstellung thematisiert?

„Die Staatsspitzen waren offiziell solidarisch mit der DDR. Unter dieser formalen Prämisse übten sie aber immer stärkeren Druck auf Ost-Berlin aus. Sie wollten das Problem einfach loswerden.“

„Der Trabbi ist eins der grafischen Symbole der Ausstellung. Zwei der 16 Panels sind diesem Thema gewidmet. Das hilft den Leuten zu verstehen, was es für die DDR-Bürger damals bedeutete, ihr eigenes Auto einfach so zurückzulassen. Man muss sich vorstellen, eine Familie musste ein halbes Jahr verdienen, um einen Trabbi kaufen zu können, und die Wartezeiten für einen neuen Wagen betrugen etwa zehn Jahre. Es bedeutete also schon etwas, einen Trabbi zu haben. Die Leute hatten ihre Trabbis ohne Bedenken hier auf der Straße gelassen, weil sie alles auf die Karte setzten und in die freie Welt wollten. Im Gegensatz zu diesen Menschen waren die Trabbis aber ein wichtiges Thema für die Staatssicherheit und für die Verhandlungen zwischen der Tschechoslowakei und der DDR. Aus Ungarn zum Beispiel wurden die Autos über die Grenze den Flüchtlingen hinterhergefahren. Das hat die Tschechoslowakei nicht gemacht. Der Staat organisierte eine Rücküberführung der Trabbis in die DDR. In den Zeitungen von damals lässt sich lesen, wie schwierig die Lage war, als auf der Prager Kleinseite 1600 zurückgelassene Autos standen.“

„Der tschechoslowakische Staat organisierte eine Rücküberführung der Trabbis in die DDR.“

Die Ausstellung ist noch bis zum 1. Oktober 2019 auf dem Kleinseitner Ring zu sehen. Am 28. September wird sie im Rahmen des „Festes der Freiheit“ durch die „Zweite Historische Sternfahrt der Freiheit 2019“ ergänzt. Was kann man sich darunter vorstellen?

„Die Sternfahrt wird von der Deutschen Botschaft in Prag organisiert. Eine Menge heutiger Trabbi-Besitzern kommen mit ihren Autos aus Deutschland nach Prag und werden dann auf dem Kleinseitner Ring Station machen. In der Botschaft wird gleichzeitig ein ‚Tag der offenen Tür‘ veranstaltet, an dem auch damalige Flüchtlinge teilnehmen.“

Foto: Markéta Kachlíková

Die Deutsche Botschaft in Prag lädt am Samstag, den 28. September, von 14 bis 19 Uhr zum „Fest der Freiheit“ in ihre Räumlichkeiten ein. Aktuelle Informationen und das Programm finden Sie mehr unter: www.prag.diplo.de/1989-Programm.