140 Jahre Sokol
Von Kathrin Bock.
Der Sokol - zu deutsch Falke - ist keine gewöhnliche Turnvereinigung. Mit seiner Geschichte und seiner nationalen Ausrichtung war er ein wichtiger Bestandteil der tschechischen Geschichte des späten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gegründet während der Zeit der tschechischen nationalen Wiedergeburt Mitte des 19. Jahrhundert, stand der Sokol stets sowohl für die Ideale der französischen Revolution wie auch für die der nationalen Unabhängigkeit der Tschechen. Kein Wunder, dass der Sokol immer wieder von der Obrigkeit verboten wurde. Aber lassen Sie uns nun einen etwas ausführlicheren Blick auf die 140 jährige Geschichte dieser tschechischen Turnbewegung werfen.
Für den 16. Februar 1862 hatten einige Vertreter der tschechischen Nationalbewegung zur Gründung eines nationalen Sportvereins aufgerufen. Das war die Geburtsstunde des grössten tschechischen Turnvereins, der einen nicht unbedeutenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte der Tschechen hatte.
Gründungsväter waren der aufgeklärte Geschäftmann Jindrich Fügner und der Kunsthistoriker Miroslav Tyrs. Fügner reiste viel in Europa, beherrschte einige Sprachen und traf bedeutende Persönlichkeiten seiner Zeit. Er war es, der nach Vorbild des italienischen Freiheitskämpfers Garibaldi rote Hemden für die Tracht der Sokolmitglieder einführte, der, von den Ideen der französischen Revolution beeinflusst, den Sokol als demokratischen Verein aufbaute, in dem sich alle dutzten und als "Bruder" anredeten. Nicht zuletzt war es auch Fügner, der den Sokol sowie den Bau der ersten Sporthalle in Prag finanzierte.
Miroslav Tyrs hingegen verfasste die ersten Anleitungen für Turnübungen und veröffentlichte unter dem Titel "Unsere Aufgabe, Richtung und Ziel" die Grundsätze des Sokols. Tyrs verband dabei Körperertüchtigung mit den Ideen des nationalen Freiheitskampfes der Tschechen. Zudem erfand Tyrs die tschechische Terminologie für Gymnastik und Turnen, die bis dahin nicht existierten. Die von Tyrs eingeführten Wörter sind bis heute gebräulich.
Anlässlich des 20. Geburtstages des Sokols fand 1882 auf der Schützeninsel in Prag das erste landesweite Treffen des Sokol statt. 750 Sokolmitglieder führten öffentlich ihre Turnübungen vor. Das war die erste öffentliche Massenturnveranstaltung in den Böhmischen Ländern überhaupt, der weitere und weitaus grössere folgen sollten. Das für 1887 geplante zweite Sokoltreffen wurde allerdings von den Habsburger Behörden verboten - diese waren sich des nationalen, antideutschen Charakters des Turnvereins wohl bewusst. Doch bereits 1891 fand das nächste Sokoltreffen in Prag statt, diesmal nahmen auch Sokolmitglieder aus Amerika teil. Längst hatten Tschechen, die ausgewandert waren, in aller Welt Sokolvereine gegründet. Auch in den slawischen Bruderstaaten waren Sokolvereine gegründet worden, Ende des 19. Jahrhunderts gab es nicht nur in Polen, Bulgarien, Serbien und Russland Sokolvereine, sondern auch in den den USA und Südamerika. Die Sokolmitglieder aus den USA sollen 1891 in Prag mit ursprünglich indianischen Waffen vorgeturnt haben, die von da an als kuzelky - Kegeln in keiner Turnvorführung des Sokol fehlen durften.
Auch wenn bereits 1869 die erste Frauen- und Mädchenabteilung gegründet wurde, durften diese erst 1901 erstmals öffentlich vorturnen. Die landesweiten Sokoltreffen wuchsen von Jahr zu Jahr an. Während beim ersten Sokoltreffen 1882 720 Mitglieder aktiv mitgemacht hatten, waren es 1912 beim letzten Sokoltreffen vor dem Ersten Weltkrieg bereits über 35.000.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann ein neues Kapitel in der Geschichte des Sokols - die Habsburger Behörden verboten den Sokol, seine Mitglieder jedoch kämpften getreu ihren Idealen von nationaler Freiheit und Demokratie auf Seiten der westlichen Alliierten in den tschechoslowakischen Legionen für einen unabhängigen tschechoslowakischen Staat.
Während der Zwischenkriegszeit erlebte der Sokol in der Ersten Tschechoslowakischn Repubik seine Blütezeit. Mit seinen Idealen und Traditionen gehörte er zu den Grundpfeilern der jungen Republik. 1920 hatte der Sokol über 500.000 Mitglieder, 1938 waren es über eine Millionen. Das heisst, jeder zehnte Tscheche oder Slowake war Mitglied des Turnvereins. Der Sokol besass nicht nur Turnhallen und Sportplätze, sondern auch Kinos, Theater und Hotels, denn er sah seine Aufgabe nicht nur in der Stärkung des Körpers, sondern auch des Geistes. Der Sokol trug so zum allgemeinen geistigen Klima im Lande ebenso bei wie zur Entwicklung des Sports. Der erste Olympiasieger der Tschechoslowakei, der 1924 die Goldmedaille im Seilklettern erhielt, war Sokolmitglied, ebenso wie Alois Hudec, Olympiasieger an den Ringen von 1936.
Die grossen landesweiten Treffen fanden nun regelmässig alle sechs Jahre statt. Das erste, 1920, war eine grosse Feier der Unabhängigkeit des Staates - das letzte, im Juli 1938, eine Massendemonstration des Willens der Tschechen, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Edvard Benes, 1938 Präsident der Tschechoslowakei, würdigte anlässlch dieses Sokoltreffens dessen Bedeutung für die tschechische Geschichte in einer Ansprache:
"Der Aufstieg unseres Volkes ist ohne den Sokol, ohne dessen Gedankengut unvorstellbar. Spricht man über die Geschichte unseres Volkes in den letzten 50 Jahren, so muss man auch über den Sokol sprechen. Ohne Tyrs, ohne Fügner, ohne Sokol-Turnhallen, ohne Sokol-Lieder ohne die wunderbaren Sokoltreffen sind die vergangenen 80 Jahre unseres nationalen Lebens unvorstellbar, ist Prag ebenso unvorstellbar, wie die Städte und Dörfer unseres Landes - ja selbst die Seele unseres Volkes. Den starken Glauben an die Demokratie, an die Gleichheit der Nationen und Bürger, an die Treue zur Nation - diese Ideen haben wir vom Sokol."
Soweit Präsident Edvard Benes 1938, der ebenso wie sein Vorgänger im Präsidentenamt Tomas Masaryk Mitglied des Sokols war.
Im Vorfeld des Sokoltreffens 1938 wurde eine Rundfunksendung ausgestrahlt, die sich u.a. mit der Besonderheit dieser Massentreffen beschäftigte:
"Ein slet, ein Sokoltreffen, ist in seiner letztendlichen Ausführung etwas spezifisch Tschechisches, heute Tschechoslowakisches, eine so mächtige Tradition, die schon allein durch das Wort "slet" - Sokoltreffen - märchenhafte Assoziationen weckt - und das nicht nur bei Sokolmitgliedern, sondern auch bei der Mehrheit des Volkes. Ein Sokoltreffen treibt die Sokolmitglieder zu Höchstleistungen an, zur Selbstaufgabe und starkem Willen. Es vermag Probleme und Hindernisse, die für unüberwindbar gehalten werden, zu beseitigen"
Am Sokoltreffen im Sommer 1938 nahmen über 350.000 Turner und Turnerinnen teil. Die Massenszenen mit starkem, nationalen Charakter, hatten Titel wie "Kämpfen und Verteidigen" und drückten den Willen aus, gegen den Faschismus zu kämpfen. Doch diese letzte grosse Massendemonstration der Tschechen und Slowaken vor dem Münchner Abkommen vom Herbst 1938 blieb ohne Wirkung auf die Weltpolitik.
Mit der Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren im März 1939 setzte die Verfolgung der Sokolmitglieder ein, der Sokol wurde verboten. Wie bereits während des ersten Weltkriegs waren auch jetzt die meisten Sokolmitglider Mitglieder des Widerstands, kämpften auf Seiten der Allierten gegen den Faschismus - hunderte wurden verhaftet, in Konzentrationslager verschleppt, 35 von ihnen hingerichtet.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte der Sokol eine erneute kurze Blütezeit. Das letzte grosse Sokoltreffen fand im Sommer 1948 statt, vier Monate nach der Machtergreifung der Kommunisten. 500.000 Turnerinnen und Turner demonstrierten damals ihre Unzufriedenheit mit den politischen Veränderungen und äusserten ihre Sympatien für den kurz zuvor zurückgetretenen Präsidenten Edvard Benes. Noch während des Sokoltreffens wurden die ersten Mitglieder verhaftet. Kurz darauf setzte eine grosse Verhaftungswelle ein - im Laufe der Jahre wurden 75.000 Sokolmitglieder verhaftet. Der Sokol wurde 1952 verboten und enteignet - 1200 Sporthallen, 1.800 Sportstadien, 100 Schwimmbäder und über 200 weitere Gebäude wie Kinos, Theater und Hotels wurden Staatseigentum. 100e Sokolmitglieder emigirierten und gründeten in ihren neuen Heimaten Sokolvereine. Am grössten waren diese in den USA, aber auch in Australien, Südamerika, Südafrika, in fast allen westeuropäischen Ländern entstanden Sokolgemeinden, die die Tradition weiterführten, zu Treffen und Massenturnveranstaltungen einluden.
Nach der Samtenen Revolution wurde der Sokol Anfang Janaur 1990 in Prag wieder ins Leben gerufen, einige seiner Gebäude hat er bereits zurückerhalten. Die Mitgliederzahl liegt inzwischen bei über 180.000. Am ersten grossen Sokoltreffen nach 46 Jahren nahmen 1994 über 23.000 aktive Turnerinnen und Turner teil. Doch die Blütezeit des Sokols ist vorbei. Ältere Tschechen und Tschechinnen erinnern sich mit Wehmut an die grossen, eindrucksvollen Sokoltreffen, an die Bedeutung, die der Sokol im gesellschaftlichen Leben der Zwischenkriegszeit gespielt hatte - in jedem Städtchen, fast in jedem Dorf stand eine Sporthalle des Sokols. Diese Zeiten sind vorbei, den jüngeren Generationen, die ohne Sokol aber mit verhassten Massenturnveranstaltungen der Kommunisten, den sog. Spartakiaden, aufgewachsen sind, sind heute viele Ideale und Ideen des Sokols fremd. Doch diese Turnvereinigung wird stets ihren Platz in der Geschichte der Böhmischen Länder haben.