20 Jahre Tschernobyl: Die Katastrophe aus tschechischer Sicht

In wenigen Wochen jährt sich die Atomkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl zum zwanzigsten Mal. Wie stark war die damalige Tschechoslowakei vom radioaktiven Fallout betroffen? Wie sah die Informationspolitik der kommunistischen Regierung in Prag aus? Und welche Möglichkeiten der kernkraftfreien Energiegewinnung hat künftig die Tschechische Republik? Diesen und ähnlichen Fragen widmete sich vor kurzem eine internationale Konferenz in Prag. Gerald Schubert war dabei.

Tschernobyl, 26. April 1986, 1.23 Uhr: Die nukleare Kettenreaktion in einem Reaktor des Kernkraftwerks gerät außer Kontrolle. Sekunden später gibt es auf dem Gelände eine gewaltige Explosion, die mittlerweile ihren festen Platz in den europäischen Geschichtsbüchern hat. Die nukleare Strahlung kennt keine Grenzen, bald schlugen auch die Geigerzähler westlich des Eisernen Vorhangs an, der damals noch den Kontinent teilte. In Skandinavien, Deutschland, Österreich und anderen westlichen Staaten versuchten Experten, der Ursache möglichst rasch auf die Spur zu kommen, um gegebenenfalls Warnungen für die Bevölkerung aussprechen zu können.

Wie viele Tote der Super-GAU von Tschernobyl letztlich forderte, das weiß niemand genau. Die Langzeitwirkung der radioaktiven Strahlung ist nur schwer abzuschätzen. Wie aber sah es mit der Informationspolitik der kommunistischen Regierung in Prag aus? Durfte die Katastrophe in der damaligen Sowjetunion überhaupt in die tschechischen Medien gelangen? Dana Kuchtova von der Anti-Atomkraft-Initiative "Südböhmische Mütter" erinnert sich:

"Die damalige kommunistische Regierung hat Informationen verheimlicht. Die erste Mitteilung lautete: Es gibt keine erhöhte Radioaktivität, die Gebiete sind nicht kontaminiert. Nachdem die Medien dann fünf Tage lang geschwiegen haben, kam die Meldung, dass die nicht existierende Radioaktivität plötzlich sinkt. Das zeigt die Verlogenheit des damaligen Regimes. Die Menschen wurden im Unterschied zu Österreich, Polen oder Ungarn nicht informiert. Über die Medien kamen zunächst keinerlei Hinweise darauf, dass die Leute nicht ins Freie gehen oder keine Milch trinken sollen, und dass sie zum Beispiel beim Gemüse wirklich aufpassen müssen, weil es radioaktiv verseucht sein könnte. All diese Informationen haben tschechische Experten für unwichtig gehalten. Erst am 6. Mai wurde der tschechischen Bevölkerung mitgeteilt: Es ist nichts Dramatisches passiert, aber es ist nötig, das Gemüse abzuwaschen und eine gewisse Hygienestandards einzuhalten. Da war es aber bereits zu spät."

Windrichtung und Niederschlagsmengen bestimmten in jenen Tagen, wie viel Radioaktivität die Landstriche Europas jeweils abbekommen. Von den schlecht informierten Tschechen hatten vor allem die noch Glück im Unglück, die in den nordwestlichen Teilen der Republik lebten, meint Kuchtova:

"Die Gebiete, in denen es am meisten geregnet hat, liegen in Nordmähren, Südmähren, Mittelböhmen und Südböhmen, sowie in Oberösterreich und Bayern."

Die geographische Verteilung des atomaren Niederschlags hat auch in der tschechischen Geburtenstatistik ihre Spuren hinterlassen, sagt Miroslav Peterka vom Institut für experimentelle Medizin der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Normalerweise nämlich kommen hierzulande auf 100 neugeborene Mädchen 105 Jungen. Normalerweise. Denn vor zwei Jahren haben Peterka und seine Mitarbeiter herausgefunden, dass im November 1986, also sieben Monate nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, statistisch gesehen um 450 Jungen zu wenig geboren wurden.

Die Experten begannen daraufhin zu untersuchen, in welchen Teilen der heutigen Tschechischen Republik diese Unregelmäßigkeit auftrat, und ob es dabei irgendeinen Zusammenhang mit der Intensität der Strahlung gibt. Und tatsächlich: Lediglich in West- und Nordböhmen war der Anteil an männlichen Babys auch im November 1986 normal. Also just dort, wo am wenigsten atomarer Fallout niedergegangen war. Miroslav Peterka:

"Wir können sicher sein, dass es sich dabei nicht um eine zufällige Laune der Statistik handelt. Denn der Vergleichszeitraum erstreckt sich von 1950 bis 1999, also über 50 Jahre respektive 600 Monate. Und in all diesen 600 Monaten hat es diese Unregelmäßigkeit nur ein einziges Mal gegeben: Im November 1986."

Peterkas Team erklärt das Phänomen damit, dass männliche Embryos gegenüber äußeren Störfaktoren generell anfälliger sind als weibliche. Offensichtlich, so die Schlussfolgerung, hat die erhöhte Radioaktivität gerade bei jenen Frauen überdurchschnittlich viele Fehlgeburten ausgelöst, die zum Zeitpunkt der Katastrophe im dritten Schwangerschaftsmonat waren. - Sieben Monate später kamen 450 Jungen zu wenig zur Welt.


Dana Kuchtova von den "Südböhmischen Müttern" ist auch stellvertretende Parteivorsitzende der tschechischen Grünen, die laut derzeitigen Umfragen im Juni erstmals den Sprung ins Parlament schaffen könnten. Welche Zukunft sieht sie für die Energiepolitik in Tschechien, wo es mit Temelin und Dukovany derzeit zwei Kernkraftwerke gibt?

"Die grünen Parteien allgemein und die tschechischen Grünen genauso halten die Atomkraft für eine nicht nachhaltige Energiequelle. Die Zukunft liegt sicher nicht darin, dass wir weitere Atomkraftwerke bauen. Zurzeit hat Tschechien genug Energie. Wir sind pro Kopf der zweitgrößte Exporteur von elektrischer Energie in Europa - gleich nach Frankreich. Diese Situation zeigt, dass wir die Atomkraftwerke Temelin oder Dukovany eigentlich nicht gebraucht haben. Der Grund für den Bau dieser Kraftwerke war rein der kommerzielle Gewinn."

Experten erwarten allerdings einen immer weiter ansteigenden Stromverbrauch. Außerdem soll die Abhängigkeit vom Erdöl reduziert werden - nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch deshalb, weil die Ölvorräte der Erde begrenzt sind. Kann Tschechien seinen Energiebedarf langfristig überhaupt ohne Kernkraft decken? Dana Kuchtova:

"Wir müssen sehr gut überlegen, wie die Szenarios der Zukunft aussehen sollen. Es gibt Szenarios mit neuen Atomkraftwerken, es gibt Szenarios mit neuen Kohlekraftwerken. Es gibt aber auch Szenarios mit erneuerbaren Energiequellen. Und der massive Ausbau dieser erneuerbaren Energiequellen ist der Weg, den die Grünen bevorzugen."

Atomkraft-Gegner haben es derzeit in Tschechien aber nicht gerade leicht. Je mehr Kritik nämlich auch im Ausland an den tschechischen Kernkraftwerken geübt wird, desto größer wird die Gefahr, dass eine energiepolitische Debatte letztlich zu einer Frage der nationalen Ehre hochstilisiert wird - und zwar unter eifriger Mitwirkung von Boulevardmedien auf beiden Seiten der Grenze. Dass die Argumente der tschechischen Umweltschützer dabei unter die Räder kommen könnten, das glaubt Dana Kuchtova aber nicht:

"Dass auch Österreicher und Bayern gegen das südböhmische Atomkraftwerk Temelin protestieren, das halten wir für ganz normal. Die Menschen im Ausland haben ein Recht darauf, gegen etwas zu protestieren, das sich - zum Beispiel im Falle eines Unfalls - auch auf sie auswirken könnte. Ein Problem besteht nur dann, wenn nationale Töne gespielt werden. Das war zum Beispiel bei Jörg Haider der Fall, der immer wieder betont hat, dass gerade das tschechische Atomkraftwerk Temelin schlecht ist. Manchmal treten auch in Bayern einige Politiker gegen Temelin auf, nicht aber gegen die Atomkraftwerke im eigenen Land. Wir glauben, man sollte entweder gegen alle Kraftwerke sein - oder man sollte nicht kritisieren."