Alle Jahre wieder – Dobruška war für einen Monat der Nabel der Welt
Das beschauliche Dobruška im Nordosten Böhmens wird jeden Sommer für einen Monat zum Nabel der Welt, zum Nabel der „tschechischen Welt“ um genau zu sein. Dann nämlich, wenn dort die Sommer-Tschechischkurse stattfinden. Die Teilnehmer kommen aus aller Herren Länder und haben doch – abgesehen davon, dass sie alle Tschechisch lernen - eine große Gemeinsamkeit.
„In diesem Jahr sind hier 35 Staaten vertreten, plus Palästina, das noch kein anerkannter Staat ist. Das heißt die Teilnehmer kommen aus 36 Regionen der Welt“, sagt Daniel Křivánek, der Leiter der Sommerkurse in Dobruška.
Alle Teilnehmer haben eines gemeinsam: Sie lernen Tschechisch. Und noch etwas haben alle gemeinsam: Sie sind Tschechen oder haben tschechische Wurzeln. Deshalb müssen die meisten von ihnen für die Kurse in Dobruška auch nichts bezahlen. Ihren Tschechischunterricht bezahlt die tschechische Regierung, die jedes Jahr 60 Stipendien an Tschechischstämmige in aller Welt vergibt. Schon seit 19 Jahren treffen sich Dobruška jeden Sommer für einen Monat die ausgewählten Stipendiaten, zu dieser ganz besonderen Sommerschule.
Die 21-jährige Studentin Lina Grübler kommt aus Deutschland und hat gerade erst angefangen, Tschechisch zu lernen:„Meine Mutter ist Tschechin. Ich bin nie dazu gekommen, Tschechisch zu lernen, weil ich mit Englisch und Deutsch aufgewachsen bin und meine Eltern dachten, zusätzlich noch Tschechisch wäre einfach zu viel. Das ist ja auch keine einfache Sprache. Ich bin nun hier, weil ich es doch endlich in Angriff nehmen wollte, Tschechisch zu lernen.“
Nach den ersten vier Wochen Tschechisch-Unterricht könne sie zwar nicht behaupten tschechisch zu sprechen. Zumindest ein paar grammatikalische Grundlagen habe sie aber gelernt, so Lina Grüblers Fazit am Abschlusstag der diesjährigen Kurse in Dobruška.
Auch Hans-Günther Schönherr aus Dresden hat gerade erst begonnen Tschechisch zu lernen. Hans-Günther Schönherr hat zwar keine direkten Wurzeln in Tschechien, aber doch starke familiäre Beziehungen zum Nachbarland:„Ich hatte mir vorgenommen mit zunehmendem Alter eine weitere Sprache zu lernen, um damit auch die grauen Zellen ein bisschen fit zu halten. Der zweite Grund ist, dass meine Tochter in Tschechien arbeitet und in diesem Jahr einen Tschechen geheiratet hat. Aber seine Eltern können kein Wort Deutsch, und deshalb kann ich mit ihnen überhaupt nicht unterhalten. Da steckt also ein privater Grund dahinter, der das eine mit dem anderen verbindet.“
„Alle Sprachen sind schwer, aber Tschechisch ist noch schwerer als alle anderen“, sagt lachend Ovídio Hillebrand. Er ist von weit her nach Dobruška zum Tschechischlernen gekommen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn tschechische Wurzeln hat er streng genommen nicht. Er kommt aus Nova Petrópolis im Süden Brasiliens, einem der Orte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwiegend von Deutschen besiedelt wurden. Ovídio Hillebrands Vorfahren waren Sudetendeutsche aus der Gegend um Frýdlant / Friedland in Nordböhmen. Sein Urgroßvater wanderte im Jahre 1877 mit seiner Familie nach Brasilien aus, um dem fünfjährigen Militärdienst in der österreichisch-ungarischen Armee zu entfliehen. Schon als Kind sei er fasziniert gewesen von dem Inhalt der großen Holzkisten, mit denen seine Vorfahren ihr Hab und Gut nach Übersee verschifft hatten, erzählt Ovídio Hillebrand. Fotos, Postkarten, Briefen, amtliche Dokumente – das alles ist nun sogar in einem Familienmuseum im fernen Brasilien zu sehen:
„In dem Museum geht es um die Geschichte und um unsere Vorfahren, aber hauptsächlich geht es um die Tschechische Republik heute. Die Geschichte der Menschen ändert sich, und die alte Heimat unserer Ahnen liegt eben heute in der Tschechischen Republik. Wir wollen eine enge Freundschaft schließen mit den Menschen, die heute hier leben. Und deshalb lerne ich auch Tschechisch.“Über das tschechische Konsulat in seiner Heimat habe man sogar Tschechischunterricht für viele weitere Sudetendeutsche in seiner Region organisiert. Erst vor wenigen Tagen sei eine Lehrerin aus Tschechien nach Südbrasilien geflogen, die dort zunächst bis Dezember unterrichten wird, erzählt Ovídio Hillebrand stolz. Er selbst hat vor seiner Anreise nach Dobruška nur wenige Unterrichtsstunden genommen und sich die meisten Grundlagen im Selbststudium zu Hause angeeignet.
Nur etwa ein Drittel der Schüler in Dobruška sind wirklich blutige Anfänger, erzählt Kursleiter Daniel Křivánek.
„Die anderen haben schon fortgeschrittene Tschechischkenntnisse, und bei einigen kann man fast nur am Akzent erkennen, dass sie keine geborenen Tschechen sind.“
Zu ihnen gehört zweifellos Mariam Farhatová aus dem Libanon. Geboren ist sie im Kuwait. Derzeit studiert sie in Salzburg Politikwissenschaft und Germanistik. Auf die Kurse in Dobruška hat sie ihre tschechische Mutter aufmerksam gemacht, die wiederum an der tschechischen Botschaft in Beirut davon erfahren hatte.„Sie meinte, dass ich nicht gut genug bin. Ich kann zwar ganz gut sprechen, aber ich kann die Grammatik nicht, und ich kann nicht gut schreiben. Deshalb habe ich mir gedacht, so ein Kurs wäre vernünftig.“
Ihre beeindruckend guten Tschechischkenntnisse stellte Mariam Farhatová auf der feierlichen Abschlussveranstaltung der Sommerschule unter Beweis, auf der sie die Dankesrede der Schülerschaft halten durfte:
„Dobruška wird immer in unseren Herzen bleiben. Wunderschöne vier Wochen waren es hier. Ein herzliches Dankeschön auch an die Einwohner von Dobruška, die uns hier so freundlich aufgenommen haben!“
Davon, dass die Dankesfloskeln keine leeren Worthülsen waren, konnte man sich beim tränenreichen Abschied aus Dobruška überzeugen. Ein letztes Mal sangen die gut 60 Schüler noch gemeinsam tschechische Lieder. Dann machten sie sich wieder auf den Weg in ihre Heimatländer. Im nächsten August feiert die Sommerschule ihren 20. Jubiläumsjahrgang. Wie es danach weitergeht mit den Kursen in Dobruška ist noch unklar. Die Sparmaßnahmen der tschechischen Regierung in der Wirtschaftskrise bedrohen auch die Finanzierung der Sommerschule.
Fotos: Milena Štráfeldová