Als Lizzi Kritzel in der Kinderwiese – die Publizistin Alice Rühle-Gerstel
Vielleicht war Alice Rühle-Gerstel zu vielfältig und widersprüchlich und ist deshalb heute fast vergessen. Die Tochter eines Prager Möbelfabrikanten wurde trotz ihrer großbürgerlichen Herkunft zur Kommunistin. Sie war Krankenschwester im Ersten Weltkrieg, Erzieherin bei einem österreichischen Adelshaus und gründete später einen eigenen Verlag in Dresden. Alice Rühle-Gerstel schrieb Romane, Feuilletons und wissenschaftliche Arbeiten zur Individualpsychologie, zum Feminismus und Marxismus. Mit ihrem Mann, dem Politiker Otto Rühle, flüchtete sie in den 1930ern vor den Nazis zurück nach Prag. Dort betreute sie als „Lizzi Kritzel“ die Kinderseiten des Prager Tagblatts.
„Siebenundzwanzig Jahre war meine Bibliothek, als sie aufhörte zu sein. Ich weiß nicht, welchen Tod sie gestorben ist. Ich war nicht dabei, als die Totengräber sie holen kamen, sonst hätte ich wohl denselben Weg gehen müssen. Man hat sie auf einem Lastauto weggeschleppt. In eine SA-Kaserne oder auf den Scheiterhaufen? Oder in die Hände vieler unbekannter Feinde? Ich weiß es nicht. Sie ist nicht mehr zu Hause, wo sie war, in ihren Regalen, ihren Schränken, nicht mehr Gast auf Tischen, wo sie nicht hingehörte, auf dem Klavier, auf dem Küchenherd sogar. Sie ist verloren.“
„Alice Gerstel hat Abitur gemacht, eine ganz klassische Höhere-Töchter-Ausbildung genossen. Dann hat sie in Prag Germanistik und Philosophie studiert. Nach ein oder zwei Semestern ging sie nach München, wo sie das Studium fortsetzte und eine Promotion über Friedrich Schlegel abschloss. In München hat sie aber auch die Individualpsychologie und den Marxismus kennengelernt. Sie hat sich also als großbürgerliche Intellektuelle den marxistischen Theorien sowie Alfred Adlers Individualpsychologie genähert. Sie hat sich auch einer Therapie unterzogen, damit sie individualpsychologisch arbeiten kann. Und sie begann in München, sich mit Feminismus auseinander zu setzen.“
Die Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie wird intensiver, als Alice Gerstel den 20 Jahre älteren Politiker Otto Rühle kennenlernt. Der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete ist ein Querdenker in der deutschen Linken. Wegen der Kriegskredite hat er die SPD verlassen, findet jedoch auch bei der KPD und den Rätekommunisten keine politische Heimat. Alice Gerstel und Otto Rühle heiraten 1921 und lassen sich in Dresden nieder. Dort gründen sie mit Hilfe von Alices Aussteuer den Verlag „Am anderen Ufer“. Beide versuchen in ihren Schriften den Marxismus mit der Individualpsychologie von Alfred Adler zu verbinden. Jana Mikota:„Dann erschien Alice Rühle-Gerstels große Schrift ‚Das Frauenproblem der Gegenwart‘, in dem sie sich auch mit feministischen Fragestellungen auseinandersetzte, die nach 1945 von Simone de Beauvoir und Judith Butler wieder aufgegriffen wurden. Sie gab gemeinsam mit Otto Rühle zwei Zeitschriften heraus, in denen sie sich mit dem proletarischen Kind beschäftigte. Daneben hielt sie auch noch Volkshochschulkurse und gab Fortbildungen für Arbeiter. Zwischendurch hat sie immer wieder individualpsychologisch gearbeitet. Es war also eine ganz große Bandbreite.“
Als die Nationalsozialisten in Deutschland immer mehr Zulauf erhalten, verlassen Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle Dresden.„Sie sind schon 1932 gegangen, weil sie sich keine Illusionen machten, weder über Stalin noch über Hitler. Sie beschlossen, nach Prag zurückzukehren. Dort hat sich Alice Rühle-Gerstel sehr schnell eingelebt, vermutlich eher als ihr Mann. Sie hat auch dort begonnen zu publizieren, und zwar für das Prager Tagblatt. Bereits vorher hatte sie für literarische Zeitschriften und für Feuilletons geschrieben. Sie verfasste Literaturkritiken, unter anderem für die Literarische Welt. Diese publizistische Tätigkeit setzte sie in Prag fort. Für das Tagblatt hat sie kleinere Artikel geschrieben, aber auch die Kinderbeilage gemacht, die Kinderwiese.“
Alice Rühle-Gerstel und ihr Mann haben klare Vorstellungen, wie Literatur für Kinder aussehen sollte. Realistisch soll sie sein, nicht verkitscht und romantisierend. Bücher aus, wie sie sagen, „goldener und seliger Kinderzeit“ lehnen sie ab. Dagegen soll die Politik ihren Platz finden, nicht jedoch die Indoktrinierung der Jugend im Sinne des Marxismus. Beim Prager Tagblatt kann Alice Rühle-Gerstel ihre literaturtheoretischen Vorstellungen, die sie gemeinsam mit Otto Rühle schon in den 1920ern publiziert hat, in die Praxis umsetzen. Jana Mikota:„Ihre Idee war, dass Kinder für die Zeitung schreiben sollten. Sie hat versucht, deutsche und tschechische Kinder zusammenzubringen und auch immer wieder über das Sudetenland berichtet. Für die Kinder hat sie Kindernachmittage in den Räumen des Prager Tagblatts veranstaltet. Sie hat sich dort auch mit der Kinderliteratur auseinandergesetzt. Es gibt Briefe, in denen sie über Besuche von Anna Maria Jokl oder Auguste Lazar schreibt, sie hatte auch Kontakt zu Alex Wedding.“
Alice Rühle-Gerstel nennt sich auf den Kinderseiten des Prager Tagblatts Lizzi Kritzel. Die Kinder, die Artikel und Zeichnungen schicken, sind die Kritzler. Aus ihren eigenen Beiträgen spricht eine unbändige Neugier auf die Welt, das Leben und all seine Facetten. Diese Neugier will Alice Rühle-Gerstel ihren jungen Lesern vermitteln. 1934 berichtet sie in einem Artikel, wie die Kinderbeilage entsteht:
„Wie gehe ich nun mit dem Material um? Ich überlege mir: Was soll in der nächsten Nummer stehen? (und auch in der übernächsten! Denn ich kann ja vielleicht auch mal krank werden und dann hättet Ihr Samstag keine ‚Kinderwiese‘!) Ist vielleicht Weihnachten, Ostern, Pfingsten, der Muttertag, der Staatsfeiertag in Sicht? Für solche außergewöhnliche Gelegenheiten muss ich ja beizeiten Vorsorge treffen – mindestens drei Wochen vorher! Nehmen wir aber an, es ist ein gewöhnlicher Samstag. Dann ist zu überlegen, ob ich eine Sondernummer machen will, z. B. über Autos, über Tiere, über Film, über Sport – oder eine bunte ‚bunte‘ Nummer, in der alles Mögliche drinnen steht. Auch in der bunten Nummer kann ja nicht alles wie Kraut und Rüben durcheinander gehen. Wie würde es zum Beispiel aussehen, wenn eine einzige Geschichte dreieinhalb Seiten einnähme, und nur eine kleine halbe Seite bliebe für alles andere! Dann wäre es ja keine Zeitung, sondern ein ganz winziges Buch mit einem kleinen Anhängsel! Oder wenn mehr als die Hälfte der ‚Kinderwiese‘ nur voll Witze wäre! Das wäre dann wieder keine Zeitung, sondern ein Witzblatt! Nein, da muss von jedem etwas drin stehen und zwar in gehöriger Verteilung.“
„Sie ist noch in Prag geblieben bis 1936. Wenn man den Briefen folgt, ist sie zu dieser Zeit nochmals aufgeblüht, hat sich noch mehr kulturell engagiert. Sie begann für die kommunistische tschechische Zeitschrift Svět práce zu schreiben und dort auch eine Kinderbeilage zu betreuen. Das hat sie gemeinsam mit Milena Jesenská gemacht. Die beiden versuchten die Ideen von Marxismus und Individualpsychologie zu verbinden. Das heißt, sie hatten eine andere Wahrnehmung von Kindern als die kommunistische Partei. Und dann ist sie irgendwann nach Mexiko gegangen.“
Obwohl Alice Rühle-Gerstel neben mehreren Sprachen auch spanisch beherrscht, fällt ihr der Neuanfang in Übersee schwer. Ihre Geschwister sind in New York und damit unerreichbar. Sie verdient den Lebensunterhalt für sich und ihren Mann, übersetzt und schreibt. Das Paar lernt Leo Trotzki, Frida Kahlo und Diego Rivera kennen…„ – aber nach und nach wurde es immer einsamer. Sie verfasste ihren Roman ‚Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit‘, in dem sie ihre Prager Zeit aufgriff. Alice Rühle-Gerstel setzte sich darin kritisch mit der kommunistischen Partei und mit deren Haltung in den 1930ern auseinander. Sie beschreibt in dem Buch eine berufstätige Frau und kehrt damit auch wieder zu ihren Ideen zur Frauenbildung aus den 1920er Jahren zurück. Alice Rühle-Gerstel reichte den Roman bei einem Schriftstellerwettbewerb ein, machte sich auch große Hoffnungen, doch sie gewann nicht.“
Für Alice Rühle-Gerstel ist es ein großer Tiefschlag. Von nun an publiziert sie immer weniger. Wie fremd sie sich in Mittelamerika fühlt, beschreibt sie in einem Beitrag für das Prager Tagblatt. Der Titel lautet: „Was den Europäer wundert“.
„Sieht man vom Schloss, dem höchsten Punkt der Stadt, auf Mexiko hinab, dann erscheint es wie ein richtiges weißes Dorf. Zwischen Grün und Blumen stehen die meist einstöckigen Häuschen, überragt nur von wenigen ‚Wolkenkratzern‘ und von den zahllosen Kuppelkirchen – die meisten sind übrigens, entgegen anders lautenden Nachrichten Kirchen wie eh und je und sogar leidlich besuchte -. Nur hie und da ist eine profanen Zwecken übergeben worden: verwandelt in eine Museum, eine Bibliothek, eine Garage, eine sogar in einen Bahnhof. Der Zug fährt ins Kirchenschiff ein, und am Altar werden die Fahrkarten verkauft.“