Auf dem Weg zur Staatsgründung

Pittsburgher Abkommen
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Im amerikanischen Pittsburgh bekräftigten slowakische und tschechische Emigranten vor 100 Jahren die Idee einer gemeinsamen Republik. Der spätere Staatspräsident Masaryk unterzeichnete dort ein Abkommen über die Form des künftigen Staates.

Clevelander Abkommen
Der Gedanke, einen gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken zu gründen, entstand im Laufe des Ersten Weltkriegs. Die Initiative kam zunächst aus Kreisen der Emigration in den USA. Am 22. Oktober 1915 unterzeichneten Vertreter der „Slowakischen Liga“ und der „Tschechischen Nationalen Vereinigung“ in Cleveland eine Absichtserklärung. So sollten sich die Böhmischen Länder mit dem damaligen sogenannten Oberungarn zu einer Föderation zusammenschließen.

Damit wollte man die gemeinsame Sehnsucht beider Völker nach Selbstbestimmung demonstrieren. Einen ähnlichen Ansatz hatten im Mai 1917 auch die tschechischen Abgeordneten bei der Neueröffnung des Wiener Reichrates. Allerdings war ihre Forderung gemäßigter, es ging um eine Autonomie innerhalb Österreich-Ungarns. Noch einmal anders war die Lage damals in der Slowakei. Ivan Šedivý ist Historiker an der Prager Karlsuniversität:

„Im Prozess der nationalen Selbstfindung war die slowakische Emigration weiter fortgeschritten als die Politiker in der Heimat. Die Slowaken standen zwar unter einem massiven Druck der Ungarn, wegen ihrer materiellen Not entwickelten sie jedoch fast kein eigenes kulturelles Bewusstsein. Das slowakische Volk formierte sich übrigens erst im 19. Jahrhundert, und das unter Hilfe vieler Aktivisten aus den Böhmischen Ländern und anderer slawischer Völker. Während des Ersten Weltkriegs waren viele Gegenden der Slowakei in nationaler Hinsicht noch indifferent.“

Idee der tschechoslowakischen Nation

Ivan Šedivý  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Aber auch die Verhandlungen tschechischer Aktivisten mit den Vertretern der slowakischen Emigration waren nicht einfach. Letztere forderten, einen gemeinsamen Staat nach dem Vorbild der schweizerischen Eidgenossenschaft zu bilden, also mit einer weit gefassten Autonomie für beide Völker. Darauf wollten aber die Tschechen nicht eingehen, sie entwickelten stattdessen die Idee eines einzigen tschechoslowakischen Volkes. Dem politischen Hauptunterhändler und späteren Staatsgründer Tomáš Garrigue Masaryk wurde später vorgeworfen, er habe die Slowaken für politisch unreif gehalten und wollte ihnen daher keine Autonomie gönnen. Ivan Šedivý sieht das jedoch anders:

„Die Idee einer einheitlichen tschechoslowakischen Nation war für die Tschechen politisch von Vorteil. So konnten sie Teil einer breiten Mehrheit werden – im Vergleich zu den drei Millionen Menschen deutscher Sprache im Land. Masaryk und seine Mitarbeiter gingen davon aus, dass sich die Deutschen mit dem neuen Staat nicht identifizieren würden – und die Entwicklung nach der Gründung der Tschechoslowakei gab ihnen Recht in ihrer Vermutung. Wäre den Slowaken Autonomie zugestanden worden, hätte man diese auch den Deutschen geben müssen. Das fanden die Tschechen aber zu riskant. Aus diesem Grund hatten sie kein Interesse an einer Föderation.“

Pittsburgher Abkommen
Um das Problem zu lösen, engagierte sich Masaryk als Vorsitzender des Tschechoslowakischen Nationalrates in den Verhandlungen. Anfang Mai 1918 traf er nach einer komplizierten Anreise aus Russland in den USA ein. Seine Mission war, sowohl die Landsleute beider Völker als auch die amerikanischen Politiker für die Idee der Tschechoslowakei zu gewinnen. Und das gelang ihm eindrucksvoll: In vielen Städten wurde er triumphal begrüßt, auch in Pittsburgh, das als Bastei der slowakischen Emigration galt. Masaryk sprach bei öffentlichen Versammlungen zu mehreren zehntausend Menschen, unter den Zuhörern waren auch einflussreiche Mitglieder des amerikanischen Kongresses. In Pittsburgh wurde sogar eine Botschaft von US-Außenminister Robert Lansing vorgelesen. Demnach äußerte die Regierung in Washington die „ehrlichsten Sympathien für die nationale Sehnsucht der slawischen Völker“. Bald zeigte sich, wie wichtig dies für die Anerkennung der Tschechoslowakei durch die USA sein sollte.

Keine Autonomie der Slowakei

Pittsburgher Abkommen
Einer der Punkte bei Masaryks Reise war die Unterzeichnung des Abkommens von Pittsburgh am 31. Mai mit den Vertretern der Slowakischen Liga und zweier tschechischer Verbände in den USA. Im Dokument war keine Rede mehr von einer Föderation, sondern nur noch von einer irgendwie gearteten Autonomie der Slowakei. Aber auch diese blieb unerfüllt.

„Die Gründe waren sehr ähnlich wie bei der Föderation. Um den Anspruch der Deutschen auf die Autonomie abzulehnen war es wichtig, die Idee eines tschechoslowakischen Volk zu schaffen. Das zeigte sich praktisch gleich nach der Entstehung der Tschechoslowakei, als die Deutschen eine Revolte entfesselten und an manchen Orten die Armee die Ordnung wiederherstellen musste. Zweitens muss man in Betracht ziehen, dass die Tschechen den neuen Staat als Erneuerung des alten Königreichs Böhmen verstanden, deswegen konnten sie sich mit ihm problemlos identifizierten. Das war bei den Slowaken nicht der Fall, sie sahen die Tschechoslowakei als neues Gebilde, an dem sie nur mit Vorteil teilzunehmen bereit waren. Drittens war die Lage in der Slowakei problematisch. Die Ungarn überfielen die südlichen Gebiete, das ganze Jahr 1919 über war die Staatsgrenze umkämpft. Masaryks Berater empfahlen ihm sogar noch 1920, nicht in die Slowakei zu reisen. In dieser Atmosphäre waren etwaige Gespräche über eine mögliche Autonomie nicht möglich. Währenddessen wurde aber die Staatsform in der Verfassung verankert, und danach war es schwierig, dies noch einmal zu ändern“, so Ivan Šedivý.

Tschechoslowakei
Das Abkommen von Pittsburgh blieb in allen Punkten unerfüllt. Die Verfassung von 1920, die im Parlament einstimmig verabschiedet wurde, enthielt für die Slowakei kein eigenes Verwaltungssystem, als Amtssprache wurde sogar „Tschechoslowakisch“ angeführt.

Plan zur Assimilation?

Noch deutlicher wurde dies in der Praxis: Tschechische Beamte, Polizisten, Lehrer und Wirtschaftsfachleute wurden in die Slowakei geschickt mit der Begründung, beim Aufbau des Landes zu helfen. Tatsächlich hinkte der östliche Teil des neuen Staates in der Entwicklung zurück, und für die Posten im Staatsapparat fehlten einfach qualifizierte Kräften. In der Slowakei wurde dies jedoch zunehmend als „Prager“ Plan zur Assimilation verstanden. Nationalisten sprachen sogar von einem Betrug, den die Tschechen an der internationalen Gemeinschaft beim Durchsetzen ihrer Ziele verübt haben sollen. Ivan Šedivý sieht das anders:

Protektorat Böhmen und Mähren  (Quelle: Bayerischer Rundfunk)
„Das Abkommen von Pittsburgh war kein verbindliches Programm der politischen Vertreter – weder in der Heimat, noch in der Emigration. Aus schon erwähnten Gründen taugte es nicht als Roadmap für die Politiker nach dem Ersten Weltkrieg. Es war nur eine der Möglichkeiten, wie der künftige gemeinsame Staat hätte aussehen können. Das Abkommen hatte eine unmittelbare Bedeutung, die aber im rein symbolischen Bereich lag. Bei den folgenden Verhandlungen über die Anerkennung der Tschechoslowakei wurde jedoch nicht einmal mit dem Text des Abkommens argumentiert. Man sollte ihn also nicht überschätzen, es handelte sich nur um einen Kompromiss zwischen der Slowakischen Liga und den tschechischen Vereinen in den USA.“

Zur slowakischen Autonomie kam es später dann doch, allerdings unter tragischen Umständen. Sie wurde nach dem Münchner Abkommen Ende Oktober 1938 erklärt. Zuvor war die Tschechoslowakei gezwungen worden, die Sudetengebiete an Deutschland abzutreten. Auch Polen und Ungarn meldeten ihre Gebietsansprüche an, und der verkleinerte Staat konnte dem nicht standhalten. Die Ungarn besetzten also die südlichen Teile der Slowakei und die Karpatenukraine. Nur die restlichen slowakischen Teile des Staates wurden unabhängig. Dies währte aber nur bis Mitte März 1939, als Hitler die geschwächte Tschechoslowakei liquidierte. Im Westen entstand das sogenannte „Protektorat Böhmen und Mähren“, im Osten die nur noch formal selbständige Slowakei, in Wirklichkeit ein faschistischer Staat von Hitlers Gnaden.