Camill Hoffmanns Tagebuch zum 15. März 1939

Am 15. März 1939 säumten Hunderte von Tschechen die Prager Strassen und schauten machtlos den deutschen Militärkolonnen zu, die durch die Strassen der tschechischen Hauptstadt fuhren. Unter ihnen war auch Camill Hoffmann, ein böhmischer, deutschsprachiger Jude, der zwei Jahrzehnte in den Diensten des tschechoslowakischen Aussenministeriums gestanden hatte. In seinem Tagebuch hielt Hoffmann die Ereignisse dieser Tage fest. Zur Lektüre seiner Schilderungen laden wir Sie im heutigen Kapitel aus der tschechischen Geschichte ein. Am Mikrophon begrüsst Sie Katrin Bock.

Der 1878 im mittelböhmischen Kolin geborere Camill Hoffmann trat bereits kurz nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 in die Dienste des Aussenministeriums ein. 18 Jahre lang war Hoffmann Presseattache der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin. Von hier aus beobachtete er die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten. 1932 beschloss Camill Hoffmann, ein Tagebuch zu führen. Hoffman hielt vor allem politische Verhandlungen fest, denen er selbst beiwohnte, oder von denen er von seinen Vorgesetzten, dem jeweiligen tschechoslowakischen Botschafter bzw. Aussenminister erfuhr. Interessant sind jedoch insbesondere seine Schilderungen der Atmosphäre und Stimmung in der Zeit. Seine eigene Person blieb dabei stets im Hintergrund. So erwähnte Hoffmann weder seine Bemühungen um die deutsch- tschechische Verständigung in seinem Land noch, dass er nach 1933 seine Stellung als Diplomat in Berlin dazu nutzte, verfolgten Deutschen die Flucht ins tschechoslowakische Exil zu ermöglichen. Bis November 1938 blieb Hoffmann in Berlin, dann wurde er vorzeitig in Pension geschickt. Die Okkupation der Böhmischen Länder im März 1939 erlebte Camill Hoffmann bereits in Prag.

Am 15. März verkündete der tschechoslowakische Präsident Emil Hacha in einer Rundfunkansprache, dass er das Schicksal seines Landes in die Hände des Führers gelegt habe. Hacha war dem Druck und den Drohungen Hitlers in Berlin unterlegen und hatte es vorgezogen, Blutvergiessen zu vermeiden und kampflos vor dem grossen Nachbarn zu kapitulieren.

"15. März 1939: Nächtliche Beratungen mit Hitler verhindern nicht den Einmarsch deutschen Militärs, gestern abends Besetzung von Mährisch Ostrau und Friedek, als müsste einer Aktion Polens in dieser Gegend zuvorgekommen werden, heute des ganzen Gebietes von Böhmen und Mähren. Der tschechoslowakische Staat hat aufgehört zu sein. Morgens meldet der Rundfunk schon, dass deutsches Militär von allen Seiten einmarschiert, zwischen 10 und 11 treffen die ersten motorisierten Truppen von Melnik her auf dem Prager Invalidenplatz ein und bald folgen andere, Motorfahrer, Tanks, Artillerie, Feldküchen, die Strassen sind voll Menschen. Der Tag ist grau, neblig, Schneegestöber, die Strassen vereist. Der Einmarsch war gewiss eine Gewaltleistung."

Oroginal-Reportage vom 15.3 1939:"Hier ist der volksdeutsche Sender Prag 2, das Mikrophon ist auf der Galerie des Museums am Wenzelsplatz. Eben hat sich der untere Teil des Platzes mit Menschen gefüllt, sie singen Lieder der Begeisterung. Deutsche Truppen haben den Platz betreten... Überall fliegen die Hände hoch zum Hitlergruss. Der historische Augenblick hat seine Erfüllung gefunden. 15. März 1939, 10 Uhr 40, die Truppen Adolf Hitlers sind auf dem Wenzelsplatz, dem Herzen der Stadt angelangt."

"Ich fahre im Autobus in die Stadt, der Autobus bleibt am Graben stecken. Ecke Graben-Wenzelsplatz ein Meer von Menschen, von Schutzleutenketten schwer zurückgehalten. Lautes langes Massenpfeifen, dann wieder die Hymne "Kde domov muj", Fäuste über den Köpfen. Die Erregung ist ungeheuer, die Stimmung düster. Sonst ist die Menge erstaunlich diszipliniert. Viele Selbstmorde von Juden. Viele Verhaftungen."

Tag für Tag hielt Camill Hoffmann in seinem Tagebuch die Ereignisse jener schicksalhaften Tage fest.

"16. März: Schneetreiben, aber minutenweise Sonnenschein. Aprilwetter. Hitler empfängt Hacha auf der Prager Burg. Ribbentrop verliest mittags im Rundfunk das Statut über das Protektorat Böhmen-Mähren.Die Stadt ist zum Bersten angefüllt von Militär. Man bekommt den Eindruck von Krieg. Das fährt unaufhörlich, drängt sich. Militärautos, Tanks, Motorräder, Infanterie, es gibt Verkehrstockungen, da die Deutschen nicht gewöhnt sind, links zu fahren. Die Stadt ist auf Anordnung beflaggt, da und dort an deutschen Häusern Hakenkreuzfahnen. Am Grab des unbekannten Soldaten am Rathaus legen die Menschen massenweise kleine Sträusschen von Schneeglöckchen und Veilchen nieder. Jede Blume, jede tschechoslowakische Fahne scheint ein Protest zu sein."

In Geschichtsbüchern kann man über die grossen historischen Ereignisse lesen, wer aber etwas von der Stimmung jener Tage im Frühjahr 1939 wissen will, wer sich ein Bild davon machen will, wie es auf den Prager Strassen aussah, der sollte das Tagebuch von Camill Hoffmann lesen.

"31.März 1939: Heute sind die Strassen wieder vollgestopft mit Truppentransporten und die deutschen Soldaten trotteln nicht so durch die Strasen wie in den vorigen Tagen. Das Leben ist hier wie in der Kriegsetappe. Die Textiliengeschäfte sind ausverkauft. Fressalien gibt es noch genug."

Über die in Prag auftauchenden Reichsdeutschen vermerkte Hoffmann folgendes:

"Die Germanisierung der tausendjährigen Hauptstadt Böhmens hat offenbar begonnen. Man wird den Beweis bringen, dass Prag eine "deutsche Stadt" ist. Wäre es nicht tragisch, müsste man darüber lachen, wie jetzt plötzlich Prag "entdeckt" wird. Sie photographieren es jetzt auch. Und da stehen sie jetzt auf allen Plätzen, auf den Brücken, vor den Kirchen mit ihren Leikas und knipsen drauf los und die deutschen Revuen und Zeitungen platzen vor Stimmungsberichten und Bildern aus Prag. Die Tschechen gehen an diesem Treiben vorüber, ohne die Miene zu verziehen."

Beeindruckt ist Camill Hoffmann vom Verhalten der meisten Tschechen, von deren passiven Widerstand:

"4. Mai: Die tschechische Öffentlichkeit reagiert regelmässig so, dass sie sich einfach zurückzieht. Sie weicht aus, sie ist nicht zu fassen. Es heisst, dass dieses Verhalten der Tschechen die Offiziere der deutschen Okkupationsarmee am meisten verdutzt habe. Sie finden die Tschechen "unheimlich". Unheimlich die Ruhe, die im Lande herrscht, die Stummheit der Tschechen im Umgang mit den Okkupanten, die Undurchdringlichkeit ihrer Gedanken. Dann plötzlich diese Demonstrationen: Blumenberge am Grab des Unbekannten Soldaten, sodass sich die deutschen Generäle nachträglich entschliessen, dort auch Kränze niederzulegen, Blumenberge am Hus-Denkmal, am Wilson-Denkmal, am Denkmal der Legionäre. So "harmlose", rührende Huldigungen, dass selbst die Gestapo hilflos dasteht."

Immer wieder hielt Camill Hoffmann nach dem März 1939 seine Eindrücke in einer Art Artikel fest. Diese Artikel schrieb er für sich, da an eine Veröffentlichung nicht zu denken war.

"Prag, im Mai 1939. Die Distanz zwischen den Okkupanten und den Okkupierten hat zugenommen. Erst glaubte man, das deutsche Militär werde allmählich den Kontakt mit der tschechischen Bevölkerung gewinnen. Dann sah die Bevölkerung, welche Mengen an Waffen, Vorräten, Rohstoffen nach Deutschland transportiert wurden, wie die Gestapo sich einschob und Massenverhaftungen vornahm, wie die vielen reichsdeutschen Autos ankamen und ihre Insassen die Posten, die in der Industrie und in den Banken von den Juden, aber auch zum Teil von Tschechen, geräumt wurden, in Beschlag nahmen. Die Ablehnung der Deutschen wurde immer entschiedener, immer eisiger, Sie äussert sich nicht in explosiven Ausbrüchen, sondern in stillen Demonstrationen. Die Tschechen bewahren ihre Disziplin. Sie rücken zusammen."

Im Sommer 1939 hörte Camill Hoffmann auf, Tagebuch zu führen. Seine Situation verschlecherte sich zunehmend. Für die Okkupanten zählte er als ehemaliger tschechoslowakischer Diplomat zu den exponierten Persönlichkeit, zudem war er Jude. Wiederholt wurde Hoffmann zu Verhören von der Gestapo vorgeladen. Lange Zeit hatte Hoffmann gehofft, die Lage werde sich verbessern, an Emigration dachte er, als es bereits zu spät war. Im April 1942 wurde Camill Hoffmann mit seiner Frau Irma in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Am 28. Oktober 1944 wurden die Hoffmanns in den letzten Transport, der Theresienstadt verliess, eingereiht. Nach ihrer Ankunft in Auschwitz wurden sie dort vergast. Die Tagebücher hatte Camill Hoffmann rechtzeitig seiner Tochter Edith, die im englischen Exil war, zukommen lassen.