„O große Welt, o weite Welt“ – Jüdische Dichter aus dem böhmischen Elbland

Foto: Till Janzer

Die berühmte Prager deutsche Literatur – sie war nicht nur ein Werk der Prager selbst. Einige jüdische Dichter, die Deutsch schrieben, kamen etwa aus dem böhmischen Elbland. Ein Freundeskreis für Literatur hat vor kurzem einen zweisprachigen Gedichtband mit Werken dieser Autoren herausgegeben. Und das Prager Literaturhaus deutscher Autoren hat das schmale Buch vor kurzem in der Maisel-Synagoge vorgestellt. Es sind Verse zum Beispiel von Camill Hoffmann und Rudolf Fuchs. Im Folgenden mehr zu den Autoren, ihrer Poesie und dem kleinen Band.

„Laufen kannst du, bis die Sonne sich neigt,
kein Berg seine leuchtende Kuppel dir zeigt,
ja, Wälder, die gibt es, und Wiesen voll Blumen.
Und Äcker, lauter schwer fruchtbare Krumen…“

Camill Hoffmann  (Foto: Till Janzer)
So schreibt Camill Hoffmann in den ersten Zeilen eines Gedichts, das er „Die Heimat“ genannt hat. Hoffmann ist der älteste der vier Dichter, die nun in einem kleinen zweisprachigen Band versammelt sind. Er wurde 1878 in Kolín geboren. Rudolf Fuchs sowie die Brüder Franz und Hans Janowitz kamen ein gutes Jahrzehnt später auf die Welt und stammten wiederum aus Poděbrady. Was hat diese vier Lyriker verbunden? Viera Glosíková ist Germanistin an der Prager Karlsuniversität:

„Die jüdische Herkunft, die deutsche Kulturtradition und dass die deutsche Sprache für sie Literatursprache wurde. Alle sind zudem bilingual aufgewachsen und haben sich trotz der deutschen Sprache nicht von der tschechischen Majorität abgegrenzt. Das heißt, sie waren nicht nur durch ihr Umfeld und die Gegend beeinflusst, sondern auch die Tschechen und die tschechische Kultur waren für sie immer da. Allesamt waren zugleich auch Übersetzer tschechischer Lyrik.“

Foto: Verlag Julius Kittls Nachfolger
Ganz besonders traf dies auf Rudolf Fuchs zu. Er hat sich zum Beispiel um die Neuübersetzung der Schlesischen Lieder von Petr Bezruč verdient gemacht oder eine Anthologie tschechischer Dichter herausgegeben. Die tschechoslowakische Regierung ehrte Rudolf Fuchs dafür 1937 mit dem neu gestifteten Herder-Preis.

Zweisprachige Kulturmittler

Doch auch mit ihrem eigenen Schaffen konnten sich die vier Lyriker jeweils einen Namen machen. Denn sie hatten ihre Finger am Puls der Zeit.

„Eine weitere Gemeinsamkeit war, dass sie Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten, die Impulse der Moderne aufzunehmen und sich dadurch von einer gewissen Provinzialität der deutschsprachigen Literatur in Böhmen abzugrenzen“, so Viera Glosíková.

Prominenter Anerkennung durfte sich besonders Franz Janowitz rühmen. Karl Kraus, der als extrem kritisch galt, förderte den 18 Jahre jüngeren Nachwuchsdichter bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Und Max Brod verglich Franz Janowitz mit dem Expressionisten Georg Trakl. In dem kleinen Gedichtband schreibt die Germanistin Lenka Klusáková, der junge Lyriker habe sich angesichts der sich nahenden Katastrophe des Ersten Weltkriegs unter anderem in eine „verlorene Harmonie der Welt“ geflüchtet.

„Es lief der Knabe auf leichten Beinen im Garten umher,
O große Welt, o weite Welt,
ihr blauen Himmel weit, o Riesenferne!

Und sank in den Sand und schaute
Aus kleinen schimmernden Körnchen Berge und Täler.
Ganz nah das Auge hielt er an die Erdenwinzigkeit.“

Franz Janowitz  (Foto: Till Janzer)
So das kurze Gedicht „Der Knabe“ von Franz Janowitz. Doch der Erste Weltkrieg setzte seiner Karriere ein frühes und jähes Ende. Der junge Dichter wurde in die k. u. k. Armee eingezogen. In einer österreichisch-italienischen Schlacht in den Tiroler Alpen trafen ihn am 24. Oktober 1917 zwei Schüsse in die Lungen. Knapp zwei Wochen später starb er im Alter von nur 25 Jahren in einem Feldlazarett.

Tragische Schicksale

Die anderen drei Dichter sind nach dem Ersten Weltkrieg engagierte Kulturmittler. Camill Hoffmann schlägt eine Karriere als Diplomat ein. 1920 wird er an die tschechoslowakische Botschaft in Berlin entsandt, wo er für sein Land und die tschechische Kultur wirbt. Die Machtergreifung Hitlers und die weitere Entwicklung in Deutschland reflektiert er in seinem „Politischen Tagebuch“. Auch hilft er deutschen Antifaschisten bei der Flucht. 1938 wird er, weil er Jude ist, von seinem Posten abberufen. Germanistin Glosíková:

Viera Glosíková  (Foto: Till Janzer)
„Camill Hoffmann hatte nach seiner Rückkehr aus Berlin, als ein schon etwas älterer Mann und vor allem einer, der sich weder links noch rechts exponiert hatte, eigentlich gehofft, in Ruhe gelassen zu werden. Trotzdem musste er als Jude zusammen mit seiner Frau erst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz. Er wurde 1944 vergast.“

Hans Janowitz und Rudolf Fuchs emigrieren hingegen jeweils. Der ältere der beiden Janowitz-Brüder wird zunächst im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten. Danach geht er nach Berlin, wo er unter anderem das Drehbuch schreibt zum Horror-Filmklassiker Das Cabinett des Dr. Caligari. 1923 stirbt jedoch sein Vater, und Hans Janowitz kehrt in die Heimat zurück. Er übernimmt den erfolgreichen Familienbetrieb in Poděbrady, eine Rapsölfabrik. 1939 entschließen sich er und seine Frau zur Emigration. Sie fliehen in die USA, wo er es zunächst in Hollywood probiert. Doch als Filmproduzent hat er keinen Erfolg, sodass das nächste Ziel New York ist. Dort kann Hans Janowitz eine kleine Parfum-Produktion aufbauen.

Rudolf Fuchs  (Foto: Till Janzer)
Auch Rudolf Fuchs kombiniert eine Beschäftigung in der Wirtschaft mit seiner Liebe zur Literatur. In Prag ist er bis 1939 in der Verwaltung einer Firma angestellt, in den 1920er Jahren schreibt aber daneben vor allem als Kunstkritiker für das berühmte Prager Tagblatt. Außerdem übersetzt er, wie bereits gehört. Nach der Besetzung seiner Heimat flieht Rudolf Fuchs über Polen nach Großbritannien. Doch er überlebt den Krieg nicht, und sein Tod ist tragisch. Nach einem deutschen Bombenangriff auf London liegt am 17. Februar 1942 die Stadt noch völlig im Dunkeln. Das wird Rudolf Fuchs beim Überqueren einer Straße zum Verhängnis: Ein Autobus erfasst und tötet ihn.

„Der Einzige, der den Zweiten Weltkrieg überlebte, war Hans Janowitz. Er ist erst in den 1950er Jahren in den USA gestorben“, so Viera Glosíková.

Erinnerungen an glückliche Kindestage

Foto: Verlag Vespero
Der kleine Band, der nun in Tschechisch und Deutsch vorliegt, vereint fast 30 Gedichte der vier Poeten. Es handelt sich allerdings um eine Liebhaberedition. Der Verlag Vespero gibt bereits seit einigen Jahren eine Reihe heraus mit Werken von Dichtern aus dem böhmischen Elbland. Der jetzige Band 16 ist jedoch die erste zweisprachige Edition. Marie Mlejnková arbeitet bei Vespero:

„Wir sind nicht bezahlt, sondern arbeiten aus purer Begeisterung für die Sache. Wir sind kein Wirtschaftsteilnehmer, haben auch keine Buchführung. Das Einzige, das wir brauchen, sind die Aufwendungen für den Druck. In diesem Fall haben sich der Bürgermeister von Poděbrady und sein Kollege aus Kolín engagiert und uns die benötigten Gelder bereitgestellt. Deshalb kommen unsere Bände allgemein auch nicht in den Handel. Wir verteilen sie vielmehr an Freunde. In diesem Fall halten die Städte Kolín und Poděbrady die Rechte an dem Band. Und die Bürgermeister verteilen sie nach ihrem Bemessen. Einen Teil hat Lenka Klusáková erhalten und einen weiteren wir als Verlag. Im Buchhandel lässt sich das Büchlein aber nicht kaufen.“

Grund für das Engagement beider Gemeinden ist die Auswahl der Gedichte. Sie haben alle einen Bezug zu der Gegend. Und das nicht nur im Fall des früh gestorbenen Franz Janowitz. Die anderen drei sind zu unterschiedlichen Zeiten in ihrem Werk sozusagen heimgekehrt, wie Viera Glosíková betont. Zum Teil hätten sie sich dabei auf ihre glückliche Kindheit bezogen:

Hans Janowitz  (Foto: Till Janzer)
„Auch Rudolf Fuchs oder Hans Janowitz haben, als sie schon im Exil waren, das Schöne, das sie in ihrer Kindheit erlebt haben, mitgenommen und in der Lyrik artikuliert. Das heißt, dass sie solche Gedichte nicht nur zu Beginn ihres Schaffens verfasst haben, sondern das ganze Leben lang. Das gilt ebenso für Camill Hoffmann und seine Internierung im KZ Theresienstadt. Da war die Erinnerung an früher und die glückliche Kindheit ein Licht in dieser grauen, schrecklichen Zeit, die er dort erleben musste.“

Autor: Till Janzer
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