Vom Traum zum Alptraum: Die tschechoslowakische Kommune Interhelpo im sowjetischen Kirgisistan
Vor einhundert Jahren brachen linksgerichtete Tschechen und Slowaken auf, um im fernen Kirgisistan eine Kommune zu gründen. Die Idee war, Aufbauarbeit in der Sowjetunion zu leisten. Zu den Aussiedlern gehörten auch die Eltern von Alexander Dubček, die ihren Sohn mitnahmen. Die Ankunft war allerdings ein Schock. Später gab es erste Erfolge, letztlich schlugen aber dann Kollektivierung und Terror zu.
Der 29. März 1925: Auf dem Bahnhof im slowakischen Žilina steht ein Sonderzug. Mit seinen 24 Waggons ist er extrem lang. In den Passagierwagen sitzen gut 300 Menschen – Idealisten, die sich auf den Weg in ein neues Leben machen. Auf den Zug verladen sind zudem zahlreiche landwirtschaftliche Geräte und die Ausrüstung für unterschiedliche Werkstätten. Das Reiseziel ist die damalige Sowjetrepublik Kirgisistan. Dort warte auf sie eine paradiesische Landschaft, ist den Menschen versprochen worden. Sie wollen eine selbstbestimmte Gemeinschaft aufbauen und der neu gegründeten Sowjetunion bei der Entwicklung helfen.
Interhelpo nennt sich das Vorhaben. Jaromír Marek ist Historiker und Redakteur des Tschechischen Rundfunks. Er hat sich mit dem Projekt beschäftigt und unter anderem ein Buch dazu veröffentlicht. Im Interview für Radio Prag International sagt er:
„Es war nicht das einzige Aussiedlerprojekt in die Sowjetunion. In den 1920er Jahren gab es zahlreiche weitere, die überall auf der Welt entstanden, sogar in den USA. In der Tschechoslowakei gehörten dazu neben Interhelpo zum Beispiel auch Reflektor oder Slovácká komuna. In all diesen Projekten fanden sich Arbeiter wieder, die zumindest anfangs auch Mitglieder kommunistischer Parteien waren. Sie wurden durch die Sowjet-Propaganda über die Kommunistische Internationale dazu bewegt, dem neuen Staat dabei zu helfen, die Probleme zu überwinden, in die er durch die Oktoberrevolution geraten war.“
Treibende Kraft hinter Interhelpo ist zunächst Rudolf Mareček. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch), Abenteurer und ein Anhänger der Plansprache Esperanto. Ab dem Ersten Weltkrieg lebte er in Zentralasien und war dort auch für die Bolschewiki tätig. 1921 kehrt Mareček in seine Heimat zurück, und ab 1923 beginnt er das Projekt zu organisieren. Die Mitglieder für die künftige Kommune in Kirgisistan wirbt er vor allem in der KPTsch an. Eine Parteimitgliedschaft war zunächst auch Bedingung...
„Bald zeigte sich jedoch, dass viele dieser Menschen eine Auswanderung finanziell nicht stemmen konnten. Sie mussten häufig ihr ganzes Eigentum verkaufen, inklusive landwirtschaftlicher Flächen und Gewerbebetriebe. Es gab daher nicht genügend Kommunisten, die dazu bereit waren. Das Problem wurde zunächst salomonisch gelöst: Weitere Interessenten traten erst der kommunistischen Partei bei und danach der Genossenschaft. Später war die KPTsch-Mitgliedschaft keine Bedingung mehr“, erzählt Jaromír Marek.
Allerdings ist es damals nicht möglich, einfach so aus der Tschechoslowakei auszuwandern. Dazu braucht man einen speziellen Pass. Und linksgerichteten Ideen sind die Behörden im Land nicht sonderlich zugetan.
Bohuslav Huňa gehörte als Junge mit seinen Eltern zu den Interhelpo-Mitgliedern. Er kehrt erst 1966 in seine ursprüngliche tschechoslowakische Heimat zurück. In seinen persönlichen Erinnerungen hielt er folgende Worte fest, die Marek in seinem Buch wiedergibt:
„Unsere Väter wurden wiederholt auf die Polizeistation gerufen, wo sie Verhören unterzogen wurden und ihren geplanten Gang nach Russland erläutern und begründen mussten. Sie sagten, sie führen dorthin, weil sie hier keine Arbeit hätten und in der damaligen Tschechoslowakei für sich und ihre Kinder keine Zukunft sähen. Ihnen wurde dann geraten, lieber nach Amerika zu fahren wie viele andere, die als vermögende und geschätzte Leute zurückgekehrt seien.“
Laut Huňa antworteten die Väter darauf, dass sie nicht des Geldes wegen nach Russland aufbrächen, sondern um eine neue gesellschaftliche Ordnung aufzubauen.
Mitten in der Steppe am Ende der Gleise
Kurz vor der Abfahrt des ersten Zuges nach Kirgisistan kommt es zu einer Situation, die nach Betrug riecht. Denn Rudolf Mareček als Vorsitzender von Interhelpo steigt nicht in den Waggon. Was tatsächlich geschah, lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Angeblich konfiszieren die Behörden den Auswandererpass von Mareček. Allerdings gelangt er wenig später trotzdem in die Sowjetunion. Dort hat er eigentlich die Chance, den Auswandererzug noch einzuholen. Laut dem Bericht eines tschechoslowakischen Diplomaten in Moskau macht er jedoch keine Anstalten dazu. Der Polit-Agitator fährt stattdessen im November des Jahres zu einem anderen Kommunenprojekt nach Kasachstan.
Einen geschlagenen Monat braucht der Interhelpo-Zug, bis er am Ziel ist. An der sowjetischen Grenze muss man umsteigen wegen der anderen Spurweite der Bahn. Weiter geht es in umgebauten Viehwaggons. Am 24. April 1925 hält der Zug am Ende der Bahnstrecke. Als die Aussiedler die Türen öffnen, ist der erste Eindruck niederschmetternd – um sie herum trockene Steppe und nur ein paar windschiefe Hütten. Dabei hatte Mareček ihnen Bilder von Granatapfelbaumhainen und Weinreben gezeigt. Kateřina Tišliarová-Prekopová ist damals als Jugendliche mit ihren Eltern eine der Reisenden. In den 1970er Jahren erinnerte sie sich so an die Situation:
„Die Landschaft um uns glich in nichts den Fotografien, mit denen der Interhelpo-Organisator Rudolf Mareček durch die Tschechoslowakische Republik gefahren war. Es gebe bei ihnen eine solche Gegend, sagten uns die örtlichen Eisenbahner, dort habe es schattige Haine und Quellwasser. Aber das sei weit weg, und keine Bahnschienen würden dort hinführen. Selbst die jetzige Linie sei erst vor kurzem fertiggestellt worden, hieß es. Eine Weiterreise sei nur zu Pferd oder Kamel möglich.“
Die sowjetischen Beamten raten indes, vor Ort zu bleiben. Und auch die Kommune entscheidet sich dafür. Jaromír Marek:
„Ursprünglich sollten die Leute zum See Yssyk-Köl fahren, dort führte damals auch noch keine Bahnlinie hin. Die Reise endete daher dort, wo auch die Gleise zu Ende waren: nahe der kirgisischen Hauptstadt Pischpek, die bald in Frunse umbenannt wurde. Die Bedingungen vor Ort waren katastrophal. Die Interhelpo-Mitglieder lebten zunächst in Erdhütten oder halbverfallenen Häusern. Trinkwasser gab es nicht. Und im ersten heißen Sommer starben mehrere Dutzend Kinder, vor allem im Alter von unter vier oder fünf Jahren. Diese Tragödie erschütterte die ganze Kommune. Jene, die es sich leisten konnten, kehrten nach Hause zurück. Aber die meisten blieben, weil sie häufig keine Finanzen für den Rückweg hatten.“
Malaria, Typhus und weitere Krankheiten sind es, an denen die Kommunarden erkranken und die Kinder sterben. Unter den ersten Siedlern ist kein Arzt, erst mit dem zweiten Zug, der am 6. August 1926 eintrifft, reist ein Mediziner an. Doch diese 606 weiteren potenziellen Siedler kommen inmitten der größten Krise der Kommune an.
Mit sehr viel Fleiß und Willen überwindet die Gemeinschaft indes die enormen Schwierigkeiten. Schon im September 1925 leuchtet bei ihnen die erste Glühbirne in ganz Kirgisistan.
„Man ließ in der Steppe eine Oase entstehen: gemauerte Häuser und eine Industrieinfrastruktur. Die Kommunarden starteten im Mai 1927 die Produktion in der Textilfabrik, die sie vor der Abreise als Schrottstück im slowakischen Städtchen Rybárpole gekauft hatten. Nach dem schwierigen Transport und der Reparatur lief die Anlage lange Jahrzehnte und wurde zur Grundlage der industriellen Produktion in Kirgisistan“, so Marek.
Zunächst treffen in der zentralasiatischen Sowjetrepublik jedoch zwei Welten aufeinander: die traditionelle Gesellschaft der Nomaden mit ihren großen Tierherden und eine Gemeinschaft modern ausgebildeter Industriearbeiter. Unter anderem hat die Kommune einen Kleinlaster der Marke Ford dabei und einen Traktor vom Modell Fordson. Bohuslav Huňa schrieb dazu später:
„Beide diese Fahrzeuge waren für die Einheimischen technische Wunder. Sie nannten sie Teufelsräder. Und wenn der Fahrer die Hupe bediente, dann fürchteten sie und auch ihre Pferde sich. Das war für uns Kinder immer ein lustiges Erlebnis.“
Nach und nach nähern sich beide Seiten aber an. Die Einheimischen erkennen, dass ihnen die Siedler von Nutzen sein können. Und die Kommunarden entdecken hinter dem wilden Äußeren der Kirgisen ihre Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Außerdem braucht Interhelpo weitere Arbeitskräfte, und so werden die Einheimischen angelernt. Doch das Projekt hat auch eine Seite, die Jaromír Marek als ungeplante Sowjetisierung der Kirgisen bezeichnet:
„Die Nomaden, die bis dahin das wilde Volk der Steppe waren, mussten ihre traditionelle Lebensweise ändern, sich in Frunse ansiedeln und Industriejobs annehmen. Diese erzwungene Sesshaftigkeit hat viele Kirgisen nicht gerade glücklich gemacht. Das Projekt war also nicht nur ein zivilisatorischer Fortschritt, sondern bedeutete auch einen Verlust der nomadischen Identität.“
Genau das ist jedoch damals auch die Zielrichtung der sowjetischen Nationalitäten- und Wirtschaftspolitik.
Kollektivierung anstatt Gemeinschaft
Während im ersten Zug noch hauptsächlich Tschechen und Slowaken in die kirgisische Steppe gekommen sind, entsteht mit den weiteren Ankömmlingen eine bunte Gesellschaft in der Kommune. 1928 leben dort 64 Tschechen, 60 Slowaken, 35 Russen, 18 Deutsche sowie 13 Ungarn, drei Kirgisen, zwei Iraner und jeweils ein Rumäne, ein Litauer und ein Jude.
Man versucht, eine kollektive Art der Gemeinschaft aufzubauen. Es wird gemeinsam gelebt, auch die Kinder werden zusammen erzogen. Und es wird ebenfalls für alle gekocht. Daran erinnert sich in den 1970ern mit Vincenc Červinka ein weiteres Mitglied der Kommune:
„Vom ersten Tag an musste eine gemeinsame Verpflegung gesichert werden. Deswegen wurde eine Gemeinschaftsküche eingerichtet, obwohl sich nicht alle damit abfinden konnten. Die Ungarn hatten gerne scharfes Essen, die Tschechen aßen wiederum Knödel. Immer gab es Gezänk darum. Zudem entsprach das Essen nicht den Bedürfnissen kleiner Kinder. Aber auch diese Probleme mussten überwunden werden.“
Die gemeinschaftliche Idee besteht ursprünglich auch darin, sich in der Plansprache Ido zu unterhalten – einer reformierten Form von Esperanto. Gerade der Organisator Mareček ist ein glühender Anhänger dieser Vorstellung. Doch die Realität ist anders. Und gezwungenermaßen wird letztlich Russisch die Lingua Franca, in der ab 1928 bereits in der örtlichen Schule unterrichtet wird.
Der gemeinschaftliche Gedanke kommt allerdings nicht nur auf sprachlicher Ebene unter die Räder, sondern auch insgesamt. Denn unter der Führung Stalins wird die sowjetische Wirtschaftspolitik immer rigider. Der neue Herrscher im Kreml bricht mit der sogenannten „Neuen Ökonomischen Politik“, die 1921 von Lenin eingeführt wurde, aber ohnehin nur als Übergangsphase gedacht war. Sie hatte gewisse Formen der Eigeninitiative und des Gewinnstrebens zugelassen. Doch nun kommt der Wandel. Alexander Dubček hat dies in seiner Autobiografie beschrieben, die 1993 erschien. Der spätere Politiker des Prager Frühlings war als Fünfjähriger zusammen mit seinen Eltern im ersten Zug nach Kirgisistan gekommen.
„Im Jahr 1928 musste sich Interhelpo dem zentralisierten Industrieverband anschließen und 1930 eine neue Satzung annehmen, die dem sowjetischen Modell entsprach. Bis dahin wurde die Kommune so geführt, wie das die Mitglieder aus der Tschechoslowakei kannten. Das heißt, dass es eine demokratisch gewählte Leitung und einen ebenso legitimierten Vorsitzenden gab. Das aber stand der sowjetischen Praxis entgegen, von oben zu dirigieren“, so Dubček.
Verhaftungen und Todesurteile
Währenddessen kommen weitere Siedler an. Bis 1932 treffen immer wieder Züge aus der Tschechoslowakei ein. Letztlich sind es insgesamt 1338 Menschen, die sich Interhelpo anschließen, obwohl zahlreiche schon früh wieder kehrtmachen. Viele sitzen den unwirklichen Versprechungen auf, die die kommunistischen Agitatoren machen – und das obwohl enttäuschte Rückkehrer etwas anderes berichten. Jaromír Marek:
„Kommunistische Intellektuelle spielten dabei eine wichtige Rolle. Es waren Journalisten und Schriftsteller wie zum Beispiel Julius Fučík. Dieser besuchte Interhelpo wohl dreimal und zeichnete in der Parteizeitung ‚Rudé právo‘ ein idyllisches Bild des Projektes. Diese massive Propaganda beeinflusste viele Menschen, die sich trotz der Warnungen auf den Weg machten. Selbst das tschechoslowakische Außenministerium versuchte, den potenziellen Siedlern abzuraten.“
Dass viele extrem überzeugt sind von der Sache, zeigt auch das Schicksal von Josef Skalický aus dem mährischen Städtchen Postřelmov. 1925 kommt er mit dem ersten Zug nach Kirgisistan. Dann überwerfen er und ein Kumpel aus seinem Heimatort sich mit den anderen Mitgliedern von Interhelpo, und beide kehren 1933 wieder in der Tschechoslowakei zurück.
„Sie brachten hierzulande aber kein Bein auf den Boden. Nach einer gewissen Zeit begannen sie, sich nostalgisch an Interhelpo zu erinnern. Sie schrieben Briefe, in denen sie die Schönheit des Projektes schilderten, und äußerten den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Nach zwei Jahren setzten sie die Idee um. Weitere drei Jahre später wurden sie jedoch verhaftet, wegen Spionage verurteilt und hingerichtet“, schildert Marek.
Das ist bereits 1938 – also in der Zeit des Stalinschen Großen Terrors. Skalický und seinem Kumpel wird aus ihrer zwischenzeitlichen Rückkehr in die Tschechoslowakei der Strick gedreht.
Die Familie Dubček wiederum entscheidet sich damals, Interhelpo zu verlassen. Grund ist das neue sowjetische Staatsbürgerschaftsgesetz von August 1938. Das zwingt Ausländer endgültig dazu, zu Sowjetbürgern zu werden. Dabei haben bis 1935 die meisten Mitglieder der Kommune noch einen tschechoslowakischen Pass. Insgesamt ein Drittel der ursprünglichen Siedler kehrt 1937 und 1938 dem Reich Stalins den Rücken.
Ein Jahr später ist die Kommune endgültig verstaatlicht. Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion und damit dem Kriegseinritt des Staates im Juni 1941 wird Interhelpo aufgelöst. Viele vorherige Mitglieder des Projekts werden interniert, einige werden auch hingerichtet. Mehrere Dutzend frühere Kommunarden leben und arbeiten aber weiter in Frunse. Zahlreiche von ihnen und auch freigelassene Internierte schließen sich ab Februar 1942 der tschechoslowakischen Einheit an, die innerhalb der Roten Armee aufgebaut wird. Doch einige bleiben auch vor Ort – und ihre Kinder und Kindeskinder sind heute sozusagen das Erbe der Kommune...
„Immer noch leben Nachkommen der früheren Interhelpo-Mitglieder in Kirgisistan – einige von ihnen sogar genau an dem Ort ihrer Vorfahren. Dort gibt es zum Beispiel eine Straße mit dem Namen der Kommune in russischer Schreibweise, also Intergelpo. Es handelt sich um eine Enklave, die einem Dorf inmitten der heutigen Stadt Bischkek gleicht“, so Jaromír Marek.
In dieser Enklave inmitten der kirgisischen Hauptstadt werden – auch auf Englisch – sogar Führungen angeboten zu diesem Kapitel der tschechoslowakischen Geschichte.