Der erste tschechische Bestseller: die Böhmische Chronik von 1541

Böhmische Chronik von Václav Hájek

Václav Hájek aus Libočany / Libotschan galt Jahrhunderte lang als der beste böhmische Chronist des Mittelalters. Seine umfangreiche Chronik aus dem Jahre 1541 war sehr populär und darf bis heute in keiner bedeutenden Bibliothek fehlen. Im 19. Jahrhundert begannen jedoch Historiker, die Glaubwürdigkeit der Aufzeichnungen in Frage zu stellen. Vor kurzem wurde dieses alte Werk erstmals in einer kritischen Ausgabe herausgebracht. Wie sehr taugt die Chronik also noch als historische Quelle?

Böhmische Chronik von Václav Hájek
Die Böhmische Chronik von Václav Hájek ist ein außergewöhnliches Werk ihrer Zeit. Auf DIN-A-4-Format übertragen ist sie etwa 1500 Seiten stark. Abgesehen von der Bibel ist es das umfangreichste Buch, das bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts in Böhmen herausgebracht wurde. Unsere Vorfahren fanden die Chronik trotzdem leicht zu lesen und verständlich. Sie enthält viele spannende, in kurze Kapitel aufgeteilte Erzählungen aus der böhmischen Geschichte. Die Geschichten reichen vom legendären „Urvater der Tschechen“ bis zur Krönung des Habsburgers Ferdinand I. zum böhmischen König im Jahr 1527. Insgesamt berichtet die Chronik über mehr als 3000 historische Personen.

Hájek schrieb in kurzen Sätzen auf Tschechisch, er drückt sich meist umgangssprachlich aus und ist dabei witzig. Dies unterscheidet ihn von den meisten anderen Autoren seiner Zeit. Sein Schreibstil machte die Chronik sehr beliebt. Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelte es sich um das meistgelesene ursprünglich auf Tschechisch erschienene Buch. Dreimal wurde es sogar auch ins Deutsche übersetzt. Dann setzte im 19. Jahrhundert aber eine heftige Kritik an diesem Werk ein, verrät der Literaturwissenschaftler Jan Linka. Als Mitarbeiter der tschechischen Akademie der Wissenschaften hat er nun die erste kritische Ausgabe von Hájeks Chronik herausgegeben. Insgesamt zehn Jahre lang arbeitete Linka daran:

Jan Linka  (Foto: Marián Vojtek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Noch in der frühen Neuzeit war es normal, einen Text auf mehrere Arten zu verstehen: wörtlich als eine Beschreibung von Fakten, als moralische Belehrung oder als Mystik beziehungsweise Allegorie. In der Zeit der Aufklärung waren jedoch die Kulturträger nicht mehr fähig, die allegorische Bedeutung eines literarischen Werkes zu verstehen. Jeden historischen Text beurteilten sie aus der Sicht der faktischen Glaubwürdigkeit. Was darüber hinausging, das lehnten sie ab. In diesem Sinne wurde Hájeks Chronik schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts kritisiert, das drang jedoch nicht weit ins Land vor. Erst dem Historiker František Palacký gelang es, mit seinem Werk die Popularität der Chronik zu übertrumpfen.“

František Palacký: „Die Geschichte Böhmens“
František Palacký gilt als Begründer der modernen böhmischen Geschichtskunde. Zur Zeit der aufkommenden Nationalbewegung behauptete er, die Hauptlinie dieser Geschichte bestehe in einem ewigen Kampf zwischen den Tschechen beziehungsweise Slawen und den Deutschen. Da der Nationalismus eine neue Erscheinung des 19. Jahrhunderts war, ließ sich bei Václav Hájek nichts Entsprechendes finden. Für Palacký war das aber ein guter Grund, Hájeks Chronik scharf zu verurteilen. So schreibt Palacký in seinem Standardwerk „Die Geschichte Böhmens“:

„Die ganze böhmische Geschichtskunde kennt keinen größeren Betrüger als Hájek. Er wagte es nicht nur, sich zahlreiche Ereignisse auszudenken, sondern mit beispielloser Frechheit ebenso für sie erdachte historische Quellen anzugeben. Diese Reihe von verdeckten Lügen wird unserem Volk bis heute als Wahrheit präsentiert! Alle böhmischen Chroniken wurden mehr oder weniger mit Hájeks Gift verseucht.“

Václav Hájek
War Hájeks Chronik also so etwas wie heute der Da-Vinci-Code von Dan Brown? Diese Parallele bietet sich an, vor allem wenn man weiß, dass auch noch in der frühen Neuzeit Chroniken nicht als eine Aneinanderreihung von Fakten verstanden wurden. Sie hatten vielmehr den Charakter von Belletristik. Denn bis zur Zeit der Aufklärung dachte man vor allem in Bildern, wobei die faktischen Daten nur eine Nebenrolle spielten. Wenn ein Autor die Daten erwähnte, dann wahrscheinlich, um die Dramatik der Geschichte zu erhöhen. Häufig schrieben Autoren zudem im Auftrag und damit sozusagen parteiisch. Das war auch bei Václav Hájek der Fall: Er war von einer Gruppe böhmischer Adliger beauftragt worden, etwas „Schönes“ über den böhmischen Adel zu schreiben. Die Auftraggeber wollten dadurch ihre Position sichern, so glauben heute die Historiker. Denn kurz zuvor hatten erstmals die Habsburger den böhmischen Thron bestiegen. Hájek musste dabei auch berücksichtigen, dass die neuen Herrscher Katholiken waren, sagt Jan Linka:

Mädchenkrieg
„In der böhmischen Geschichte gibt es die Legende vom Mädchenkrieg. Der Überlieferung nach sollen sich Mädchen gegen die Herrschaft der Přemysliden erhoben haben, angeblich bauten sie ihre eigene Burg und bekämpften von dort alle Männer. Hájek widmet diesem Mythos relativ viel Raum und beschreibt sie als Vorzeichen des Hussitentums und des Zerfalls des böhmischen Staates. Auch die Chroniken anderer europäischer Nationen erzählen von „Mädchenkriegen“. Damit sollte gezeigt werden, wie mutig und unerschrocken die Mädchen waren. Hájek wollte stattdessen zeigen, wozu die moralische Zersetzung geführt hatte. In seiner Darstellung sind nicht die Mädchen die Helden, sondern die Přemysliden, also die ersten böhmischen Adelige, die trotz des Verrats der Mädchen auf den Thron zurückkehren und den böhmischen Staat gründen. Außerdem manipuliert er die Geschichte, indem er ihr erdachte Personen hinzufügt, als ob ihm die wahren nicht gereicht hätten. Er hat etwa 400 historische Personen ausgedacht, also relativ viele.“

Böhmische Chronik
In diesem Punkt muss die Chronik also mit sehr großer Vorsicht gelesen werden, sie taugt also nicht sonderlich als historische Quelle.

Am Anfang seiner Chronik bekennt Václav Hájek, er sei zwar Katholik, aber er wolle die Geschichte gerecht darstellen und weder Katholiken noch Utraquisten bevorzugen. Dazu hatte er gute Gründe: Zum einen war er selbst früher utraquistischer Priester gewesen, der später zum Katholizismus übertrat, zum anderen waren auch seine Auftraggeber konfessionell gespalten. Jan Linka sagt, Hájek habe sich daher aufrichtig bemüht, neutral zu bleiben:

König Wenzel IV. mit seiner Geliebten Zuzana
„Wenn man beispielsweise das Abenteuerleben von König Wenzel IV. nimmt: Hájek schildert ausführlich die Legenden über das Verhältnis zwischen dem König und seiner Geliebten Zuzana. Wir wissen allerdings gar nicht, ob dies eine faktische Grundlage hat, unter Umständen beruhte das auf Klatsch und Tratsch. Hájek machte damit aber den König menschlicher, dieser wäre ansonsten in der Chronik schlecht weggekommen. Denn Wenzels Politik hatte in Hájeks Augen das Land ins Chaos geführt und den Weg bereitet für die hussitischen Kriege. Als Sohn des weisen Königs und Kaisers Karls IV. hatte er demnach komplett versagt. Wenn aber der Leser Wenzels Privatleben kennt, verurteilt er ihn nicht, er versteht ihn vielleicht sogar. Diese Ambivalenz kennen wir auch aus der modernen Literatur, wo Menschen nicht einfach schwarz oder weiß gezeichnet werden. Dadurch wird Literatur spannend und zeitlos.“

Königsburg Karlstein  (Foto: Archiv Radio Prag)
Václav Hájek war eine bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit. Als Prediger in der Thomaskirche in der Prager Altstadt war er bekannt, zugleich verwaltete er auch die Goldgrube in Starý Rožmitál / Alt Rosenthal. Wegen Konflikten mit seinen kirchlichen Vorgesetzten drohte ihm die Suspendierung, dank „guter“ Kontakte wurde er aber als Kaplan auf die Königsburg Karlstein versetzt. Gerade dort wurde er mit seinem Lebenswerk beauftragt. Für die Recherche standen ihm zahlreiche Bibliotheken und Archive offen, einige sogar auf der Prager Burg. Nachdem Hájek die Chronik zu Ende geschrieben hatte, bestimmte der königliche Gerichtshof einige Zensoren, zwei Jahre lang prüften sie das Werk. Danach wurde dem Autor dann für zehn Jahre das Urheberrecht erteilt, das Werk wurde in einer Auflage von 1000 Stücken gedruckt. Dies war damals ein großer Erfolg, aber zugleich auch ein Stolperstein. Denn immer fand sich jemand, den irgendetwas in der Chronik störte.

Neuauflage der Böhmischen Chronik
„Nach der Schlacht am Weißen Berg von 1620 entbrannte innerhalb der katholischen Kirche ein Streit darüber, ob die Chronik als Ganzes neu herausgegeben und um die neuen Ereignisse ergänzt werden sollte. Dazu kam es aber nicht. Die katholische Zensur hielt einfach zu viele Passagen im Werk für inakzeptabel. So rügt in der Chronik zum Beispiel ein Gesandter des Papstes die böhmischen Priester und ermahnt sie, den Zölibat endlich einzuhalten. Es gab daher Versuche, Hájeks Chronik in einer ‚korrigierten Version‘ aufzulegen, jedoch ohne Erfolg, dazu war das Original bereits viel zu bekannt. Andere versuchten wiederum, eine neue Chronik wie Hájek zu schreiben – aber auch das misslang“, sagt Jan Linka.

Die ideologischen Kämpfe von damals sind schon längst Geschichte. Heutzutage lässt sich dieses bedeutendste Werk der böhmischen Literatur mit viel mehr Gelassenheit beurteilen. Die Auflage, die nun erschienen ist, enthält viele grundsätzliche Bemerkungen und Erklärungen. Auch die Sprache wurde zum Teil an den heutigen Stil angepasst. Die Neuauflage ist zwar vor allem für Fachkundige bestimmt, aber auch für interessierte Laien soll sie lesbar sein – so wie sich das Autor Václav Hájek auch schon damals wünschte.