Die andere Stadt - Prag und die "Nacht der Literaturen"
Druhe Mesto - die andere Stadt. Unter diesem Motto, dem Titel eines Romans von Michal Ajvaz, stand am Donnerstag in Prag die zweite "Nacht der Literaturen". An neun ungewöhnlichen Orten präsentierten Schauspieler einen Abend lang Literatur aus neun Ländern. Bücherfreunde, aber auch zufällige Passanten waren eingeladen zu einem literarischen Flug um die Welt und zu einer topographischen Entdeckungsreise in den Bauch von Prag.
Donnerstag, kurz vor sechs in der Alfa-Passage am Prager Wenzelplatz. Es herrscht Feierabendbetrieb. Eilig hastende Menschen auf dem Weg nach Hause, Mütter mit Kinderwagen und Einkaufstaschen. Einige Passanten bemerken verwundert ein Lesepult und einige Stühle, die in einer Ecke aufgebaut sind. Punkt 18 Uhr öffnet sich eine Tür, heraus tritt die Schauspielerin Katerina Winterova. Sie liest aus dem Roman "Spieltrieb" von Juli Zeh - die deutsche Station in der "Nacht der Literaturen"; ein bitterer Text über die Werte des Lebens, der in dem gleichgültigen Treiben der Einkaufspassage fast zum Manifest wird:
"Der ideale Mensch ein geistlich-sittliches Wesen? Wir sind nicht einmal in der Lage, eine Familie zu gründen, geschweige denn, uns mit einer Partei zu identifizieren! Wissen Sie, was wir wollen? Wir wollen keine Gemeinschaft. Wir wollen unsere Ruhe. Nennen Sie es isoliert. Nennen Sie es selbstherrlich. Wir sind der banalen und kleinkrämerischen Reglementierungen müde, die uns bei Strafe zwingen, ein Licht an unser Fahrrad zu schrauben, mit dem Rauchen bis zum sechzehnten Lebensjahr zu warten und unsere Autos für zwei Euro die Stunde in ein Kästchen zu stellen, das irgendjemand fein säuberlich auf den Boden gemalt hat, während wenige Flugstunden entfernt ganze Welten verbrennen, vertrocknen, ersaufen, explodieren, verbluten. Wir passen nicht mehr zu diesem Staat, wir sind dem System vorausgeeilt, von den Gedanken und Wünschen vergangener Generationen über die Linie hinausgedrängt worden und stehen außerhalb, kopfschüttelnd."
Bereits zum zweiten Mal ließ die Nacht der Literaturen Texte im öffentlichen Raum lebendig werden. Dahinter steht das Tschechische Zentrum, das Auslandskulturinstitut der Tschechischen Republik. An neun Stationen in der Prager Altstadt lesen Schauspieler im Halbstundentakt Texte aus Ländern, in denen das Tschechische Zentrum vertreten ist - eine Rückkopplung, mit der die Arbeit der Auslandsinstitute auch daheim vorgestellt werden soll. Die Spanne, so erklärt Co-Organisatorin Martina Honcikova, reicht von Deutschland bis hin nach Japan und Argentinien - eine literarische Weltreise in den Abseiten des Prager Gassengewirrs:
"Unsere Absicht war es, die Literatur und auch die Besucher zu ungewöhnlichen Orten zu führen. Alle sind daran gewöhnt, dass Lesungen in Clubs und Theatern stattfinden. Wir aber wollten den Menschen ein anderes Prag vorstellen diese Plätze mit der Weltliteratur in Verbindung bringen. Es handelt sich da zum Beispiel um die Kirche der Heiligen Simon und Judas, um die Spanische Synagoge oder um die Kabelschächte unter dem Heuwagsplatz, das ist ein ganz besonders interessanter Ort."Text und Topographie sollen in der "Nacht der Literaturen" miteinander in Beziehung treten, gewohnte Strukturen durchbrechen und den Blick öffnen für das, was dahinter liegt:
"Das Motto dieses zweiten Jahrgangs lautet schließlich auch ´druhe mesto´, ´die andere Stadt´, und wir wollen, dass die Prager und alle Besucher dieser Nacht der Literaturen dieses zweite, andere Prag entdecken, dass sie an Plätzen, an denen sie vielleicht sonst achtlos vorbeigehen, einmal Halt machen und sich von wunderbarer Literatur forttragen lassen."
"Druhe mesto", die andere Stadt, das ist der Titel eines Romans von Michal Ajvaz. Das Buch wurde im Hauptquartier der Nacht, im Tschechischen Zentrum an der Rytirska-Gasse, vorgestellt. Worum es geht, erklärt der Autor selbst:
"Der Roman handelt davon, wie ein Bewohner Prags auf die Spuren der anderen Stadt stößt, die Spuren eines parallel existierenden zweiten Prag, das mit dem ersten durch verschiedene Durchgänge und Pforten verbunden ist. Was die zweite Stadt eigentlich ist, das bleibt aber unklar - die Informationen, die der Held sammelt, sind widersprüchlich, statt Erkenntnis erreicht er nur immer größere Unsicherheit, bis er versteht, dass gerade diese Unsicherheit die Natur der anderen Stadt ausmacht."
"´Ich glaube, Sie sollten diese Expedition aufgeben´, sagte mir der wissenschaftliche Mitarbeiter der Nationalbibliothek. ´Und wenn Sie um jeden Preis in die andere Stadt gelangen wollen, dann würde ich Ihnen raten, irgendeinen anderen Weg zu wählen. Der Durchgang durch die Bücherei ist gefährlich. Auf die Buchrücken am Anfang der Regale fällt durch die Fenster oft das Tageslicht, man hört dort den Lärm der Straße, und ans Ende der Regale wälzt sich schon der Nebel der Dämmerung, von den Büchern hängt stinkendes Seegras, irgendein Tier lässt böses Knurren vernehmen.´ - Wir schritten zwischen den endlosen Buchregalen, zuerst gingen wir durch gerade, gut beleuchtete Gässchen, entlang sorgfältig ausgerichteter Buchrücken, aber als wir in die Tiefe der Bücherei vordrangen, begannen die Bücher zu zerfallen, abgerissene Blätter krochen aus ihnen hervor, dabei gab es immer weniger leuchtenden Glühbirnen, sodass wir zeitweise im Dunklen tappten. Wir kamen an eine Stelle, an der sich mehrere Wege kreuzten. Über dieser Kreuzung leuchtete eine schwache Glühbirne; die Mündungen der Wege, die weiter in die Tiefe der Bücherei führten, waren finster und der schwere Geruch von altem Papier wehte aus ihnen. Mein Begleiter blieb stehen: ´Hier beginnt schon der Dschungel´, sagte er ernst und wies in die dunkle Mündung der Gässchen zwischen den Regalen. ´Hier verlasse ich Sie.´"
Unsere letzte Station auf dem Weg durch die "Nacht der Literaturen" ist schließlich das barocke Presbyterium der Kirche der Heiligen Simon und Judas in der Geistgasse, am Rande des Fünften Viertels, des ehemaligen jüdischen Ghettos, das vor einem guten Jahrhundert niedergerissen wurde. Hier wartet bereits der Schauspieler Ivan Rezac. Architektur und Literatur ergänzen sich zu einer besonderen Atmosphäre, meint er:
"Das ist eine wunderbare Kombination! Nebenan kann ich zwischen den Lesungen in einem wunderbaren Raum unter der Orgel kurz Atem schöpfen, dann komme ich hierhin zurück - das ist wie ein Traum. Ich bin froh, dass ich hier sein darf, zusammen mit dem angenehm gestimmten Publikum, bei diesem Treffen, dieser Seance."
Ivan Rezac vertritt in der Nacht die österreichische Literatur. Und auch hier geht es um die andere Stadt, um ein Zerr- und Spiegelbild des geheimnisvollen Prag. Denn Perle, die Hauptstadt des Traumreiches aus Alfred Kubins Roman "Die andere Seite", trägt deutliche Züge eines jenseitigen Prag. Der vorgetragene Ausschnitt aber führt uns in die Vorstadt:"Es war ein kleines Dörfchen, in das ich trat. Niedere Holzhäuschen, schrullig in ihrer Form, winzige Kuppelbauten, kegelförmige Zelte. Jede Wohnung war von einem gepflegten Gärtchen umgeben. Von ferne gesehen, wirkte diese Kolonie wie eine ethnographische Musterausstellung. Signalstangen mit Wimpeln und Glasscheiben, zahllose große und kleine groteske Figuren in Steingut, Holz und Metall standen herum, ein Durcheinander mit Moos bewachsen. Ehrwürdige Bäume verhüllten das meiste mit ihren tief herabhängenden Zweigen. Hier waren die Ureinwohner des Traumlandes zu Hause. Eine eigentümliche Ruhe lag über allem. Wie widersprach hier alles den Zuständen im übrigen Traumreich. Dort die Hast, hier die Ruhe. Ich dachte darüber nach und versuchte, die Ergebnisse meinen anderen Erfahrungen anzugliedern. Der alte Professor hatte in manchem Recht. Das gesamte Traumland war einem Bann unterworfen, die Schrecken und der unleugbar humoristische Einschlag in unserem Leben standen in Verbindung."
Inzwischen ist es halb neun. Draußen auf den Straßen ist es bereits dunkel. Traumreich und Wirklichkeit, Perle und magisches Prag vermischen sich. Die Nacht der Literaturen beginnt.