„Die Öffnung beibehalten“ – Wolftraud de Concini zur Zukunft der Kulturhauptstadt Pilsen
Wolftraud de Concini war bei Radio Prag schon des Öfteren zu hören – die diesjährige Stadtschreiberin der Kulturhauptstadt Plzeň / Pilsen hat aber auch eine Menge zu erzählen. In der neuen Ausgabe von „Heute am Mikrofon“ zieht Wolftraud de Concini ein Resumé über die vergangenen Monate, blickt zurück auf ihre frühste Kindheit in einem kleinen Dorf in Ostböhmen, und wagt einen Ausblick auf die Zukunft der Stadt Pilsen.
„Ein Filmteam aus Bozen hat mich besucht, es hat für die deutschsprachigen Südtiroler Sendungen einen Dokumentarfilm gedreht. Nicht nur über mich, doch sie sind von meinen Erfahrungen als Stadtschreiberin ausgegangen. Wir haben ganz im Westen begonnen, in Plöß, auf Tschechisch Pleš, einem nicht mehr vorhandenen Dorf. Über Pilsen sind wir dann nach Ostböhmen in meine Geburtsstadt Trautenau gegangen. Wir waren auch in dem Dorf, in dem ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbrachte – Radowenz. Wir haben dort in der Schule gelebt, und durch einen besonders glücklichen Zufall war die Tür zur Schule offen. Ich war zuvor schon mehrmals dort und hatte sie mehrmals verschlossen gefunden. Mit ein bisschen Bedenken bin ich dann hineingegangen. Darin saß ein sehr freundlicher junger Mann, dem ich in meinem Nicht-Tschechisch erklärt habe, warum ich das Haus ansehen will. Wir sind dann hineingegangen und haben fotografiert und gefilmt. Das war wirklich eine große Emotion, zum ersten Mal nach 70 Jahren in ein Haus zu kommen, in dem man als Kind fünf Jahre gelebt hat. Es hat sich zwar komplett verändert, aber der Fußboden ist noch mehr oder weniger derselbe, den ich damals betreten habe. Das war wohl eine der größten Emotionen in der ganzen Zeit.“
Waren Ihre Eltern Lehrer?
„Mein Vater war Lehrer, und deshalb haben wir in der Schule gelebt. Es war die typische, ich würde sagen habsburgische Schulstruktur. Im Erdgeschoss waren zwei Lehrerwohnungen und oben die Schulklassen. Manchmal war es umgekehrt, aber wenn man in ein Dorf geht, das noch mehr oder weniger erhalten ist, kann man sofort erkennen, was einmal die Schule war. Diese 08/15-Struktur findet sich überall.“Stimmt es, dass Ihr Geburtsname Schreiber war? Damit waren Sie ja fast prädestiniert als Stadtschreiberin von Pilsen.
“Ich bin eine geborene Schreiberová, und von der Schreiberin zur Stadtschreiberin ist es nur ein kleiner Schritt.“
„Richtig. Im Tschechischen, auf meinem Ausweisungsbefehl, heiße ich ‚Schreiberová‘, und wenn man das übersetzt, würde man Schreiberin sagen. Früher wurde das -in ja auch im Deutschen an den Zunamen angehängt. Und von der Schreiberin zur Stadtschreiberin ist es dann nur ein ganz kleiner Schritt.“
Sie haben auch die großen Veranstaltungen und Aktionen in Pilsen besucht. Doch ich hatte den Eindruck, dass Ihnen die kleinen, eher vergessenen Geschichten und Personen mehr am Herzen lagen.
„Ich bin der Meinung, die großen Veranstaltungen wurden ohnehin genug propagiert. Da gab es wirklich eine gut funktionierende Werbetrommel in Pilsen. Und darum dachte ich, dass ich mich mit diesen Events nicht so sehr beschäftigen muss. Ich gehe lieber auf Dinge oder Ereignisse der Vergangenheit ein, die der Normalbesucher, der im Internet nach Veranstaltungen sucht, vielleicht gar nicht findet.“Wie haben Sie diese Dinge gefunden? Zum Beispiel schreiben Sie über eine verlassene Synagoge in Bezdružice / Weseritz, die heute als Garage benutzt wird…
„Ich würde sagen, es war oft ein glücklicher Zufall dabei. Es gab einfach verschiedene Quellen, manchmal auch das Internet, und auch wenn häufig nur eine kleine Information vorlag, habe ich versucht, der Sache nachzugehen und bin auf verschiedene Sachen gestoßen. Einiges findet man manchmal auch bei Radio Prag. Und wenn man mit den Leuten spricht, gibt es auch in den kleineren Orten immer wieder Personen, die einen auf etwas aufmerksam machen. In diesem Fall hat ein Bekannter, dessen Eltern und Großeltern aus dem Ort stammen, mich nach Bezdružice eingeladen. Bei der Gelegenheit habe ich im Internet gesucht und entdeckt, dass es eine alte Synagoge gibt. Sie ist nicht ganz leicht zu besichtigen, aber wir haben es dann geschafft hineinzukommen. Ich würde mir wirklich wünschen, dass sich jemand um die Synagoge kümmern würde. Die Besitzer bräuchten eine Menge Geld, um sie zu restaurieren. Sie haben das nicht, sondern müssen Sie als Lagerraum und Garage benutzen. Es muss aber doch jemanden geben, der Interesse hat, eine so schöne und auch im Inneren interessante Synagoge zu erhalten.“
Auf Ihrem Blog schreiben Sie, die Pilsener seien „freundschaftlich-reserviert“. Wie hat denn die Zusammenarbeit mit den Pilsenern geklappt?„Ich habe geschrieben, sie seien freundlich reserviert in dem Sinne, dass sie einem nicht sofort um den Hals fallen. Aber wenn man sie kennenlernt, sind es wirklich Personen, auf die man sich verlassen kann, die sehr hilfsbereit sind und einem sehr entgegenkommen. Außerdem werden die Einheimischen auf eine Person von außen auch etwas neugierig. Ich habe einige Freundschaften geschlossen, habe eine Menge Leute kennengelernt, und unter diesen vielen Leuten waren einige, mit denen ich sicher weiter in Kontakt bleiben werde.“
„Pilsen hat Bauwerke aus allen Jahrhunderten. Auf diesen Reichtum sollte die Stadt auch in Zukunft setzen.“
Wer oder was hat sie in dem Jahr am meisten beeindruckt?
„Das ist schwer zu sagen, denn mich hat vieles beeindruckt. Von außen betrachtet hat mich die Landschaft sehr beeindruckt. Das ist eine Landschaft, die wohl wirklich meinem Naturell entspricht – ich würde dafür das etwas banale Wort der Seelenlandschaft verwenden. Aber es ist so – diese leicht gewellte, sanfte Landschaft, auch in Richtung Böhmerwald, wo es dann gebirgiger wird. Das ist meine Landschaft. Abgesehen von den Menschen, die ich getroffen habe, hat mich an Pilsen die Vielfalt der Architektur stark beeindruckt. Ich hatte ja immer meinen Fotoapparat dabei und habe auch immer wieder Neues entdeckt, nicht nur die bekannten Bauwerke am Hauptplatz oder in der Altstadt, sondern auch in den anderen Stadtteilen. Es gibt so viele interessante Bauwerke, und eben aus den verschiedensten Jahrhunderten. Ich denke, das ist ein Reichtum, auf den Pilsen auch in Zukunft setzen müsste.“
Sie fotografieren auch ganz ungewöhnliche Dinge – auf Ihrer Webseite gibt es das zu sehen, nämlich Oberleitungen von Straßenbahnen!„Ja, da lachen alle, wenn ich das erzähle. Irgendwann einmal habe ich nach oben gesehen – der Himmel war übrigens fast immer blau, in der Zeit, in der ich dort war – und habe festgestellt, dass diese Oberleitungen wunderschön aussehen. Dann habe ich angefangen, sie zu fotografieren, ich habe eine Menge Fotos gemacht. Nicht nur bei blauem Himmel, sondern auch bei verhangenem, grauem Himmel. Ich hoffe sehr, dass auch daraus einmal eine Fotoausstellung wird. Es sind wirklich grafisch und fotografisch interessante Fotos.“
Das Kulturhauptstadtjahr ist noch nicht vorbei, aber es neigt sich dem Ende zu. An dem Konzept gibt es immer wieder Kritik, dass in einem Jahr sehr viel aufgefahren wird und danach oft nur wenig bleibt. Was sagen Sie dazu, was würden Sie Pilsen für die Zukunft wünschen?„Das ist schwer zu beurteilen. Doch ich möchte Pilsen wünschen, dass es in den kommenden Jahren den Rhythmus beibehalten kann, den es in diesem Jahr hatte. Mit dem Geld ist es natürlich ein Problem. In diesem Jahr ist wohl ziemlich viel geflossen, ob es gereicht hat, weiß ich nicht. Soviel bekommt die Stadt in Zukunft sicher nicht. Aber das Ganze muss so organisiert werden, dass diese Öffnung, die Pilsen in diesem Jahr vollzogen hat, auch beibehalten wird. Das ist wirklich mein größter Wunsch für die diesjährige Kulturhauptstadt.“
Wolftraud de Concinis schönste Fotos aus der Zeit als Stadtschreiberin sind übrigens momentan im Zentrum Bavaria Bohemia in Schönsee in der Oberpfalz zu sehen, die Ausstellung dauert noch bis Ende Oktober und wandert dann weiter nach München.