Wolftraud de Concini: „Böhmen hin und zurück“

Foto: ARUNDA 84/2013 und Verlag Bibliothek der Provinz

Wolftraud de Concini ist in Böhmen geboren, in Deutschland aufgewachsen und lebt seit 1964 lebt in Italien. Um festzustellen, welche Beziehung sie zu ihrer früheren Heimat hat, besuchte sie Tschechien. Dabei wanderte sie die Strecke ab, die sie und ihre Familie bei der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg gegangen waren. Die Autorin von Texten zu mehr als 30 Reisepublikationen veröffentlichte dann im vergangenen Jahr ihr erstes literarisches Buch: „Böhmen hin und zurück“ heißen ihre Memoiren, in denen sie die Vertreibung und ihre Rückkehr nach Böhmen beschreibt. Radio hat mit Wolftraud de Concini gesprochen.

Foto: ARUNDA 84/2013 und Verlag Bibliothek der Provinz
„Als ich noch nicht einmal zwei Jahre alt war, wurde einer meiner Onkel, ein deutscher Geistlicher, von den Nationalsozialisten wegen ‚Abhörens feindlicher Sender“ zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Als ich zwei war, wurde mein älterer Bruder an der Ostfront eingesetzt und kam in Stalingrad ums Leben. Als ich drei war, wurde mein zweiter Bruder zum Arbeitsdienst berufen und dann zum Militär eingezogen. Als ich fünf war, wurden wir aus unserer böhmischen Heimat vertrieben.“

Frau de Concini, Sie haben im vergangenen Jahr ihr Erinnerungsbuch mit dem Namen „Böhmen hin und zurück“ herausgegeben. Es sind aber keine üblichen Memoiren, in denen man auf das ganze Leben zurückblickt. Sondern Sie erinnern sich an einen ganz spezifischen Meilenstein, den Sie als kleines Kind erlebt haben. Worum geht es in diesem Buch „Böhmen hin und zurück“?

Radvanice  (Foto: Google Street View)
„Der Meilenstein fängt am 8. Juni 1945 an. Ich muss vielleicht ein bisschen zurückgehen: Ich bin im Jahr 1940 in Trautenau / Trutnov geboren. Mein Vater war Lehrer im Dorf Radovenz / Radvanice, und wir haben dort auch gelebt. Im Juni 1945 sind wir innerhalb von einer Stunde vertrieben worden. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich habe vage Erinnerungen und habe einige Sachen wahrscheinlich aus den Erzählungen meiner Eltern zusammengestellt. Es ist also schwer zu sagen, was wirklich meine persönlichen Erinnerungen sind und was nicht. Sehr spät, vor zwei drei Jahren erst, habe ich angefangen, auf diese Zeit wieder etwas zurückzublicken. Ich bin zweimal nach Tschechien gekommen, einmal im Jahr 2011 und dann im Jahr 2013. Ich habe versucht, meine Wurzeln zu orten und auch mein Verhältnis, meine Beziehung zum heutigen Tschechien und zu den heutigen Tschechen auszuloten. Denn es war für mich interessant zu sehen, zu erfahren und zu erleben, wie die Tschechen mich heute sehen und wie ich die Tschechen erlebe.“

Radvanice  (Foto: Google Street View)
Und was haben Sie festgestellt?

„Ich habe zu meiner großen Freude festgestellt, dass ich – wenn ich auf das Thema zu sprechen kam – als Landsmännin akzeptiert wurde. Und das hat mich sehr gefreut.“

Sie haben im Sommer 2013 beschlossen, die Strecke abzuwandern, die Sie damals mit Ihrer Familie gegangen sind - also aus Ihrem Dorf an der Grenze zu Polen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Wolftraud de Concini: „Böhmen hin und zurück“  (Foto: Archiv Radio Prag)
„Zwei Jahre zuvor bin ich bereits einmal in unser Heimatdorf gefahren. Ich habe dort einen zweisprachigen Ausweisungsbefehl gefunden, auf Tschechisch und auf Deutsch. Und ich habe gedacht, ich möchte mal diese Strecke abwandern. Ich wollte einfach die Straße berühren und genau sehen, wo wir da gegangen waren. Natürlich hat sich viel geändert: Die Dörfer sind sehr viel kleiner geworden. Außerdem hatte ich kaum mehr Erinnerung daran. Ich weiß nicht genau: Aber es war, als ob ich wieder Besitz ergreifen wollte von dieser Gegend, die wir damals verlassen hatten.“

War für Sie diese Rückkehr schwer? Welche Gefühle hatten Sie dabei?

Vertreibung  (Foto: Sudetendeutsches Archiv / Creative Commons 1.0 Generic)
„Nein, schwer war es überhaupt nicht. Es waren große Emotionen, aber es waren sehr schöne Emotionen. Denn ich muss dazu sagen, dass ich persönlich die Vertreibung nicht als tragisch erlebt habe. Meine Eltern wahrscheinlich schon, aber ich nicht. Und sie waren sehr geschickt, mir die Tragik der Vertreibung zu verbergen. Ich habe also während der Vertreibung auch nichts von Tod und von Trauer gespürt. Wir persönlich haben auch nichts Tragisches erlebt, weder meine Familie noch die anderen Familien aus unserem Heimatdorf. Darum war es eine etwas melancholische, aber keine tragische Wanderung. Ich habe unterwegs überlegt, was wir damals wohl gesehen haben, ob wir überhaupt etwas gesehen haben, was vielleicht die Gedanken meiner Eltern waren und so weiter.“

Stara Kraśnica  (Foto: Google Street View)
Wohin führte Sie Ihr Weg damals dann weiter? Sie sind zunächst nach Polen gegangen, wie war es weiter?

„Ja wir sind nach Polen gegangen, und da habe ich wieder ein Loch in meinen Erinnerungen. Wir sind irgendwie auf einen Bauernhof in Polen gekommen, zu einem damals deutschsprachigen Bauern in Alt Schönau / Stara Kraśnica. Dort sind wir neun Monate geblieben, mein Vater hat dort auf dem Bauernhof geholfen. Und irgendwann sind wir von dort weggefahren. Das muss eine plötzliche Entscheidung gewesen sein, also die Entscheidung meiner Eltern. Wie wir dann in den Westen, in ein Flüchtlingslager an der Grenze zwischen der englischen und der russischen Besatzungszone gekommen sind, das weiß ich nicht.“

Niedersachsen  (Foto: Sternweh,  Wikimedia CC BY-SA 2.5)
Danach haben Sie in Norddeutschland gelebt…

„Wir haben dann in Niedersachsen in einem Bauerndorf gelebt.“

Sie stellen sich in dem Buch die Frage, was Ihre Heimat ist. Wie lässt sich diese Frage beantworten: Sie wurden in Böhmen geboren, nach dem Krieg sind Sie in Norddeutschland aufgewachsen, und seit den 1960er Jahren leben Sie in Italien. Wo fühlen Sie sich zu Hause?

„Ganz spontan muss ich sagen, für mich ist Böhmen meine Heimat. Durch den langen Aufenthalt in Italien, wo ich seit dem Jahr 1964 lebe, ist auch das für mich eine Heimat geworden. Denn zur Heimat gehören familiäre Affekte, das ganze Milieu, das soziale Umfeld - alles, was man um sich hat. Demnach würde ich sagen, Italien ist meine zweite Heimat. Aber jetzt nach dieser Wanderung und nach meiner Rückkehr nach Böhmen – wenn auch nur für wenige Tage – würde ich absolut spontan antworten, wenn ich jetzt gefragt würde: Böhmen ist meine Heimat.“

Illustrationsfoto: Archiv Radio Prag
Sie haben Böhmen als fünfjähriges Mädchen verlassen. Woran aus der Zeit davor können Sie sich noch erinnern?

„Ich kann mich etwas daran erinnern, wie unsere Wohnung in der Schule aussah, dass da ein riesiger Kachelofen in der Küche stand. Ich kann mich erinnern, dass zu uns Leute zu Besuch kamen. Dann kann ich mich erinnern, dass auf einmal auf der Straße Panzersperren aufgebaut wurden. Ich habe mir nicht erklären können, was das war, und wir konnten nicht mehr ganz frei auf der Straße spielen. Dann habe ich zwei, drei Blitzlichter von der Vertreibung selber. Einmal waren wir schon aus der Schule in ein anderes Haus gekommen, und da mussten wir eben in einer Stunde weg. Ich kann mich erinnern, dass ein junger tschechischer Soldat gekommen ist, ich saß auf einem Stuhl, und er hat mir die Kniestrümpfe angezogen und die Schuhe zugebunden und hat dabei geweint. Das ist eine meiner Erinnerungen. Das werde ich niemals vergessen. Ich wüsste gerne, ob dieser Soldat noch lebt, das könnte theoretisch noch sein. Und dann kann ich mich erinnern, und ich sehe das wie aus einer anderen Perspektive, wie wir vom Dorf die Straße etwas hinauf gehen. Denn von Randvanitz aus geht eine Straße mit einer Kurve etwas in die Höhe, und da sehe ich uns gehen. Was mir auch immer in den Erinnerungen geblieben ist, ist unsere erste Übernachtung: eine Übernachtung unter freiem Himmel. Es war Sommer, es waren sehr schöne Tage, es war Neumond an dem Tag. Ich weiß nicht, wie viele Leute wir waren, wahrscheinlich waren wir sehr viele, denn als Kind hat man andere Vorstellungen und andere Erinnerungen als ein Erwachsener. Es war eine dunkle und sternklare Nacht. Für mich war es eine wunderschöne Nacht.“

Foto: Felixco,  Inc.,  FreeDigitalPhotos.net
Sie beschreiben das sehr schön in Ihrem Buch. Haben Sie in der Zwischenzeit begonnen, sich noch mehr für Tschechien interessiert. Haben Sie zum Beispiel Übersetzungen tschechischer Bücher gelesen, nach Berichten aus Tschechien gesucht und so weiter?

„Ja, natürlich. Als ich vor drei Jahren wusste, dass ich mit einem Fotoauftrag nach Tschechien fahren soll, habe ich mich natürlich etwas mehr damit beschäftigt. Ich habe auch versucht, aber ohne großen Erfolg, ein bisschen Tschechisch zu lernen. Aber ich bin wirklich über dobrý den, dobrý večer und so nicht hinausgekommen. Aber sonst war Tschechien für mich schon immer irgendwie ein Mythos, obwohl ich nicht hingefahren bin. Tschechische Literatur habe ich eigentlich weniger gelesen, das erst in jüngerer Zeit. Aber tschechische Musik hat mich schon immer fasziniert. Und wenn ich irgendwo Gelegenheit hatte, einen Tschechen zufällig zu treffen, dann habe ich immer gleich versucht, ein Gespräch anzuknüpfen. Vielleicht habe ich es mythisiert, und ich hatte vielleicht Angst, wieder nach Tschechien zurückzukehren, weil ich Angst hatte, dass dieser Mythos zerstört würde. Darum habe ich vielleicht so lange gebraucht, bis ich hingefahren bin. Aber der Mythos ist nicht zerstört worden.“


Dieser Beitrag wurde am 11. Februar 2014 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.