Comic-Buch: Deutsche Zeitzeugen erinnern sich an ihre Kindheit in Böhmen und in Mähren
Sie stammen aus Ostrava / Ostrau, Postoloprty / Postelberg, Liberec / Reichenberg, der Gegend von Ústí nad Labem / Aussig und aus dem Böhmerwald. Als sie nach dem Kriegsende die Tschechoslowakei verlassen mussten, waren sie noch Kinder. Heute leben sie in Deutschland. Anhand von Gesprächen mit fünf deutschen Zeitzeugen entstand das Comic-Buch „Odsunuté děti“, zu Deutsch: „Vertriebene Kinder“, das vor kurzem von der NGO Post Bellum herausgegeben wurde. Jan Blažek hat das Buch zusammengestellt, und Martina Schneibergová hat mit ihm gesprochen.
Herr Blažek, wie entstand die Idee zu diesem Comic-Buch?
„Wir hatten ursprünglich schon rund 50 Gespräche mit deutschen Zeitzeugen geführt. Dann haben wir uns die Frage gestellt, wie wir sie der Öffentlichkeit vorstellen sollen. Es handelt sich um Menschen, die in der Nachkriegszeit Kinder waren und die heute Senioren sind. Aber trotzdem sind das Kindheitsgeschichten. Wir überlegten, wie wir das Schicksal der Zeitzeugen der jüngeren Generation näher bringen könnten. Natürlich inspirierten uns die von Post Bellum bereits herausgegebenen Comic-Bücher. Bei der Auswahl der Zeitzeugenerinnerungen achteten wir darauf, dass Männer und Frauen vertreten sind, Menschen aus kleineren Orten und größeren Städten, aus verschiedenen Regionen der heutigen Tschechischen Republik sowie Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten.“
War es schwierig, die Menschen anzusprechen? Und war es für die Zeitzeugen schwierig, ihre Erinnerungen zu erzählen?
„Das ist natürlich ganz individuell. Ich glaube, am schwierigsten ist die Entscheidung, bevor wir die Menschen treffen. Wenn sie sich also entscheiden, mit uns – mit Tschechen – überhaupt darüber zu sprechen. Im Laufe des Gesprächs habe ich die Erfahrung gemacht, dass es in den ersten Minuten noch ein wenig angespannt sein kann. Dann lockert es sich aber, und die Menschen werden immer offener.“
Können Sie eine der Geschichten näher vorstellen?
„Herr Gruss stammt aus Mährisch Ostrau und hat während des Krieg ganz verschiedenes erlebt. Er war etwa in Westböhmen, und später ist er im sogenannten Hungermarsch nach Polen ausgesiedelt worden. Ihm und den anderen wurde damals gesagt, sie seien nun in Deutschland. Aber zu der Zeit gehörte das Gebiet schon zu Polen. Gruss verbrachte dort ein halbes Jahr, dann wurde er in die entstehende DDR vertrieben. Von dort aus ist er bald illegal über die Grenze in die Bundesrepublik gegangen.“
Im Buch sind auch Erinnerungen von Herrn Kempe aus Postoloprty enthalten. Das Massaker von Postelberg war in den vergangenen Jahren schon ein Thema in den Medien, es gibt auch ein Theaterstück darüber. War es schwierig, einen Zeitzeugen aus dieser Stadt zu finden?
„Ich muss zugeben, dass wir nicht gezielt nach jemand aus Postelberg gesucht haben, sondern durch einen Zufall auf Herrn Kurt Kempe gestoßen sind. Er nimmt an, er ist einer der letzten Augenzeugen der damaligen Ereignisse. Herr Kempe war wirklich sehr offen und froh, dass er mit uns darüber sprechen konnte. Er war ein indirekter Zeuge der dortigen Massaker, deswegen hat er überleben können. Damals war er 13 Jahre alt. Das interessante an seiner Geschichte ist, dass ihm ein Tscheche das Leben gerettet hat, der Mitglied der sogenannten Revolutionären Garden war. Das ist schon sehr seltsam.“
Eigentlich sind alle diese Geschichten hochinteressant. Eine spielt im Böhmerwald…
„Diese Geschichte hat auch interessante Aspekte. Die Bewohner des Böhmerwalds waren oft Schmuggler und kannten ihre Schleichwege, wie sie sagen. Manche von ihnen sind diese Wege mit ihrem Hab und Gut noch vor der Vertreibung gegangen. Sie ließen sich dann auf der anderen Seite der Grenze nieder und haben gesehen, wie der Eiserne Vorhang gebaut wurde, wie ihre Dörfer dem Boden gleichgemacht wurden. Nach der Wende konnten sie ihre alte Heimat besuchen. In unserer Geschichte geht es um zwei Männer, die das Dorf besuchten und die Grundmauern der früheren Pfarrkirche freilegten. Im Buch gibt es außerdem eine Erzählung aus der DDR. Die Zeitzeugin wurde dorthin ausgesiedelt. Sie fühlte sich dort sehr seltsam, weil das Thema der Vertreibung in der DDR genauso wie hierzulande ein Tabu war. Die Frau konnte darüber nie offen sprechen. Und noch eine Geschichte wird in unserem Buch erzählt. Es sind die Erinnerungen von Rosemarie Kraus, eine Verwandte des Komponisten Antonín Dvořák ist. Sie mag alles, was böhmisch ist, besucht das Land sehr oft und spielt Orgel in den hiesigen Kirchen.“
Haben Sie mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die Orte besucht, aus denen sie stammen?
„Nein, aber ich fuhr im Nachhinein selbst hin. Die Gespräche, die im Buch enthalten sind, sind alle in Deutschland aufgezeichnet worden. Wir reisen immer mit einem Team und zwei Kameras dorthin und nehmen längere Gespräche auf. Daraus erstellen wir nicht nur Bücher, sondern auch Filme. Wir haben noch große Pläne damit.“
Können Sie Näheres verraten?
„Im Moment spielen wir mit der Idee, eine der Geschichten zu verfilmen. Ein Dokumentarfilm wäre ebenfalls schön und vielleicht auch eine Ausstellung.“
Werden die Geschichten auch auf Deutsch erscheinen?
„Ja. Im nächsten Jahr, wenn es die Situation erlaubt. Wir suchen derzeit nach einem Partnerverlag in Deutschland oder Österreich.“
Mit wem arbeiteten Sie an dem Comic-Buch zusammen?
„Literarisch hat die Geschichten Marek Toman bearbeitet. Anhand dessen haben anschließend vier Künstler die Geschichten in ein Comic umgearbeitet. Das Buch verfolgt zwei Mädchen- und drei Jungenschicksale. Diese haben Magdalena Rutová, Františka Loubat, Jakub Bachorík, Stanislav Setinský und Jindřich Janíček künstlerisch gestaltet.“
Wie sind die Reaktionen auf das Comic-Buch?
„Um ehrlich zu sein, habe ich eine heftigere Diskussion darüber erwartet. Dies war allerdings nicht der Fall. Das Buch wird positiv aufgenommen.“
Für welche Leserkategorie ist das Buch bestimmt?
„Das Buch ist für ältere Kinder bestimmt. Aber auch Erwachsene können es gerne lesen. Von Kritikern, die Rezensionen von Kinderbüchern schreiben, wird das Buch positiv beurteilt.“
Haben Sie dieses Buch auch im Rahmen des Bildungsprogramms von Post Bellum vorgestellt?
„Ja. Die jeweiligen Filmaufnahmen haben wir in kurze Beiträge gefasst, die wir an Schulen vorführen. Danach gibt es immer eine Debatte. Im Laufe des letzten Monates habe ich das Comic an mehreren Schulen vorgestellt. Unser Wunsch ist, dass dieses Buch in Zukunft ein Teil der Schulbibliotheken ist.“
Wie ist Ihre Erfahrung aus den Treffen mit Schülern und deren Lehrern? Haben sie gute Kenntnisse zum Thema?
„Wir werden immer von einem Lehrer eingeladen. Das heißt, dieser Lehrer hat schon eine gewisse Voreinstellung zu dem Thema. Und das spielgelt sich in der Haltung der Schüler wieder. Ich war positiv überrascht, dass die Schüler mittlerweile darüber unterrichtet werden. In unserer Generation war dies noch nicht der Fall. Heutzutage wissen die Schüler hingegen schon einiges, sie sind besser vorbereitet.“
Seit wann arbeiten Sie mit Post Bellum zusammen?
„Ich bin dort seit 2019 beschäftigt. Aber meine Kollegen, die auch Deutsch sprechen, haben schon früher solche Gespräche geführt. Wir haben bereits 200 Aufnahmen. Wenn ich eine Reise nach Deutschland unternehmen darf, machen wir etwa zwei Gespräche pro Tag. Unser Vorhaben ist es, zwei- bis dreimal im Jahr nach Deutschaland zu fahren. Das ist im Moment natürlich schwierig.“
Mit wem arbeiten Sie auf deutscher Seite zusammen?
„Meist sind es Leute, die aus verschiedenen Gründen mit Tschechien verbunden sind. Das sind in der Regel Menschen aus der zweiten Generation, also Kinder von den Zeitzeugen, mit denen wir sprechen. Zuletzt haben wir in Dresden gedreht, weil wir der Meinung waren, dass wir nicht genügend interessante Geschichten aus der ehemaligen DDR haben. Um Zeitzeugen zu gewinnen, haben wir mit unserem Partner in Dresden auch Anzeigen geschaltet. Und die Interessierten haben sich dann von sich aus bei uns gemeldet. Gern würden wir auch in Österreich drehen. Da fehlt es uns bisher aber leider an Kontakten. Wer sich also durch diesen Beitrag angesprochen fühlt, kann sich gern bei uns melden. Wir wären froh, wenn wir unsere Tätigkeit auch in diesem Land ausweiten könnten.“