Schicksal im Grenzgebiet: Künstler Lukáš Houdek
Lukáš Houdek ist Fotograf, Publizist und nicht zuletzt Aktivist. Er studierte Romistik an der Prager Karlsuniversität, und als Fotograf dokumentierte er das Leben der Roma an verschiedenen Orten Tschechiens sowie im Ausland. Das Thema der Minderheiten zieht ihn immer wieder an. Für seine Dokumentation über die Albinos in Ghana wurde er mit dem tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet. Mehrere seiner Projekte wurden von der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach dem Kriegsende sowie die nachfolgenden Verwandlungen um das tschechische Grenzgebiet inspiriert. Am vergangenen Wochenende stellte Lukáš Houdek einige seiner Projekte beim Böhmerwaldseminar im westböhmischen Klatovy / Klattau vor. Bei dieser Gelegenheit hat Martina Schneibergová mit dem Künstler gesprochen.
Lukáš Houdek stammt aus der westböhmischen Stadt Stříbro / Mies. Heute hat der Ort rund 8000 Einwohner. Die Bergbausiedlung, die an der einstigen Goldenen Straße zwischen Nürnberg und Prag liegt, wurde im13. Jahrhundert zur königlichen Stadt erhoben. Im 17. Jahrhundert strömten viele deutsche Einwanderer in das bis dahin tschechisch geprägte Stříbro. Sie sorgten für eine Wiederbelebung des dortigen Silberbergbaus. Anfang des 20. Jahrhunderts war die überwiegende Mehrheit der Stadtbewohner deutschsprachig. Dass früher in seiner Heimatstadt auch Deutsche gelebt haben, erfuhr Houdek in seiner Kindheit bei den häufigen Friedhofsbesuchen. Er erinnert sich:
„Ich hatte viel Zeit, mich auf dem Friedhof umzusehen. Meine Aufmerksamkeit weckten schon damals verlassene deutsche Gräber. Ich fand es traurig, dass sich niemand um sie kümmerte. Aber mir gefielen die alten Fotos auf den Grabsteinen. Dann merkte ich, dass diese Fotos langsam verschwinden. Entweder werden sie gestohlen oder vernichtet. Dies fand ich schade und fing an, die Porträts für mich selbst zu dokumentieren.“
Viele Jahre später entdeckte Houdek, dass es viele weitere Friedhöfe mit ähnlichen verlassenen Gräbern in der Region gibt. Er besuchte sie alle, fotografierte die Bilder und notierte die Angaben über die Bestatteten. Dabei kam ihm die Idee, eine Kunstinstallation mit dem Titel „Verlegte Leben“ zu kreieren, bei der alle diese Fotos gezeigt werden. Damit wollte er an das Schicksal der bestatteten Menschen erinnern, sagt Houdek:
„Bei der Arbeit an der Kunstinstallation fand ich die Tatsache wichtig, dass die Menschen bei der Vertreibung jeweils etwa 20 Kilo Gepäck mitnehmen durften, vermutlich das Allernotwendigste. Aber niemand konnte seine verstorbenen Nächsten mitnehmen. Mir war klar, dass dies für viele sehr schwer sein musste. Denn ich wusste, dass es etwa für meine Mutter sehr traurig wäre, wenn sie das Andenken ihrer Nächsten auf dem Friedhof nicht ehren könnte. Ich fand es richtig, an die Menschen zu erinnern, deren Andenken man an ihren Gräbern nicht pflegen konnte.“
„Verlegte Leben“
Die Kunstinstallation wurde zum ersten Mal im bayerischen Kloster Speinshart gezeigt. Auf einem Tisch waren zudem Daten zu den fast 100 Fotografien zu lesen. Die Installation in der Klosterkapelle habe eine starke Wirkung gehabt, erzählt der Künstler:
„Nach der Ausstellung meldete sich bei mir ein Mann aus Belgien. Er war auf der Durchreise und schaute sich die Installation im Kloster an. Dort fand er eine Aufnahme seines Großvaters, von dem er bis dahin er kein Foto hatte. Er bat mich, ihm die Fotografie zu schicken. Derartige Zufälle erlebe ich verhältnismäßig oft.“
„Die Kunst zu töten“
Vor mehr als acht Jahren schuf Lukáš Houdek eine Fotoserie mit dem Titel „The Art of Killing – Die Kunst zu töten“. Er fotografierte historisch gekleidete Barbiepuppen, auf die ihr männliches Pendant Ken das Gewehr richtet, die gefoltert oder getötet werden. Die Bilder stellten wahre Ereignisse nach, die Massaker an deutschen Zivilisten nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich. In der Schule sei lediglich eine „Abschiebung“ der Deutschen erwähnt worden, erinnert sich der Künstler:
„Ich habe damals nicht begriffen, was eine wilde Vertreibung in der Wirklichkeit bedeutete. Als Kinder meinten wir, dass die Leute vermutlich wild geflohen seien. Dass dabei Menschen aber getötet wurden, ahnte ich nicht. Als ich nach den Gründen suchte, warum einer der Friedhöfe schon vor Jahren vernichtet worden war, stieß ich auf Informationen über Gewalttaten, bei denen auch mehrere Menschen umgebracht wurden. Das hat mich schockiert. Ich fühlte mich vom Bildungssystem betrogen, denn darüber wurde in der Schule nichts gesagt. Es wurde einfach verschwiegen. Anschließend entschied ich mich, nach Informationen über die Fälle zu suchen, bei denen Menschen im Grenzgebiet ums Leben kamen. Dabei konzentrierte ich mich aber nicht auf die bekannten Tragödien, wie beispielsweise die von Postoloprty. Anhand von Dokumenten und Erinnerungen von Zeitzeugen versuchte ich, zu rekonstruieren, wie es zu den Ermordungen kam. Für die Darstellung der Szenen benutzte ich die Barbie-Puppen. Die Fotos wirken stärker, als wenn man nur über die Ereignisse liest.“
Bei den Vorbereitungen der Installation ging Houdek seinen Worten zufolge von Archivdokumenten aus, die ihm der Historiker Adrian Portmann zur Verfügung stellte. Über die Fotoserie hat damals auch Radio Prag International berichtet.
Die Vorgänge im Grenzgebiet in der Nachkriegszeit beschäftigten Lukáš Houdek auch in den folgenden Jahren. Er kreierte eine weitere Fotoserie mit dem Titel „The Art of Settling – Die Kunst der Ansiedlung“. Diese betraf dem Künstler zufolge die Region, aus der er stammt. Als er während seines Romistik-Studiums eine Arbeit über die Roma schrieb, die die Grenzregionen besiedelten, stieß er auf den Nachlass einer Kommission:
„Auf den ersten Blick waren die Dokumente eher langweilig. Aber dann stellte ich fest, dass es darunter viele Briefe gab, die zwischen den einzelnen Behörden ausgetauscht wurden. Das Bild über die Besiedlung des Grenzgebiets, das mir einst meine Oma vermittelte, entsprach nicht der Wirklichkeit. Meine Oma war jung, als sie sich in der Grenzregion niederließ, und hatte scheinbar nur gute Erinnerungen daran. Aber die Kommunikation zwischen den Behörden und den neuen Bewohnern, die ich lesen konnte, war sehr zugespitzt.“
Die Fotoserie geht von den Originaltexten aus dem Archiv aus. Es handelt sich – ähnlich wie bei der Serie „Die Kunst des Tötens“ – um Miniaturen von Wohnungen, die jedoch menschenleer sind.
„Die Menschen fehlen dort aus dem Grund, weil ich immer noch das Gefühl habe, dass unsere Region oder das Grenzgebiet überhaupt entwurzelt ist. Dass wir nicht dorthin gehören, sondern künstlich in die Kulissen eingesetzt worden sind. Ich denke, dass viele der Bewohner keine Beziehung zu dieser Region haben. Zahlreiche jüngere Menschen ziehen weg.“
„Das Geschenk“
Das bisher letzte Projekt von Lukáš Houdek mit der Nachkriegsthematik heißt „Das Geschenk“. Es wurde 2019 in einer Ausstellung in Landshut vorgestellt. Der Künstler dazu:
„Ich nenne das Projekt eine ‚Intervention in 50 deutsche Haushalte‘. Diese Intervention hat jedoch niemand gefordert. Meine Oma, die nach dem Krieg nach Stříbro kam, lebte in einem Haus, das zuvor einer deutschen Familie gehörte. In der Wohnung sind auch persönliche Dinge zurückgeblieben, die die Vertriebenen nicht mitnehmen konnten. Diese Gegenstände bildeten eine Kulisse des Lebens meiner Familie. Da ich gern Kommunikation aufnehme und Brücken baue, entschied ich mich, 50 Gegenstände aus unserem gegenwärtigen Haushalt an 50 Familien zu schicken, deren Vorfahren aus Stříbro vor allem nach Bayern vertrieben wurden.“
Unter den persönlichen Dingen waren beispielsweise kleine Plastiken sowie Alltagsgegenstände aus Houdeks Kindheit. Die Pointe bestand dem Künstler zufolge darin, dass die Objekte verpackt und ohne jedwede Erklärung abgeschickt wurden. Nur Houdeks Adresse in Stříbro stand auf dem Päckchen.
„Es hing von den Adressaten ab, ob sie darauf reagieren und erfahren wollten, worum es geht. Nach einigen Monaten meldeten sich die ersten Empfänger. Bisher habe ich fünf Briefe bekommen, meistens von den Kindern der Vertriebenen. Sie haben begriffen, worum es mir ging, und waren gerührt. Ich brauchte ihnen nichts zu erklären.“
Ein Teil der Päckchen kam zurück, weil die Adresse nicht mehr stimmte. Aber der Künstler ist sich gewiss, dass sich künftig noch weitere Empfänger melden werden.