Unbekannter Großvater aus dem Sudetenland: Deutscher Nachfahre durchforstet tschechische Archive
Der Vater Emil kam aus dem Sudetenland und ließ sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland bei Heidelberg nieder. Mit diesem Familienhintergrund hat sich der Sohn Wolfgang auf Spurensuche begeben. Archivmaterialien in Tschechien führen ihn dabei immer weiter in die Vergangenheit zu einem unbekannten Großvater. Welche Erfahrungen macht der ehemaligen Lehrer bei seinen Besuchen in Tschechien? Und was motiviert ihn, so tief in die eigene und auch die deutsch-tschechische Geschichte einzutauchen?
Herr Schröter, berichten Sie uns doch bitte von dem deutsch-tschechischen Hintergrund Ihrer Familie!
„Ausgangspunkt ist, dass mein Vater Sudetendeutscher war. Er ist in Tschersing, also Čeřeniště, bei Leitmeritz (Litoměřice) aufgewachsen. Geboren wurde er im Nachbarort Ritschen, also Rýdeč.“
Und wann haben Sie angefangen, sich dafür zu interessieren?
„Mein Vater wollte immer mal wieder, dass ich mit ihm dort hinreise. Das war natürlich zur Zeit des Eisernen Vorhangs schlecht möglich. Erste Impulse hat mir dann gegeben, dass ich als Gymnasiallehrer noch vor der Wende mit den elften Klassen Prag-Fahrten gemacht habe. Dabei habe ich gemerkt, dass diese böhmischen Mittelgebirge etwas mit mir machen.“
Hat Ihr Vater viel von seiner Kindheit im Sudetenland erzählt?
„Nicht so viel, nein. Diese Generation hatte ja den Krieg erlebt. Mein Vater war von Anfang bis Ende Soldat. Seine Generation war sehr von Gewalt geprägt. Obwohl mein Vater Lehrer war, galt damals das Wort, dass der Wille des Kindes gebrochen werden müsse. Und ich habe auch den Riemen zu verspüren bekommen. Als Jugendliche hatten wir dann erst einmal keinen großen Bock, uns mit der Vergangenheit unserer Eltern zu beschäftigen – nach dem Motto: Ihr habt diesen Krieg angezettelt, jetzt löffelt die Suppe dann auch aus.“
Sie waren also schon vor der Wende öfter in Prag. Was waren Ihre Eindrücke?
„Ich habe mich angesprochen gefühlt von der Lage der Stadt und von den schönen Gebäuden. Eine Nora Landovská hat uns eine Führung durch den Veitsdom gegeben, die mich schwer beeindruckt hat. Ich bin ja Organist und habe damals in der Teynkirche die Orgel spielen dürfen. Das war noch ein ganz merkwürdiges Pedal – da waren die Obertasten genauso hoch wie die Untertasten. Und auf der Karlsbrücke waren Jugendliche, mit denen wir uns auch unterhalten haben. Schon auf der Hinfahrt habe ich einen Hundert-D-Mark-Schein hochgehalten und unseren Elftklässlern gesagt, sie sollten sich anständig benehmen, denn dies ist das Monatsgehalt eines Tschechen. Dann bin ich in die Buchläden und habe dort DDR-Literatur mitgenommen, zum Beispiel die ‚Alltagsgeschichte des deutschen Volkes‘ von Jürgen Kuczynski. Und als Musiker und Physiker würde ich sagen, Heimat ist immer so etwas, das mit Resonanzen zu tun hat. Wenn einen etwas anspricht, dann macht das etwas mit einem, und das ist auch ein schönes Gefühl.“
Und wie ging es dann weiter? Sie waren ja vor kurzem in Litoměřice in den Archiven. Wie erging es Ihnen in den vergangenen Jahren bei der Erforschung Ihrer Familiengeschichte?
„Den letzten Kick hat ein Familiengeheimnis gegeben. Und zwar hat sich herausgestellt, dass mein Vater unehelich geboren wurde. Das wurde in der Familie geheim gehalten. Mein Vater hat es sicherlich gewusst – das war auch der Grund, warum er recht bald den Abflug aus dem Sudetenland gemacht hat. Und zwar hatte er 1937 die Chance, ein – damals noch – Auslandspraktikum zu machen auf einem Musterhof bei Heidelberg, in einem Ort namens Muckensturm, ein kleines Kaff. Da war ein Gutsherr Friedrich Schmitt ein hohes Tier im Reichsnährstand. Mein Vater Emil konnte dort ein Praktikum machen, nachdem er in Leitmeritz die Ackerbau-, Obst- und Weinbauschule besucht hatte.“
Was haben Sie in letzter Zeit in den Archiven in Tschechien Weiteres erfahren?
„Ich habe das Staatsarchiv in Litoměřice / Leitmeritz angeschrieben. Und schon zwei Tage später war ich ganz entzückt, als eine Antwort kam. Dabei war ein Link auf die Taufbücher des Jahres 1917 aus dem Pfarramt Triebsch, das heute Třebušín heißt. Nach etlichem Blättern habe ich tatsächlich den Eintrag meines Vaters Emil im September 1917 gefunden. Im Register stand ‚unehelich‘. In dem Taufbuch war aber ein nachträglicher Eintrag erfolgt. Mein Vater war im September 1917 geboren, aber die Heirat seiner Mutter mit Heinrich Schröter erfolgte erst im Mai 1919. Das steht auch so in seinem Arierpass, den ich aufbewahrt habe. Da hätte mir schon dämmern müssen, dass dies im katholischen Österreich-Ungarn eigentlich ungewöhnlich ist. Wenn eine Geburt anstand, dann heiratete man schnell. Weil das nicht erfolgt ist, ist dies noch ein Indiz, dass Heinrich Schröter – der sich dann im Taufbuch eingetragen hat – nicht der leibliche Vater von Emil war. Er erklärte sich aber als Vater dieses Kindes. Der Eintrag lautete dann, dass damit die Geburt von Emil Schröter rechtens und das Kind legitimiert ist. Da kommen einem schon fast die Tränen, dass man Kinder als illegitim angesehen hat, wenn sie unehelich geboren waren.“
Das heißt, dass Sie Ihren eigentlichen Großvater nicht kennen.
„Genau, und auf dessen Spuren habe ich mich jetzt begeben. Sehr beeindruckend fand ich, dass in der österreichischen Nationalbibliothek sogar die alten Zeitungen digitalisiert sind. Die Suchroutinen funktionieren sogar mit der damaligen gebrochenen Schrift. Ich habe also Emil und Tschersing eingegeben, und es erschien unter anderem die Leitmeritzer Zeitung von 1918 mit einer Todesanzeige von einem Josef Vetter. Von meiner Tante Hermine wusste ich, dass er auch zur Verwandtschaft gehörte. Sie hatte mir einst ein Bild von ihm gegeben, auf dem er Geige spielt. Dieser musikalische Aspekt hat mich, der auch viel Musik macht, ebenfalls beeindruckt. Also habe ich dann in dieser Richtung noch einmal weitergeschaut.“
Damit fahren Sie jetzt fort?
„Mein Vater heißt Emil, obwohl sein eingetragener Vater Heinrich heißt. Normalerweise wurde ja der Erstgeborene nach dem Vater genannt. Die Vermutung ist nun also, dass der leibliche Vater den Vornamen Emil hatte. Ich habe mal in den Verlustlisten nachgeschaut mit der Theorie, dass Emil ja um Weihnachten 1916 gezeugt wurde und es sich deshalb um einen Soldaten auf Heimaturlaub handelte, der dann vielleicht umgekommen ist. Dabei bin ich auch fündig geworden mit einem Emil Schreier, habe das aber nicht weiter verfolgt. Denn das Narrativ, dass der leibliche Vater im Krieg umgekommen ist, wäre ja etwas gewesen, das seine Mutter Albine ruhig hätte erzählen können. Aber das wird wohl so nicht gewesen sein.“
Warum ist es denn für Sie wichtig, mehr über die Hintergründe Ihrer Familiengeschichte zu erfahren?
„Da wird es psychologisch. Alles, was unbewusst ist und was wir unausgesprochen mit uns herumtragen, das rumort in uns. Es gibt dann den Rumpelstilzchen-Effekt: Wenn man es benennen kann, dann fällt es in sich zusammen. Die Frage, woher wir kommen und wer unsere Vorfahren waren, das ist ganz existenziell. Und ich denke auch, dass unser Wohlbefinden schon davon abhängt, ob unsere Vorfahren – metaphysisch gesprochen – wohlwollend auf unseren Lebenswandel schauen. Wenn ich mich mit der Vorgeschichte beschäftige, habe ich das Gefühl, dass es mir gut tut, Dinge in Erfahrung zu bringen.“
ZUM THEMA
Gibt es da auch einen gewissen Versöhnungsaspekt, was die deutsch-tschechische Geschichte angeht?
„Unbedingt. Ich war entzückt, als ich auf YouTube Aktionen gesehen habe wie zum Beispiel ‚Naši Němci – Unsere Deutschen‘. Dass also von tschechischer Seite aus inzwischen das passiert, was unsere westdeutschen Vertriebenenverbände seit 70 Jahren nicht hinbekommen – nämlich ein ernsthaftes Interesse beiderseits an dem, was da eigentlich geschehen ist. Und auch an der Tragik und beiderseitigen Schuldverstrickung.“
„Naši Němci“ ist eine Ausstellung, die in Ústí nad Labem läuft.
„Und auch Antikomplex ist eine Initiative, auf die ich gestoßen bin. Diesen Aspekt der Versöhnung kann man auch am deutsch-französischen Verhältnis erkennen. Wie funktioniert er? Man kocht mal böhmische Knödel, oder man besucht sich oder tauscht sich aus. Der eine interessiert sich für den anderen. Was mir noch einfällt zu dem Foto von Josef Vetter, das mir meine Tante Hermine vor ein paar Jahren hat zukommen lassen: In der Todesanzeige in der Leitmeritzer Zeitung ist unter den Trauernden ein Sohn Emil aufgeführt. Dies ist noch eine weitere Spur, dass ein Emil Vetter vielleicht der Vater sein könnte wegen der Ähnlichkeit im Aussehen. Es gibt also Spuren. Und als ich den Emil Vetter im Archiv Leitmeritz eingegeben habe, klappte eine Verurteilung von 1946 auf – weil er in der NSDAP im Landesernährungsamt von Leitmeritz wohl irgendwelche krummen Sachen gemacht hatte. Genaueres weiß ich noch nicht, weil das alles auf Tschechisch ist. Also ich habe noch einiges vor mir.“