Wo die Steine rollen: der Film über das Massaker von Leština
Das öffentlich-rechtliche Tschechische Fernsehen sendet am 8. Mai einen neuen Dokumentarfilm aus der Kriegszeit. In dem Film geht es nicht um den millionenfachen Mord in deutschem Namen während des Zweiten Weltkriegs, sondern vor allem um ein Massaker an deutschen Zivilisten. Diese Tragödie spielte sich in den letzten Stunden des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Friedensstunden ab und zwar in der kleinen mährischen Gemeinde Leština unweit von Zábřeh na Moravě / Hohenstadt. Zuerst waren tschechische Zivilisten ums Leben gekommen, danach deutsche. Autoren des Dokumentes über die Ereignisse sind die beiden tschechischen Filmemacher Josef Urban und Dan Krzywon. In ihrem Film schildern sie die Geschichte individuellen menschlichen Versagens.
Die Tragödie begann am 7. Mai 1945. Durch die Gemeinde Leština / Lesche fuhr eine deutsche Armeekolonne, die vor den Russen zu flüchten versuchte. Während der Fahrt erklang ein Schuss, jemand schoss auf die Soldaten. Ein Soldat kam angeblich ums Leben. Kurz danach traf eine SS-Truppe in Leština ein, um den Täter zu bestrafen. Wer damals geschossen hatte, ist bis heute unklar. Die Truppe nahm einfach fünf Männer aus Leština gefangen. Auf einer Wiese etwa zehn Kilometer von der Gemeinde entfernt schlugen die SS-Leute die Männer zusammen, folterten und erschossen sie dann.
Zwei Tage später, am 9. Mai, als schon Frieden herrschte, erfuhren die Bewohner von Leština, wie ihre Verwandten getötet wurden. Sie fuhren zum Ort der Hinrichtung, um die Leichname ins Dorf zurückzubringen. Unter ihnen war auch der Bruder eines der Ermordeten. Als die Bewohner während der Fahrt einem alten deutschen Straßenarbeiter begegneten, den sie kannten, sprang der Bruder wütend vom Wagen runter und schlug auf den alten Mann mit einem Spaten ein, bis dieser tot war. Es war wohl als Rache gedacht. Auf diese Weise begann das brutale Ereignis, das als das Massaker von Leština bezeichnet wird.
Die Bewohner von Leština fingen an, sich für die von der SS Getöteten an Deutschen aus ihrer nächsten Umgebung zu rächen. Ivo Wagner gehört zu jenen, die dabei einige Verwandte verloren:
„Ich glaube, dass damals die Emotionen des Krieges hoch geschlagen sind. Die Leute kamen nach Vitošov / Witteschau. Dort töteten sie die Eltern meines Onkels und meine Tante, die damals noch sehr jung war. Meine Tante haben sie grausam zugerichtet, sie haben ihr die Brüste abgeschnitten, den Mund zerschnitten und ihr die Augen ausgestochen. Jemand fand die Tante in diesem Zustand und brachte sie noch ins Krankenhaus nach Šumperk / Mährisch Schönberg. Man konnte sie nicht mehr retten, aber sie war noch imstande, zu schreiben, wer ihr das angetan hat.“
Die wütende Menschenmasse begab sich von Vitošov nach Leština zurück. Amalie, deren Mädchennamen damals Winkler war, ahnte nichts Böses:
„Mein Vater arbeitete als Wächter in einer Fabrik. Er war bei allen Menschen sehr beliebt. Manchmal bekam er vom Gärtner Blumen für die Mutter. Wir waren mehrere Kinder. Meine Mutter half nur gelegentlich bei den Bauern. An dem Tag war sie gerade weg. Der Vater kam vom Nachtdienst, kochte für uns das Mittagessen. Da kamen zwei Männer rein und sagten: Winkler, kommen Sie mit uns! Die Leute erzählten später, dass die Männer den Vater getötet haben. Meine Mutter brach zusammen, denn sie wusste nicht, was sie machen soll. Sie hatte die Kinder am Hals und konnte sowieso keine Arbeit aufnehmen.“
Die tschechischen Bewohner von Leština jagten an diesem 9. Mai insgesamt 16 deutsche Nachbarn in eine Grube auf einem Feld. In Anwesenheit des halben Dorfes wurden sie gesteinigt und mit Spaten, Eisenstangen und Schaufeln erschlagen. Unter ihnen auch der Vater von Amalie Winkler. Die Mehrheit der weiteren Ermordeten waren Arbeiter vom nahe liegenden Steinbruch. Erst im Mai 2000 wurden die Opfer des Massakers exhumiert.
Die Hinterbliebenen suchen heute nach den Gründen für das Massaker an der deutschstämmigen Bevölkerung. Ivo Wagner glaubt, dass es der abnormalen Situation unmittelbar nach Kriegsende zuzuschreiben ist:
„Ich glaube, dass es drei Tage später nicht mehr passiert wäre. Die Leute sahen damals auf einmal, sie können sich für etwas rächen und waren davon überzeugt, sie würden etwas ganz Heldenhaftes und Großes tun. Aber sie begingen Gräueltaten, die man nicht verzeihen kann.“
Für den Film haben die Filmemacher Aussagen von Augenzeugen genutzt, die in der Zeit der Tragödie Kinder oder Jugendliche waren und in irgendeiner Beziehung zu dem Massaker standen. Der Fall von Leština ist für den Drehbuchautor Josef Urban nicht das erste tschechisch-deutsche Thema, mit dem er sich beschäftigte.„Vor vielen Jahren paddelte ich mit meinem Vater auf einem Kanu auf dem Fluss Morava, und in der Nähe von Olšany kenterten wir. Vor uns sahen wir ein halb zerfallenes Haus und mein Vater sagte zu mir: ´Dies ist doch die Habermann-Mühle. Dort wurde ein Deutscher getötet, aber er war kein schlechter Mensch, im Gegenteil.´ Dies habe ich mir gemerkt. Denn in der Schule habe ich über Deutsche nur das Allerschlimmste gehört. Nach Jahren traf ich in Šumperk mit Menschen zusammen, die mir über Habermann mehr erzählten. Anhand dessen schrieb ich den Roman Habermanns Mühle, der viele Reaktionen hervorrief, die aber nicht nur positiv waren. Und während der Arbeit an diesem Buch wurde ich auf den Fall von Leština aufmerksam.“
Für den Film hat Urban mit dem Kameramann und Dramaturg Dan Krzywon zusammengearbeitet. Urban kannte die Arbeiten des Historikers Tomáš Staněk, der sich mit den so genannten „Exzessen“ befasst hat. Im Staněks Buch über die Verfolgung der Deutschen von 1945 seien, so Urban, wichtige statistische Angaben zusammengefasst:
„Wir haben uns eher damit befasst, was die Leute zu ihren Taten getrieben hat, was die Lawine von Gräueltaten verursacht hat. Aus dem Grund haben wir unseren Film ´Kde se valí kameny´ (Wo die Steine rollen) genannt. Denn in unmittelbarer Nähe von Leština liegt der Steinbruch von Vitošov. Wenn sich ein Stein loslöst, reißt er weitere Steine mit sich. Ich meine, dass der Titel der Wirklichkeit entspricht. Wenn jemand verrückt wird und andere mitreißt, wird die Lawine immer größer.“
In der Geschichte des Massakers von Leština geht es Urban zufolge um eine individuelle und keine kollektive Schuld. Niemand dürfte sich aber damals vorgestellt haben, dass das Massaker nach mehr als 60 Jahren auf die Leinwand kommen könnte, sagt der Filmemacher:
„Wichtig ist, dass alles bereits nach der Kapitulation passiert ist. Der Krieg war damals schon beendet. In Leština hat der Krieg aber eigentlich erst in dem Moment begonnen und dauerte 60 Jahre lang. Die Mehrheit der Bewohner von Leština ahnt bis heute nicht, dass sich bei ihnen etwas so Grausames abgespielt hat. Vor allem die jungen Menschen haben überhaupt keine Ahnung. Dabei hat damals ein Großteil der Bewohner dem Massaker beigewohnt. Und niemand trat für die Leute ein.“Josef Urban meint, man müsse zwischen den Leuten unterscheiden, die sich aus Eigennutz so schrecklich verhielten, und jenen, die nur mitgerissen wurden. Drittens gab es seiner Meinung nach Leute, die gar nichts mit den Verbrechen zu tun hatten und die unschuldig waren - genauso wie die Tschechen, die von der SS ermordet wurden oder die Deutschen, die massakriert wurden. Würden sich einzelne Menschen ohne Unterstützung der Masse so benehmen?
„Die Masse befand sich in einem Extase-Zustand. Als einzelne Menschen hätten sie die Taten nie begangen. Als wir den Film drehten, hatten wir 45 Schauspieler für die Szene mit den Gruben engagiert, wo die Leute zu Tode geschlagen wurden. Wir haben die Schauspieler so aufgehetzt, dass sie Steine auch gegen die Kamera geworfen haben. Auf einmal war mir klar, dass man als einzelner Mensch nichts gegen das gewaltsame Toben der Massen erreicht hätte, auch wenn man an dem Ort gestanden hätte. Viele der Leute schauten damals wahrscheinlich zu, weil sie Angst hatten, dass sie sonst unter den Steinen der wütenden Nachbarn selbst den Tod finden würden.“
Den Film hat Josef Urban mit seinen Mitarbeitern vor einigen Tagen im Kino in Zábřeh na Moravě / Hohenstadt gezeigt, das nur fünf Kilometer von Leština entfernt liegt. Die Zuschauer seien schockiert gewesen, viele hätten geweint, sagen die Filmemacher. Im Kino waren Menschen, die das Massaker als Kinder miterlebt haben. Nach der Vorstellung erzählte eine Frau Josef Urban, dass sie damals sieben Jahre alt war, und die Erwachsenen hätten versucht, ihr die Ohren mit Kissen zu zuhalten. Das Interesse für den Film war unheimlich groß, sagt Urban:
„Man kann doch nicht jemanden ohne Grund töten, in der Erde vergraben und es passiert nichts. Wenn jemand meint, dass sich so etwas vertuschen und verschweigen lässt, irrt er sich. Eine solche Tat wird immer ans Tageslicht gelangen, dies ist meine Lebenserfahrung. Dies gilt auch für das Massaker von Leština von 1945.“
Bis heute sind nicht alle jene bekannt, die sich unmittelbar an dem Massaker beteiligt haben. Keiner der Täter wurde vor Gericht gestellt.