Neubesiedlung der Sudetengebiete nach 1945: Spurensuche eines jungen Buchautors am Altvatergebirge
Jesenicko heißt die Region im nordwestlichsten Zipfel des tschechischen Teils Schlesiens. Historisch betrachtet liegt diese Gegend auf dem Gebiet des ehemaligen Kronlands Österreichisch-Schlesien. Geografisch gesehen gehört sie zum Altvatergebirge, also dem Gebirgszug der Ostsudeten mit dem höchsten Berg Praděd, auf Deutsch Altvater. Der Historiker Matěj Matela erzählt über seine Spurensuche nach Schicksalen ehemaliger deutscher Bewohner in den bergigen Gegenden. Im Mittelpunkt steht die Neubesiedlung der Region nach der Vertreibung.
Der 32-jährige Ethnograf und Historiker Matěj Matela folgte nach seinem Hochschulstudium in Prag dem Ruf seiner Heimat am Nordrand des Altvatergebirges. Selbst in Vrbno, früher Würbenthal geboren, nahm er eine Stelle am heimatkundlichen Museum von Jeseník an. Dort befasst er sich mit dem Kulturerbe der deutschsprachigen Bevölkerung, das nach deren Vertreibung aus dem kollektiven Gedächtnis der Tschechen gelöscht werden sollte.
Die neuen kommunistischen Machthaber in der Tschechoslowakei setzten nach dem Zweiten Weltkrieg dafür entsprechende Richtlinien in die Praxis um. Kurz nach der Vertreibung von zehntausenden Deutschen aus der Gegend des Altvatergebirges wurden viele Ortschaften tschechisch umbenannt, deren deutsche Namen seit Jahrhunderten bekannt waren. Ähnliches galt auch für weitere geografische Namen. So wurde etwa die Bezeichnung „Sudeten“ aus dem tschechischen Sprachgebrauch beseitigt und durch das Wort „Grenzgebiete“ ersetzt. Wie aber hatte sich noch vor dem Krieg die Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Bezirks Jesenicko zusammengesetzt? Matěj Matela führt aus:
„Der Anteil der Tschechen an der Gesamtbevölkerung in dieser Region entsprach knapp einem Prozent. Nach 1918, als die selbständige Tschechoslowakei gegründet wurde, kamen nur noch einige wenige Tschechen als Beamte hinzu. Der hiesige Bevölkerungsanteil der ethnisch deutschen Muttersprachler galt als einer der zahlenmäßig höchsten im gesamten Sudetengebiet. In den weiter östlich gelegenen Regionen des Altvatergebirges wie zum Beispiel in den Gegenden von Šumperk/Schönberg oder Opava/Troppau stieg hingegen die Zahl der Tschechen zunehmend an.“
Ein Prozent Tschechen
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im tschechischen Landesteil des Staates zu den größten Bevölkerungsverschiebungen in der Geschichte dieser Region: Es begann die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung. Dabei wurde nach gewissen Kriterien vorgegangen:
„Der Umfang der Aussiedlung hing in unserer Region mit den konkreten Standortbedingungen zusammen. Je niedriger der jeweilige Ort oder die konkrete Immobilie lag, umso höher war der Anteil der ausgesiedelten Deutschen. Zu den Kriterien, die von den Behörden in Erwägung gezogen wurden, zählte neben diesem Faktor der Lage auch die Frage nach der Fruchtbarkeit des Bodens, also die Möglichkeit landwirtschaftlicher Nutzung. Das galt allerdings nicht in höhergelegenen Gebieten. Zum Beispiel in der Ortschaft Vidly, auf Deutsch Gabel, unweit meiner Heimatstadt Vrbno, durften 40 Prozent der deutschsprachigen Bewohner bleiben.“
In unmittelbarer Folge der Vertreibung wurden einzelne Gebiete auch neubesiedelt. Die Machthaber wollten damit auch eine neue kollektive Identität vor Ort schaffen.
Hoffnung auf ein besseres Leben
Matěj Matela verweist in diesem Zusammenhang auf einen grundlegenden Unterschied zwischen der Neubesiedlung der Sudetengebiete in Böhmen sowie in Schlesien und Mähren:
„In den früher von Deutschen bewohnten Grenzgebieten Böhmens siedelten sich Tschechen aus dem Binnenland, wie zum Beispiel aus dem Elbgebiet, oder aus Südböhmen an. Ziemlich bald zeigte sich aber, dass es nicht so schnell wie von den Behörden gelang, die Vertriebenen durch eine entsprechende Zahl an Neusiedlern zu ersetzen. Nach Tschechisch-Schlesien kamen daher auch Menschen aus weiter entfernten Gebieten: aus der Slowakei, Polen, Ungarn, später sogar aus Rumänien und Griechenland. Des Weiteren waren es Tschechen aus dem westukrainischen Wolhynien, deren Vorfahren vor langer Zeit dorthin ausgewandert waren. Die meisten verließen ihre Heimatregionen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Selten hatten sie jedoch eine konkrete Vorstellung davon, was auf sie in Schlesien wirklich zukommt. Wie sich früher oder später zeigte, kamen manche von ihnen zum Beispiel nicht mit dem rauen Gebirgsklima zurecht. Andere waren wiederum enttäuscht, weil sie keine gute Arbeit fanden oder keine passende Unterkunft erwerben konnten. Zugleich aber bestand wenig Interesse an Bauernhöfen in höher gelegenen Ortschaften, die relativ geringe Bodenproduktivität versprachen. Obendrein tauchten auch sogenannte ‚Goldgräber‘ auf – also Nutznießer, die es nur auf einen schnellen materiellen Gewinn abgesehen hatten, um sich dann genauso schnell wieder aus dem Staub zu machen.“
Viele Neuankömmlinge gingen wieder. Ein Teil von ihnen probierte es in anderen Gebieten der Tschechoslowakei. Doch auch ohne sie wurde der Bezirk Jeseník zu einem echten Schmelztiegel verschiedener Sprachen, Kulturen und Gewohnheiten. Die Neusiedler veränderten maßgeblich das Bild und die sozialen Strukturen. Die neu zusammengewürfelte Gesellschaft verfügte allerdings nicht über das kollektive Gedächtnis der früheren alteingesessenen Bewohner. Und sie identifizierte sich nicht mehr mit Schlesien als historischer Region.
Aber schon vor der tatsächlichen Machtübernahme durch die Kommunisten im Februar 1948 wurde damit begonnen, an einem neuen Narrativ zu arbeiten. Das heißt, die Geschichte wurde umgedeutet. So verschwanden zum Beispiel die früheren sudetendeutschen Mitbürger schlagartig nicht nur aus den Lehrplänen für den Schulunterricht, sondern generell aus dem öffentlichen Diskurs. Das Thema wurde tabu.
Nach der politischen Wende von 1989 in der Tschechoslowakei war es aber auch nicht möglich, in Kürze gleich mit allen Tabus zu brechen. Anders war dies dann erst für die Generation des 1992 geborenen Matěj Matela. Er entschied sich nach seinem Studium und der Rückkehr aus Prag, den Fokus gerade auf die Jahrzehnte lang verdrängte sudetendeutsche Geschichte zu richten. Dabei wolle er keineswegs die Zeit vor 1945 idealisieren, sehe dort aber auch Positives als mögliche Inspiration für die Gegenwart, unterstreicht der Historiker.
„Der Glöckner von Zuckmantel“
Vor zwei Jahren veröffentlichte Matela sein erstes Buch, es trägt den Titel „Zvoník z Cukmantlu“ (auf Deutsch „Der Glöckner von Zuckmantel“). Von diesem hatte er im ersten Teil seines Gesprächs für Radio Prag International erzählt. Aufgrund seiner Recherchen in alten Kirchenbüchern und Ortschroniken, die zumeist in Schwabacher Schrift verfasst wurden, holte er 20 deutschsprachige Schlesier mit interessanten Biografien aus der Vergessenheit. Ob Künstler oder Handwerker, Wissenschaftler oder Arbeiter – Matela bezeichnet sie alle als bedeutende Persönlichkeiten. Derzeit arbeitet der Historiker an einem weiteren Buch mit 20 Porträts, und auch dieses soll offenbar nicht sein letztes sein. Zudem will er nach wie vor Beiträge für kulturhistorische Fachmagazine schreiben. Sein Engagement begründet Matěj Matela so:
ZUM THEMA
„Für mich bedeutet es viel, dass ich der Region, in der ich geboren wurde, aufgewachsen bin und nun auch mit meiner Familie lebe, etwas von ihrer Geschichte zurückgeben kann, was ihr infolge historischer Begebenheiten entzogen wurde. Meiner Meinung nach wissen immer mehr Menschen hierzulande, dass man nicht mehr alles, was deutsch war, grundsätzlich als schlecht verurteilen kann. Jahrhunderte lang wurde die hiesige Landschaft überwiegend von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewirtschaftet und kultiviert, die im Prinzip nicht anders war als die tschechische oder die polnische Bevölkerung. Wenn man zum Beispiel in der tschechischen und der deutschen Presse von Anfang des 20. Jahrhunderts blättert, stößt man praktisch auf die gleichen zugespitzten Animositäten gegenüber der anderen Ethnie sowie auf lügnerische Behauptungen. Zugleich aber liest man dort ebenso Artikel über ähnlich inspirierende Schicksale oder über positive Schritte zur Annäherung beider Nationen.“
Die Denkweise, der nach die einen böse seien, die anderen aber gut und daher das Recht auf ihrer Seite hätten, hält Matela auch beim Blick auf die Ländergemeinschaft der EU für überholt. Als Historiker und Buchautor wolle er in diesem Sinn einen Beitrag dazu leisten und habe daher bis zu seinem Lebensende viel zu tun, sagt der junge Mann.