„Der Glöckner von Zuckmantel“ – historische Spurensuche eines jungen Buchautors am Altvatergebirge
Die Bezirksstadt Jeseník, früher Freiwaldau, liegt an den Nordhängen des Altvatergebirges. Im dortigen heimatkundlichen Museum (Vlastivědné muzeum Jesenicka) arbeitet der junge Historiker Matěj Matela, der sich mit der Geschichte der Region befasst. Die Gegend war bis 1946 überwiegend von deutschsprachiger Bevölkerung bewohnt. Matela hat nun 20 Persönlichkeiten porträtiert, die bis zur Vertreibung dort gelebt haben. Es sind teils Menschen besonderen Charakters.
Matěj Matela hat eigentlich „Südost- und Mitteleuropa-Studien“ an der Prager Karlsuniversität absolviert und Serbisch und Ungarisch gelernt. Das Studium sei für ihn eine Gelegenheit gewesen, sich mit der Geschichte dieser Teile Europas vertraut zu machen. Für den 31-jährigen Historiker gab es allerdings noch eine weitere Motivationsquelle:
„Mein Interesse für diese Regionen Europas dürfte auch ‚genetische‘ Wurzeln haben. Die Vorfahren meiner Familie stammen aus dem östlichen Mitteleuropa und dem südlichen Balkan. Auf den ersten Blick mag es vielleicht verwundern, dass ich jetzt im heimatkundlichen Museum der Region Jesenicko tätig bin. Doch die Fächer, die ich studiert habe, sind sehr hilfreich für meinen Job. An der Uni habe ich mich auch allgemein mit Geschichte, Ethnografie und Kulturforschung befasst. Hinzu kommt, dass ich in meine nahe Jeseník gelegene Geburtsstadt Vrbno (auf Deutsch Würbenthal, Anm. d. Red.) zurückgekehrt bin.“
Seitdem hat Matela eine ganze Reihe von Artikeln sowohl in Fachmagazinen als auch in populärwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er Vorträge zur Geschichte einzelner Orte und Regionen Schlesiens. Dadurch ist er dauerhaft mit historischer Forschung beschäftigt.
Fast vergessene Persönlichkeiten
2022 erschien Matěj Matelas erstes Buch, es trägt einen alten Ortsnamen im Titel: „Zvoník z Cukmantlu“, auf Deutsch: „Der Glöckner von Zuckmantel“. Der auf Tschechisch und Deutsch ähnlich klingende Name der Stadt wurde früher gleichberechtigt verwendet. Als eines der mittelalterlichen Zentren des Goldbergbaus in der Region erlebte Zuckmantel eine Blütezeit. In Bezug darauf wurde es 1948 im Tschechischen in Zlaté Hory umbenannt. Die deutsche Übersetzung lautet in etwa Goldberge. Matelas Buch hat noch den Untertitel „20 fast vergessene Persönlichkeiten der Vorkriegszeit im Altvatergebirge“ (Dvacet pozapomenutých osobností předválečných Jeseníků).
Wie diesem Untertitel zu entnehmen ist, hat der Autor seinen Fokus bewusst nicht auf allgemein bekannte beziehungsweise berühmte Persönlichkeiten wie zum Beispiel den Naturheilkundler Vinzenz Prießnitz gerichtet. Er habe vielmehr aus den Schicksalen von auf den ersten Blick „gewöhnlichen“ Menschen ausgewählt, die er allerdings für „Persönlichkeiten“ halte, sagt er. 20 von ihnen stellt Matela vor. Warum aber ein Buch über frühere Bewohner von Mährisch-Schlesien?
„Es ging mir um die ‚Wiederbelebung‘ von Persönlichkeiten, die vor der Aussiedlung von 1946 einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Atmosphäre in unserer Region geleistet haben. Eigentlich wollte ich schon vor der Aufnahme meiner Arbeit im Museum von Jeseník etwas verfassen in Hinsicht auf den großen Kulturschock, der hierzulande nach dem Krieg über die Bühne ging. Und dies sollte nicht nur von beinahe vergessenen Schicksalen handeln, sondern vielmehr von vollkommen vergessenen Persönlichkeiten unserer Regionalgeschichte. Wichtige Anregungen für mich waren auch die Äußerungen von Staatspräsident Václav Havel in den 1990er Jahren oder etwa der tschechisch-deutschen Schriftstellerin und Publizistin Alena Wagnerová, ihrer tschechischen Fachkollegin Jiřina Šiklová und anderen Intellektuellen. Nach der politischen Wende sind ja schrittweise immer weitere Themen zur Sprache gebracht worden“, so Matěj Matela.
Zu kommunistischen Zeiten wäre eine Beschäftigung mit Persönlichkeiten der früheren deutschsprachigen Bevölkerung noch undenkbar gewesen. Impulse dazu kamen allerdings unmittelbar nach der Samtenen Revolution unter anderem von der Tschechoslowakisch-Deutschen Historikerkommission, die 1990 von den Außenministern beider Länder ins Leben gerufen wurde. Und die Reaktionen auf Matelas Buch „Der Glöckner von Zuckmantel“ beweisen, dass sich vieles seit den 1990er Jahren verändert hat, denn sie sind größtenteils positiv. So sagt der Autor:
„Ich persönlich bin nie in bedeutender Weise daran gehindert worden, Lebensgeschichten deutschsprachiger Schlesier zu thematisieren. Wenn ich mich allerdings schon vor etwa 20 Jahren in dieser Weise betätigt hätte und mein Buch auch erschienen wäre, wäre es bestimmt nicht auf ein solches Interesse gestoßen, wie dies heute der Fall ist.“
Vertreibung der Deutschen
Die von Matela Porträtierten haben einige Gemeinsamkeiten. Fast alle kamen in der Habsburger Monarchie zur Welt und waren sehr in der damaligen Gesellschaft verankert. Dabei haben sie sich sowohl mit der Monarchie identifiziert, die der Buchautor selbst am liebsten thematisiert, als auch mit der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Nur zwei oder drei der 20 Persönlichkeiten hätten den Zweiten Weltkrieg überlebt, sagt Matela. Als Hochbetagte, so der Autor, seien sie von der Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei verschont worden.
Schon die Titel der einzelnen Kapitel zeigen, dass es sich bei den Porträtierten um eine recht gemischte Gruppe handelt. Man lernt zum Beispiel einst bekannte Künstler oder Schauspieler kennen, aber auch Förster und Verwalter. Alle diese Leute sind später in Vergessenheit geraten.
Für das letzte Buchkapitel hat der Autor drei Persönlichkeiten ausgewählt. Unter ihnen Alois Kunz, der Glöckner von Zuckmantel…
„Der Glöckner von Zuckmantel stellt aus meiner Sicht eine symbolische Zäsur zwischen der Zeit vor und nach 1945 dar. Ich will die Vergangenheit überhaupt nicht idealisieren, sehe dort aber auch viele Positiva, die uns selbst heute noch inspirieren können. Alois Kunz war Bürgermeister der Stadt, später Abgeordneter für die Deutschen Christsozialen. Den Beinamen ‚Glöckner aus Zuckmantel‘ bekam er erst nach dem Krieg. Er war nicht von der Zwangsaussiedlung betroffen, weil er belegen konnte, dass er loyal zur Tschechoslowakischen Republik gewesen war und sich vom Nationalsozialismus distanziert hat. Mit 70 Jahren war er als Glöckner und Küster tätig. Irgendjemandem aus der Stadt fiel damals auf, dass die Kirchenglocke nicht wie angeordnet dreimal am Tag zu hören war, sondern wesentlich häufiger – bis zu 20 Mal. Man bestellte ihn ins Gemeindehaus ein, das damals in Nationalausschuss umbenannt worden war, und forderte eine Erklärung. Alois Kunz gestand, jedes Mal zu läuten, wenn er vom Tod eines vertriebenen früheren Bürgers erfuhr. In diesem Zusammenhang erhielt er den Beinamen Glöckner sowohl in der deutsch- als auch der tschechischsprachigen Gemeinschaft, allerdings mit unterschiedlichen Konnotationen. Die tschechoslowakische Presse verfasste ironische oder auch sarkastische Kommentare wie etwa: ‘Seht her, das sind die braven Deutschen, die solch eine Subversion betreiben’”, erläutert Matela.
Kunz‘ Verstoß hatte für ihn keine strafrechtlichen Folgen, weil er nicht rechtswidrig war. Auf das Läuten musste der Glöckner aber dennoch verzichten.
Im letzten Buchkapitel trifft man zudem auf den Namen Moritz Sachs von Hellenau. Laut Matela war er einer der bedeutendsten Schiffskommandanten der k. u. k. Kriegsmarine und wurde vor seiner Pensionierung zum Vizeadmiral ernannt. Seinerzeit soll er auch Kaiserin Elisabeth (Sissi) auf ihrer Yacht bei den langen Schifffahrten quer durchs Mittelmeer begleitet haben. Für die größte Persönlichkeit aus der Gegend hält Historiker Matela jedoch Adolf Lorenz. Der in Vidnava / Weidenau geborene Mitbegründer der modernen Orthopädie wurde als Chirurg in vielen Ländern bekannt, unter anderem auch in den USA. 1923 fehlte ihm nur eine einzige Stimme der Nominatoren, um den Nobel-Preis für Medizin zu erhalten.
„Der Glöckner von Zuckmantel“ soll nicht Matelas einziges Buch zu dem Thema bleiben. Ihm zufolge haben noch viele weitere interessante Menschen im Altvatergebirge gelebt, die es verdienen, dass man über sie schreibt. Er glaube, dass er bis ans Ende seines Lebens genug zu tun haben werde, beteuert der begeisterte Historiker.