Vincenz Prießnitz – der Wunderheiler aus dem Wald

Die Ortschaft Grafenberg

Die Stadt Jeseník / Freiwaldau liegt in jenem Teil des Altvatergebirges, das schlesisch ist. Dort gründete Vincenz Prießnitz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das erste Wasserheilbad der Welt. Schon bald pilgerten jährlich mehrere Hundert Menschen nach Freiwaldau, um sich heilen zu lassen.

Die Ortschaft Grafenberg
Der Geist von Vincenz Prießnitz ist in und um Jeseník auf Schritt und Tritt zu spüren. Fast 100 Statuen und Denkmäler erinnern an den Gründer des dortigen Kurbads, teils aufgestellt von dankbaren Patienten. An den meisten dieser Erinnerungsstätten sprudelt auch eine kleine Quelle. Die Namen verraten oft die Nationalität der Spender, zum Beispiel heißen sie ungarische, polnische, schweizerische oder Wiener Quelle. Ein Denkmal ließ auch der rumänische König Carol errichten, ein anderes tschechische Künstler.

Bis in die 1930er Jahre kamen jährlich 1500 Gäste nach Freiwaldau, um dort ihre Gesundheit zurückzugewinnen. Und Ärzte aus ganz Europa besuchten das Kurbad, um die Heilmethoden von Prießnitz zu lernen. Der bewunderte Heilpraktiker verfügte dabei über keinerlei medizinische Ausbildung. Im heutigen Prießnitz-Heilbad macht Lukáš Němčík die Patienten mit der Geschichte der Einrichtung vertraut:

Vincenz Prießnitz
„Die Jugendzeit von Prießnitz war, wie bei seinen Zeitgenossen üblich, durch harte Arbeit auf dem Feld und im Wald geprägt. Mit zwölf Jahren wurde sein Vater blind, daher musste sich der junge Vincenz um die ganze Familie kümmern und konnte auch nicht in die Schule gehen. Das ganze Leben lang hatte er daher Probleme mit dem Lesen und Schreiben und war auf die Hilfe seiner Freunde angewiesen. Mit 16 Jahren erlitt er einen nächsten Schlag. Bei der Arbeit im Wald scheute ein Kutschpferd und der angehängte Wagen überrollte den jungen Mann. Ein Arzt soll damals gesagt haben, Vincenz werde für immer gelähmt sein, falls er überhaupt überlebe.“

Von den Tieren abgeschaut

Der Verletzte überraschte jedoch alle. Wie er später selbst erzählte, besann er sich auf seine Erfahrungen aus der Natur. Mehrmals soll er demnach wilde Tiere im Wald beobachtet haben, wie diese ihre verletzten Beine in Quellwasser tauchten und dann wieder problemlos laufen konnten. Mit Tüchern, die er in kaltes Wasser getaucht hatte, fixierte er die gebrochenen Beine und wegen gebrochener Rippen auch die Brust. Diese Tücher wechselte er regelmäßig aus. Nach einer gewissen Zeit verheilten seine Verletzungen komplett. Die Nachbarn von Prießnitz waren erstaunt über dessen Genesung und baten ihn, seine Methode zunächst bei ihrem Vieh und später dann auch bei ihnen selbst zu probieren. Der Erfolg lässt sich ganz einfach erklären. Die Ortschaft Grafenberg, in der Prießnitz wohnte, befand sich an einem Hang nahe Freiwaldau. Dieser Hang war reich an reinem, kaltem Quellwasser ohne jegliche Zusatzstoffe. Jaroslav Novotný, Chefarzt im Heilbad, zur Wirkung kalter Kompressen, den sogenannten Prießnitz-Umschlägen:

Vincenz Prießnitzs Geburtshaus  (Foto: Google Maps)
„Nicht die applizierte Kälte wirkt auf den menschlichen Organismus, sondern die nachfolgende Erwärmung. Dadurch wird die Durchblutung gefördert, Leukozyten werden weggeschwemmt, Entzündungen und Schmerzen gehen zurück. Wie die Kälte appliziert wird, ist eigentlich egal, frisches Quellwasser bietet sich jedoch an. Es hat eine optimale Temperatur zwischen sechs und zehn Grad Celsius und ist praktisch umsonst und in unbegrenzter Menge verfügbar. Eine langfristige Verwendung dieser Methode führt zur Stärkung des Immunsystems, volkstümlich zu einer Abhärtung. Der Organismus kommt dann mit negativen Reizen vom außen deutlich besser zurecht.“

Der Hexerei angeklagt

Diese Prinzipien waren schon in der Antike bekannt, im Mittelalter wurden sie aber wahrscheinlich vergessen, weil Körperlichkeit mehr und mehr als sündhaft galt. Prießnitz entdeckte sie für seine Zeitgenossen wieder. Er heilte die Hilfsbedürftige in seinem eigenen Haus, das er bald erweitern lassen musste. Der Weg zur Anerkennung seiner Heilmethode war aber nicht einfach, betont Lukáš Němčík.

„Prießnitz musste sich einem Konflikt mit Ärzten und Heilpraktikern aus der Umgebung stellen, diese wollten den unerwünschten Konkurrenten loswerden. Sie klagten ihn sogar der Hexerei an, nicht einmal 150 Jahre zuvor hatte es nämlich Hexenprozesse in der Region gegeben. Prießnitz wurde zwar nicht für schuldig befand, für gewisse Zeit aber musste er seine Pläne einmotten. Der Streit kam erst 1837 zu einem Ende, nachdem der Arzt am Wiener Kaiserhof den Wunderheiler aus Schlesien zu sich einlud. Die kaiserliche Kommission überprüfte dann die Methode vor Ort und erklärte sie für wirkungsvoll und empfehlenswert. Die öffentliche Anerkennung wurde schnell in der gesamten Habsburger Monarchie bekannt, und auch der höhere Adel begann, nach Freiwaldau zu fahren.“

Das verschlafene Städtchen im Altvatergebirge erlebte plötzlich einen Aufschwung ohnegleichen. Bald strömten die reichsten Menschen aus vielen Ländern Europas dorthin und blieben sogar das ganze Jahr lang. Dabei mussten sie auf Vergnügungen verzichten und waren einem harten Regime unterworfen. Weil das Heilbad im Gebirge lag, gab es keinen Komfort, wie er damals schon in anderen Kurhäusern geboten wurde.

Prießnitz weist Baron Rothschild die Tür

Prießnitz begann seine Prozeduren mit der Diagnose: Er packte jeden Patienten in eine in Quellwasser getauchte Decke, und je nach Reaktion der Haut bestimmte er die Art und die Dauer der Behandlung. Dabei folgte er allein seiner Intuition und Erfahrung. Die Behandlung bestand in Bädern in der Wanne, in den kalten Umschlägen und im Wechsel von Kalt und Warm. Dadurch würden der Blutkreislauf und die Funktionen der Körperorgane harmonisiert, behauptete der „Wasserdoktor“. Der Tagesablauf richtete sich nach einem strengen Plan, zu dem auch körperliche Ertüchtigung gehörte.

„Die Patienten mussten vorgeschriebene Routen abgehen, von den Quellen an der Strecke trinken, turnen und auch körperlich arbeiten. Darauf legte Prießnitz großen Wert. Er zwang die Adeligen, Holz zu sägen und zu spalten, Gras zu mähen und im Winter Schnee zu räumen. Selbst ging er mit Vorbild voran. Alle mussten auch den Zapfenstreich streng einhalten. Der Legende nach soll einmal Baron Rothschild, einer der reichsten Männer Europas damals, spät aus der Stadt zurückgekehrt sein, wo er eine Theatervorstellung besucht hatte. Der Chef wartete dann auf ihn, um ihn nachdrücklich zu ermahnen. Als sich der Fall wiederholte, sollen nur noch die Angestellten vor der Tür gestanden sein, um das Gepäck zu überreichen. Der Baron soll sofort nach Hause geschickt worden sein. Das spricht dafür, dass sich Vincenz Prießnitz niemandem anbiederte. Er bestand darauf, dass jeder Patient die Heilordnung einhielt, andernfalls brauchte dieser sich gar nicht erst zu zeigen“, so Lukáš Němčík.

Ärzte wenden Behandlungen unverändert an

Kurort Jeseník im 1910
Aber nicht nur die Reichen wurden behandelt. Auch viele Tausende einfache Menschen aus der breiten Umgebung kamen zu Prießnitz, und der bescheidene Heilpraktiker bemühte sich, allen zu helfen. Darüber hinaus bescherte das Kurwesen der Region einen wirtschaftlichen Aufschwung. Zu dieser Zeit gab es zwar noch keine Kurhäuser in Freiwaldau, aber alle Gäste wurden privat bei den Einheimischen untergebracht. Nach und nach ließen sich viele Ärzte in der Stadt nieder, nach Prießnitz´ Tod im Jahr 1851 entwickelten sie die Hydrotherapie weiter. Einige von ihnen eröffneten in anderen Orten Europas eigene Heilanstalten, andere arbeiteten weiter in Freiwaldau. Dabei waren keine Änderungen am Behandlungsverfahren nötig, verrät Jaroslav Novotný.

„Prießnitz hat wahrscheinlich selbst seine Methoden immer wieder überprüft. Wenn er etwas für wirkungslos befand, hat er es einfach nicht mehr angewandt. Wir kennen insgesamt 55 Behandlungsverfahren, die er schon praktiziert hat und die heute unverändert angewandt werden können. Das Einzige, was wir korrigiert haben, ist die Länge der Anwendungen. Prießnitz ließ seine Patienten auch gerne eine halbe Stunde lang im kalten Wasser liegen, das ist aus heutiger Sicht viel zu lange.“

Kurort Jeseník  (Pudelek,  CC BY-SA 3.0 Unported)
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden dann auch in Freiwaldau zahlreiche prächtige Kurhäuser, Hotels und Promenaden. Die Blütezeit dauerte bis zum Zweiten Weltkriegs, im Kommunismus war die Hydrotherapie dann als Pseudowissenschaft verpönt. Erst nach der politischen Wende von 1989 konnte Prießnitz´ Erbe wieder aufgenommen werden. Heute ist die Stadt Jeseník einer der beliebtesten Kurorte in Tschechien.

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