Stadtschreiberin in Pilsen: Wolftraud de Concini vermittelt Leben in der Kulturhauptstadt 2015

Wolftraud de Concini (Foto: Miloš Turek)

Wolftraud de Concini ist die derzeitige Stadtschreiberin von Plzeň / Pilsen. Die ehemalige Sudetendeutsche wurde in Ostböhmen geboren, nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie nach Deutschland vertrieben und lebt mittlerweile seit langem in Italien. Vor einigen Wochen ist sie nun nach Böhmen zurückgekehrt, um über Pilsen zu berichten.

Wolftraud de Concini  (Foto: Miloš Turek)
Frau de Concini, Ihre Aufgabe in Pilsen ist es, die Kulturhauptstadt zu beobachten. Gerade in den letzten Tagen wurde hier einiges geboten. Wie haben Sie die Feierlichkeiten zur Befreiung der Stadt (1945) wahrgenommen?

„Ich habe außer den Befreiungsfeiern auch andere Sachen beobachtet, ich war nicht ständig dabei. Aber es hat mich doch sehr beeindruckt, wie intensiv und wie lebendig sich die Pilsner Bevölkerung an diesen Feiern fast durchgängig beteiligt hat. Sie hat in meinen Augen nicht nur daran teilgenommen, sondern sich auch aktiv daran beteiligt. Das war für mich als in Italien Lebende doch sehr eindrucksvoll. In Italien würde man, denke ich, so etwas schon nicht mehr erleben können. Ich habe einige Umzüge gesehen. Ich habe zufällig auf der Straße Helen Patton, die Enkelin von General George Patton getroffen – eine sehr liebenswerte Frau, die auch sehr gut singen kann. Sie hat auf dem Hauptplatz gesungen. Auf jeden Fall hat es mich beeindruckt, wie stark, intensiv und wie begeistert sich die Bevölkerung an den Feiern beteiligt hat. “

Also tatsächlich ein Fest für die Stadt…

„Es war ein Fest und ein Festival. Man sollte wirklich beides sagen. Denn es war auch inszeniert, und nicht nur ein spontanes Fest.“

Sie spielen damit an auf die zahlreichen Reeanactment-Szenen, die man beobachten konnte...

„Na ja, wahrscheinlich ist es anders gar nicht möglich: Wie könnte man hier auf einmal so viele Amerikaner herbringen? Darum war es auch normal, dass da so viele Leute in amerikanische Uniformen reingesteckt wurden und sich auch als Amerikaner aufgespielt haben. Aber es gab auch viele wirkliche Amerikaner. Sehr vieles war auch echt. Ich meine die Dokumentarfilme, die auf den Großleinwänden über die Bühne gingen. Das waren echte Dokumentarfilme. Und die Anteilnahme der Bevölkerung war auch nicht gespielt. Im Bürgerhaus (Beseda) zum Beispiel gab es ein Veteranenfest. Es hat mich überwältigt, wie vollgestopft die Räume waren, und auch wie viele junge Leute an dieser Veteranenfeier dort teilgenommen haben.“

Sie bewegen sich aber nicht nur in Pilsen, sondern haben sich zum Ziel gesetzt, auch die Umgebung zu erkunden. Was hat Sie in den letzten Wochen auf Ihren Streifzügen besonders beeindruckt?

Wolftraud de Concini  (Foto: Miloš Turek)
„Ich habe versucht, in alle Richtungen zu fahren. Ein Ort, der mich sehr beeindruckt hat, war Luková / Lukowa. Das ist im Nordwesten, von Pilsen aus in Richtung Františkovy Lázně / Franzensbad. Dort steht die inzwischen fast weltberühmte „Geisterkirche“. Darin hat ein Prager Künstler eine Installation eingebaut. Aus dem etwa 100-Einwohner-Dorf, das es vor der Vertreibung war, leben im Augenblick nur vier Personen fest im Ort. Und von diesen 100 deutschsprachigen Einwohnern sind die Seelen von 32 dieser Menschen durch die Installation in die Kirche zurückgekehrt. Man hat ihnen in Gips getauchte Leintücher übergelegt. Und es sieht so aus, als ob dort nun 32 Personen in der Kirche säßen und beten. Das ist schon sehr eindrucksvoll.

Ein anderer Ort, der mich auch beeindruckt hat – ich soll mich hier ja auch mit Minderheiten beschäftigen – ist der jüdische Friedhof in Spálené Poříčí, also Brenn Poritschen, wie der Ort früher hieß. Dort ist ein sehr gepflegter jüdischer Friedhof, wie es auch an anderen Orten noch sehr gepflegte jüdische Friedhöfe geben soll. Ich bin einfach so durch die Gegend gefahren, manchmal ziellos oder manchmal auch mit einem bestimmten Ziel, wie beispielsweise das Schloss in Manětín / Manetin oder die Stadt Domažlice / Taus. Und hier in Pilsen hat mich das neue Depot sehr beeindruckt.”

Was gibt es dort zu sehen?

“Es ist ein ehemaliges Straßenbahndepot, daher der Name. In allerkürzester Zeit – seit September vorigen Jahres – hat man hier ein neues, alternatives Kunstareal geschaffen. Das ist wirklich bewundernswert.”

Ein Zentrum für zeitgenössische Kunst also...

“Für zeitgenössische und, ich würde sagen, auch für fast zukunftsorientierte Kunst. Es ist wirklich sehr eindrucksvoll und bewundernswert, was da getan worden ist.”

Sie beobachten nicht nur, Sie bringen Ihre Eindrücke, die Sie rund um und in Pilsen sammeln, dann auch zu Papier. Wie kann man sich diese dann zu Gemüte führen?

„Ich habe einen Blog, der heißt www.stadtschreiberin-pilsen.blogspot.de. Da mache ich nicht ständig, aber alle zwei, drei Tage Einträge von dem, was mir an einem Tag oder an mehreren Tagen einfach untergekommen ist. Es können zufällige Begegnungen mit einfachen Leuten sein, es aber auch können Festivals sein. So wie das Liberation Festival oder die Filmfestspiele, die gerade über die Bühne gegangen sind, oder die Bayerischen Kulturtage. Also all das, was hier in Pilsen passiert oder was mir zufällig unterkommt.“

Und Sie schreiben nicht nur, sondern Sie fotografieren auch…

„Ich fotografiere auch. Ich fotografiere zuerst, bevor ich schreibe.“

Sie kommen also vom Bild zum Text.

„So ist es.“

Und wie sehen Ihre Pläne für die nächsten Wochen aus?

„Ich bin vom Deutschen Kulturforum östliches Europa hierher geschickt worden und würde sagen, ich mache mehr oder weniger in dieser Richtung weiter. Ich gehe oft durch Pilsen, mal zufällig, mal geführt. Oder ich mache bei Führungen mit, zu denen man allein sonst nicht hinkommt. Ich werde versuchen, ein möglichst vollständiges Bild von dem zu vermitteln, was in und um Pilsen in dieser Zeit, wo es Kulturhauptstadt ist, passiert.“