Nachtschicht im Sázava-Pazifik-Express: Die Lokführerin Marie Sehnalová

Sázava-Pazifik-Express
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In Tschechien gab es zu Ende letzten Jahres 9162 Lokführer. 110 von ihnen waren Frauen. Eine dieser Triebfahrzeugführerinnen ist Marie Sehnalová. Für die Tschechischen Bahnen (ČD) steuert sie vor allem Dieseltriebwagen in und um Prag. Radio Prag International hat sie für die aktuelle Serie „Ženy! Starke Tschechinnen und ihre Berufe“ auf einer ihrer Fahrten nach Čerčany begleitet.

Ein Dienstagabend auf dem Prager Hauptbahnhof. Marie Sehnalová tritt gleich ihre erste Fahrt der heutigen Nachtschicht an. Los geht es 18.55 Uhr auf Gleis 2. Die Lokführerin sagt:

„Meine heutige Schicht ist super, weil wir auf meiner Lieblingsstrecke fahren: entlang des ‚Sázava-Pazifik‘. Das heißt, es geht von Prag nach Čerčany, aber eben über Vrané nad Vltavou und nicht über die schnellere Strecke. Von Čerčany fahre ich anschließend zurück zum Prager Hauptbahnhof und dann mit einem Kollegen nach Vrané. Dort trennen sich unsere Wege, und für mich geht es nach Dobříš. Da rangiere ich Waggons und bereite Züge für den Morgen vor. Um 4:46 breche ich nach Prag auf – und dann ist Feierabend.“

Marie Sehnalová | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Das wird gegen halb sieben am Morgen sein. Zwölf Jahre ist Marie Sehnalová nun schon so auf den Gleisen in und um Prag unterwegs. Der häufige Wechsel von Tag- und Nachtschichten stört sie zwar nicht. Sie sagt aber auch:

„Den Biorhythmus bringt das schon ganz schön durcheinander. Ich habe einmal mit einer Kollegin darüber gesprochen, die früher Flugbegleiterin war. Sie meinte, dass ihre Schichten damals viel regelmäßiger waren – obwohl man ja auch über Zeitzonen hinwegfliegt. Bei der Eisenbahn ist es ihrer Meinung nach schlimmer.“

Der Zug, in dessen Führerstand Sehnalová heute sitzt, ist ein Dieseltriebwagen der Baureihe 814, die die Tschechischen Bahnen „Regionova“ nennen. Jedes Modell firmiert zudem unter einem eigenen Namen, der vorne auf der Karosserie prangt. Heute ist Marie Sehnalová mit Kristýnka unterwegs. Auf elektrifizierten Strecken oder gar im Fernverkehr ist die Eisenbahnerin nicht im Einsatz – und hat auch gar kein Interesse daran, das zu ändern.

„Ich bin hier wirklich sehr zufrieden. Man hat seine Ruhe, die Atmosphäre ist familiär. Ich sehe keinen Grund wegzugehen.“

Sázava-Pazifik-Express | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Sechs Minuten Verspätung? Peanuts!

18.55 Uhr. Der Os 9021 müsste nun eigentlich losfahren, doch das Signal leuchtet immer noch rot. Und auch nach drei Minuten ist die Strecke noch nicht freigegeben. Vermutlich dichter Verkehr, murmelt Sehnalová – und bewahrt die Ruhe.

„Stressig wäre es für mich wohl nur, hinten zu sitzen und es eilig zu haben. Verspätungen bis zehn Minuten nehme ich als Lokführerin kaum ernst. Wir sind ja nicht in Japan. Eigentlich wollte ich gerade sagen ‚in der Schweiz‘. Aber als ich dort das letzte Mal war, kam der Zug auch zu spät.“

Sázava-Pazifik-Express | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Sechs Minuten nach der eigentlichen Abfahrtszeit schaltet das Signal endlich auf Grün um. Der Zugführer leuchtet mit einer Taschenlampe nach vorn, Sehnalová verschließt die Türen, dann geht die Fahrt los.

Langsam tuckern die 40 Tonnen schaukelnd über das Gleisbett des Prager Hauptbahnhofs. Dann verschwindet der Os 9021 und mit ihm Marie Sehnalová im Tunnel. Die Fahrt zum nächsten Halt, dem Bahnhof im Prager Stadtteil Vršovice, dauert vier Minuten. Aber auf dem Führerstand fühlt es sich an, als wären es nur ein paar Sekunden.

Auf Umwegen zur Lokführerin

Nachdem einige Reisende ein- und ausgestiegen sind, geht die Fahrt rasch weiter. Während vor dem Fenster Prag vorbeizieht, berichtet Sehnalová, wie sie zu ihrer Arbeit als Triebfahrzeugführerin gekommen ist. Ein Eisenbahnfan sei sie in ihrer Kindheit nie gewesen, sagt sie:

„Ich wollte eigentlich Pilotin werden, was aber aus gesundheitlichen Gründen nicht ging. Die Eisenbahn war dann Plan B.“

Sázava-Pazifik-Express am Prager Hauptbahnhof | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

Sehnalová studierte Verkehrswissenschaften an der Technischen Universität (ČVUT) in Prag. Eine Zeitlang arbeitete sie anschließend für eine Firma, die verschiedene Studien durchführte und sich mit der Optimierung von ÖPNV befasste. Doch dann wurde Sehnalová zur Vollbluteisenbahnerin:

„Ich bin über Freunde zu den Tschechischen Bahnen gelangt. Zunächst war ich Zugbegleiterin und habe die Fahrscheine kontrolliert. Dann folgte ein Intermezzo als Zugrevisorin – ich war also für die Kontrolle der Tickets und der Kollegen verantwortlich. Irgendwann hat mir die Arbeit mit den Menschen aber keine Freude mehr gemacht. Ich habe mich deshalb als Lokführerin beworben – und es hat geklappt.“

Allein auf dem Führerstand

Als Lokführerin ist Sehnalová heute überwiegend allein auf dem Führerstand – wenn sie nicht gerade einen angehenden Kollegen einarbeitet.

„Dieser Beruf erfordert viel Eigenverantwortung. Man ist nicht darauf angewiesen, sich auf andere zu verlassen, und das gefällt mir auch.“

Aber an was denkt die Frau, wenn sie allein in der Kabine sitzt und draußen die Landschaft vorbeiziehen sieht?

Pikovická jehla | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

„Das ist ein zweischneidiges Schwert. Entweder man genießt die Schönheiten der Natur und denkt an positive Dinge. Wenn man aber Probleme im Leben hat, spielt der Kopf sie immer wieder durch. Denn man muss sich bei dieser Arbeit zwar konzentrieren. Es gibt aber auch Momente, in denen man einfach nur die Landschaft beobachtet. Und dann arbeitet das Gehirn und denkt über alles Mögliche nach.“

Sehnalová hat aber auch schon Situationen erlebt, in denen es nicht viel Zeit zum Nachdenken gab…

„Ich muss auf Holz klopfen, denn seit sechs Jahren habe ich nun keine Unregelmäßigkeit mehr erlebt. Davor hat mein Zug aber dreimal gebrannt, einmal gab es einen Selbstmörder, und einmal bin ich mit einem Baum kollidiert.“

Doch gleich hinter dem Stadtrand von Prag kommt es auch heute zu einer brenzligen Situation. Ein Reh hüpft kurz vor dem Zug über die Gleise. Sehnalová blendet routiniert ab, hupt und bremst, und das Wildtier läuft unversehrt, aber doch verdattert von dannen.

„Die Rehe schaffen es meistens wegzurennen. Aber größere Wildschweine haben es oft nicht sonderlich eilig. Mitunter gibt es nach einem Zusammenstoß größere Schäden am Regionova als am Schwein. Auf der Strecke Richtung Mladá Boleslav, in Kropáčova Vrutice, gab es einmal einen ungewöhnlichen Zwischenfall. Da hat ein Kollege ein Stachelschwein überfahren. Vermutlich ist es irgendwem ausgebüchst.“

Sázava-Pazifik-Express in Petrov u Prahy | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

Gendervorurteile werden weniger

Als der Zug auf der Strecke des Sázava-Pazifik-Expresses fährt, berichtet Marie Sehnalová, was es für sie persönlich bedeutet, als Frau eine Lok zu steuern.

„In meiner Abteilung in Prag habe ich nur ungefähr fünf Kolleginnen“, sagt sie, und damit ist ihre Abteilung keine Ausnahme. Denn laut aktuellen Daten des tschechischen Bahnamtes (DÚ) ist hierzulande nur jeder Hundertste Triebfahrzeugführer eine Frau. Wie erklärt sich Sehnalová das geringe Interesse von Frauen am Lokführerjob?

Blick aus dem Zug auf den ehemaligen Bahnhof in Prag-Modřany | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

„Es handelt sich um einen technischen Beruf. Und wer will heute schon im Bereich Technik arbeiten? Ein weiterer Grund können sicher auch genderbedingte Vorurteile sein. Und der Schichtdienst ist wirklich sehr speziell und nur schwer mit einem Familienleben vereinbar.“

Selbst sei sie wegen ihres Geschlechts aber nicht häufig auf Stereotype gestoßen, betont Sehnalová:

„Ich nehme so etwas wohl nicht so sehr war, weil ich recht vorurteilsfrei erzogen wurde. Ich unterscheide Menschen danach, ob sie kompetent sind oder nicht – und nicht nach ihren äußeren Geschlechtsorganen. Aber natürlich gab es Vorurteile, das will ich gar nicht wegdiskutieren. Eine Kollegin, die für ČD Cargo fährt, hat mir einmal erzählt, dass es in ihrer Ausbildung in Česká Třebová einen Dozenten gab, der Frauen konsequent ignoriert hat. Neben ihr gab es noch ein weiteres Mädchen in dem Kurs, und sie haben sich immer aktiv gemeldet, weil sie die Antworten auf seine Fragen wussten. Der Lehrer schaute sich aber im Raum um und meinte: ‚Also, es weiß keiner von euch. Na gut.‘“

Die erste Lokführerin

In den 1950er Jahren wurden in der Tschechoslowakei im Rahmen einer kommunistischen Kampagne die ersten Frauen als Eisenbahnerinnen angestellt. Unter ihnen war auch Libuše Mostýnová (mitunter auch unter dem Namen „Mostinová“ bekannt). Sie stammte aus Gottwaldov (heute Zlín). Die meisten Lebensgeschichten der Triebfahrzeugführerinnen aus den 1950er Jahren sind aber nicht dokumentiert. Als erste Frau, die in der Tschechoslowakei eine Lokomotive fuhr, gilt deshalb Margita Horváthová. Zunächst arbeitete sie als Elektroingenieurin in einem Depo in Košice. Nach wenigen Monaten entschied sie sich jedoch, Lokführerin zu werden. Horváthová absolvierte eine Schulung und trat 1963 ihren neuen Beruf an.

Mittlerweile würden derartige Haltungen aber immer seltener werden, meint Sehnalová.

„Ich glaube, die Zeit der größten Dinosaurier ist mittlerweile vorbei. Die jungen Leute denken heute anders, und das wiegt die alten Ansichten auf.“

Sázava-Pazifik-Express an der Haltestelle Prag-Zbraslav | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International

Und vielleicht führt das andere Denken der neuen Generation auch dazu, dass es mittlerweile mehr weibliche Lokführerinnen gibt als früher. Denn mit 110 ist ihre Zahl zwar weiterhin nicht groß. Das Bahnamt informierte zuletzt aber, dass es noch 2020 sogar nur 58 Triebfahrzeugführerinnen gab und die Frauenquote in dem Berufsfeld stetig steigt.

Marie Sehnalová für ihren Teil ist überzeugt, dass es egal ist, wer einen Zug steuert – Hauptsache, die Person bringt die Menschen sicher von A nach B. Aus Sicht der Reisenden ist natürlich noch ein weiteres Kriterium relevant: die Pünktlichkeit. Dahingehend hat es heute bei Marie Sehnalová geklappt. Trotz der sechs Minuten Verspätung bei der Abfahrt in Prag erreicht ihr Os 9021 Čerčany pünktlich um 21.09 Uhr.

Luka pod Medníkem | Foto: Hana Slavická,  Radio Prague International
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