Neuanfang nach dem Kalten Krieg: Radio Free Europe sendet seit 30 Jahren aus Prag

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Radio Free Europe versteht sich als Stimme der freien Welt. Einst war der US-finanzierte Sender von München aus auf die Ostblockländer hinter dem Eisernen Vorhang ausgerichtet. Vor genau 30 Jahren zog er dann nach Prag um und setzte hier seine Tätigkeit fort. Heute sind es Länder wie der Iran, Afghanistan, aber weiterhin auch Russland oder Belarus, für die Programme in den Landessprachen erstellt werden. Sie sollen zur freien Information und Demokratisierung beitragen. Die Radiomacher können im tschechischen Exil zwar frei arbeiten, aber in ihren Heimatländern drohen ihnen dafür oft Verhaftung und Kriminalisierung. Und nun hat US-Präsident Donald Trump der Station auch die Gelder gestrichen.

Rim Gilfanow war nach eigenen Angaben seit zwölf Jahren nicht mehr in seiner Heimat in Russland. Er würde es für keine gute Idee halten, derzeit dort hinzureisen, sagt der Leiter der tatarischsprachigen Redaktion von Radio Free Europe (RFE). Der Sender ist 2024 von Präsident Wladimir Putin zum „unerwünschten Medium“ erklärt worden, was für eine „Flut rechtlicher Probleme“ gesorgt habe, wie es Gilfanow ausdrückt.

Rim Gilfanow | Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

Dass dies sehr diplomatisch formuliert ist, zeigt der Fall von Alsu Kurmaschewa. Die Redakteurin aus Gilfanows Team wurde 2023 verhaftet, als sie ihre Mutter in Russland besuchte. Wegen angeblicher „Verbreitung von Falschinformationen über das russische Militär“ wurde sie zu 6,5 Jahren Haft verurteilt, kam nach zehn Monaten im Gefängnis aber durch den Gefangenenaustausch zwischen den USA und Russland im vergangenen Sommer frei. Im Gespräch mit Radio Prag International erinnert sich Gilfanow und verweist auf die Verhältnisse unter Machthaber Putin:

„Wir haben zwar gewusst, was das für ein Regime ist und wozu Putin fähig ist. Zudem hatte der Krieg in der Ukraine schon begonnen. Manche hatten so etwas also erwartet, aber für die meisten war die Verhaftung doch ein Schock. Es ging ja nicht nur um Alsu, sondern um uns alle. Denn als erstes versteht auch Alsu sich als Journalistin unserer Redaktion. Dadurch kamen viele Fragen zur Sicherheit eines jeden von uns auf. Gut war, dass gleich nach Alsus Inhaftierung eine enge Zusammenarbeit begann, sowohl innerhalb Radio Free Europe als auch mit vielen anderen Medien. Dazu gehörten der Tschechische Rundfunk sowie weitere Journalisten hier in Tschechien und in der ganzen Welt. Sogar die US-amerikanische Regierung schloss sich an.“

Es war nicht das erste Mal, dass RFE in Tschechien eine solche Solidarität erlebte. Schon 1995 half die hiesige Regierung dem Sender in einer schwierigen Situation aus. Damals wurde das bisherige Rundfunkhaus in München aufgelöst. Seit 1950 hatte RFE von dort aus gegen die offiziellen Staatsmedien in den Ostblockländern angesendet. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem vorläufigen Ende des Kalten Krieges schien die Mission des einstigen US-Propagandasenders dann Anfang der 1990er Jahre erfüllt, und die Gelder aus Washington wurden massiv gekürzt.

Der damalige US-Präsident Bill Clinton hatte die Schließung von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) – wie der Rundfunk seit der Zusammenlegung dieser beiden Sender 1976 hieß – wohl schon beschlossen. Das damalige tschechische Staatsoberhaupt, Václav Havel, setzte sich jedoch für den Erhalt ein. In einer gemeinsamen Initiative mit Premier Václav Klaus stellte Havel dem Sender das leerstehende Gebäude des ehemaligen Föderalparlaments am Wenzelsplatz in Prag zur Verfügung. Dort zog RFE mit nur noch 420 der einst 1100 Mitarbeiter ein und begann am 10. März 1995 zu senden.

Befreiung von Alsu Kurmaschewa | Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

Journalist seit vier Jahren in Haft

Alsu Kurmaschewa war nicht die erste Mitarbeiterin von Radio Free Europe, die wegen ihrer Arbeit inhaftiert wurde. In der belarussischen Redaktion, die ihr Büro gleich neben den tatarischen Kollegen hat, gibt es mehrere solcher Fälle. Und bei einigen konnte bisher noch keine Freilassung für die Inhaftierten erreicht werden.

Tatarischsprachige Redaktion | Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

Andrey Kuznechyk jedoch, der im November 2021 in Belarus festgenommen und zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, kam vor einigen Wochen überraschend frei. RFE sprach dafür US-Präsident Trump und der litauischen Regierung Dank aus. Kanstantsin Lashkevich, der Leiter der belarussischen Redaktion, sagt im Interview:

„Andrey hat drei Jahre und zwei Monate im Gefängnis verbracht. Zu Beginn war sein jüngerer Sohn zwei Jahre alt, jetzt ist er fünf. Andrey trifft es sehr genau, wenn er sagt, dass der Junge seinen Vater sozusagen wiederentdecken musste. Dies ist sehr berührend und ein großes Familiendrama. Wir sind sehr froh, dass Andrey nun in Freiheit ist. Er hält sich jetzt in Litauen auf, und das ist eine große Erleichterung. Aber ein anderer Kollege, Ihar Losik, sitzt seit mehr als vier Jahren im Gefängnis und unser ehemaliger Mitarbeiter Igor Kornei seit anderthalb Jahren. Der Sender arbeitet hart dafür, sie zurückzubringen.“

Foto: RFE/Radio Free Europe

Frei für RFE arbeiten zu können, sei für Journalisten aus Belarus schon immer schwierig und herausfordernd gewesen, sagt Lashkevich. Und seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine im Februar 2022 habe sich die Lage noch einmal verschärft:

„Damit hat auch geistig eine neue Ära begonnen. Belarus ist der engste Verbündete des Putin-Regimes. Sich dies einzugestehen, ist sehr hart. Aber es ist auch klar, dass wir das nicht unterstützen. Und viele Menschen in Belarus unterstützen dies ebenso wenig, wie wir wissen. Zum einen steht also das Lukaschenko-Regime zu Russland und der Aggression, und zum anderen befinden wir uns auf der entgegengesetzten Seite. Wir unterstützen die Ukraine und die freie Welt. Als Journalisten haben wir von Beginn an über den Konflikt berichtet, er hat viele belarussische Aspekte. Das ist sehr wichtig für uns, aber es macht uns das Leben auch deutlich schwerer. Denn das belarussische Regime ist nach Beginn der Aggression noch radikaler und aggressiver geworden. Die offiziellen Darstellungen haben sich der Propaganda des Kremls angepasst.“

Schnelle Umstellung auf neue Technologien

Auch die Arbeitsbedingungen für die russischsprachige Redaktion von RFE sind seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine komplizierter geworden. Allerdings habe sich der Druck schon seit Anfang der Nuller Jahre spürbar verstärkt, betont Redaktionsleiter Andrey Shariy. Damals arbeitete das Team noch direkt im eigenen Land. Eine Zäsur sei dann das Gesetz über ausländische Agenten gewesen, das in Russland vor etwa zehn Jahren eingeführt wurde, so Shariy:

Andrey Shariy | Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

„Radio Free Europe/Radio Liberty war das erste Medienunternehmen, das von dem zuständigen Ministerium auf die Liste der ausländischen Agenten gesetzt wurde. Das war 2017. Wir haben das zunächst auf die leichte Schulter genommen. Doch es stellte sich heraus, dass es unsere Arbeit ernsthaft behindert. Es war klar, dass dies einen politischen Hintergrund hatte. Als dann die russische Aggression in der Ukraine begann, wussten wir, dass der Druck noch mehr zunehmen würde. Und im März 2022 waren wir gezwungen, unser Büro nach Riga zu verlegen. Dort arbeiten weiterhin sechs Kollegen.“

Eugenia Nazarets war bis dahin die Leiterin des Moskauer Büros. Da dieses damals zu einer Geldstrafe von acht Millionen US-Dollar verurteilt und Nazarets persönlich haftbar gemacht wurde, ging sie ins Exil nach Prag. Insgesamt arbeitet sie bereits seit 22 Jahren für RFE. In dieser Zeit habe es immer wieder grundlegende Veränderungen gegeben, resümiert die Journalistin. Der Sender beweise eine hohe Anpassungsfähigkeit, etwa durch eine zügige Entwicklung zu einem Internetmedium. Und weiter beschreibt Nazarets die tägliche Arbeit:

Eugenia Nazarets | Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

„Uns ist inzwischen bewusst, dass wir durch unsere Emigration von Russland abgeschnitten sind. Es ist schwierig, mit dortigen Nachrichtenquellen in Kontakt zu bleiben und uns über die Geschehnisse zu informieren. Wir mussten unser Arbeitssystem völlig neu organisieren. Denn es geht eben auch um die Sicherheit jener Menschen, die mit uns zusammenarbeiten. Wenn wir auf eine Quelle oder einen Vermittler in Russland zurückgreifen, müssen wir nicht nur bedenken, was ihm passieren könnte. Sondern wir berücksichtigen auch, dass unsere Kollegin Nika Novak derzeit dort im Gefängnis sitzt. Wir müssen an unsere Korrespondenten denken sowie an die Interviewpartner. Unsere Fragen sind dann: Wie werden die Gespräche durchgeführt? Welche Sicherheitsprotokolle nutzen wir? Und wie können wir die Informationen gegenprüfen?“

Durch diese Umstände lerne das Team schnell den Umgang mit neuen Technologien, versucht Nazarets auch eine positive Interpretation der Lage. Da alle Redaktionskonten in Russland aber eingefroren seien, könne man die dortigen Informanten nicht mehr bezahlen, so eine weitere negative Seite. Die Geldstrafe für die ehemalige Moskauer Redaktion wuchs im Folgenden auf 18 Millionen US-Dollar an. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte sich vergangenen Herbst jedoch auf die Seite des Senders, und nun ist es die russische Regierung, die RFE/RL Geld schuldet. Zahlen werde sie wohl nicht, räumt Andrey Shariy ein.

Der Sender sitzt seit 2009 in einem eigenen Rundfunkhaus in Prag-Hagibor. Es ist gut bewacht, von einem Sicherheitszaun umgeben und mit Metalldetektoren ausgestattet. Dort arbeitet etwa die Hälfte der insgesamt 1700 Mitarbeiter, die heute auf 27 Sprachen in 23 Länder senden. Dazu gehören neben Russland mehrere ehemalige Sowjetrepubliken, zudem Afghanistan, Iran, der Balkan sowie Staaten in Zentral- und Südasien. Aber auch für drei EU-Länder – Ungarn, Bulgarien und Rumänien – gibt es Redaktionen bei RFE.

Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

„Journalismus ist kein Verbrechen“

Oftmals sind die Teams klein. Die tatarischsprachige Redaktion etwa habe im Prager Büro acht Mitarbeiter, berichtet Rim Gilfanow. Sie vertrete auch die baschkirische Minderheit in Russland. Mit Blick auf die Heimatregionen und stellvertretend für andere RFE-Kollegen sagt der Redaktionsleiter:

Foto: Daniel Ordóñez,  Radio Prague International

„Leider gilt unabhängiger Journalismus in unseren Ländern als Straftat. Einer unserer Slogans, mit dem wir uns für Alsu Kurmaschewas Freilassung eingesetzt haben, lautete ‚Journalismus ist kein Verbrechen‘. Das sehen die Diktaturen unter Putin und Lukaschenko leider anders. Aber auch in einigen europäischen Staaten gibt es solche Tendenzen, das lässt sich in der Slowakei oder in Ungarn beobachten. Dort werden Journalisten nicht gerade gemocht, und sie werden zu Verbrechern gemacht. Dies entspricht aber nicht der Wahrheit. Ein Journalist macht nur seine Arbeit. Das kann einem gefallen oder nicht.“

Der russische Redaktionsleiter Shariy sagt dazu, dass die Menschen bei Radio Free Europe unter diesen Bedingungen allerdings sehr effektiv arbeiten und fast wie Rettungsteams funktionieren würden. Kaum jemand von seinen Kollegen habe in den vergangenen Jahren aufgegeben. Zu dem politischen Druck käme jedoch ein psychischer hinzu, so Shariy:

„Die Welt hat sich verändert, der Journalismus hat sich verändert. Die globale Kommunikation bringt nicht nur Vorteile mit sich, sondern auch eine Vielzahl von Nachteilen. Die Hauptprobleme unserer journalistischen Arbeit sind jetzt Fake News, ein allgemeines Misstrauen gegenüber Informationsquellen sowie die Krise der traditionellen Medien, zu denen Radio Free Europe/Radio Liberty gehört. Dies ist mit den Veränderungen in der Weltpolitik verbunden. Gerade findet eine Art großer konservativer Wandel statt. Das System der liberalen Werte, das uns als etabliert schien, zeigt Risse.“

Foto: RFE/Radio Free Europe

35 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist Radio Free Europe nach wie vor On Air. Absurderweise galt Zeit seines Bestehens immer das Ziel, dass der Sender eines Tages überflüssig sein würde. Davon sei man weit entfernt, meint Rim Gilfanow:

„Unsere Arbeit geht weiter, angesichts der sowjetischen Intrigen. In Russland gibt es heute nicht nur eine Nostalgie nach sowjetischen Zeiten. Vielmehr sind diese Verhältnisse wirklich zurückgekehrt, und das in einer noch schlimmeren Variante. In diesem Falle geht es mit unserem Radio also weiter. Leider können wir das noch nicht beenden – so, als ob wir etwas erreicht hätten. In Russland gibt es keine Demokratie und keinen Rechtsstaat. Und deswegen hat unser Sender noch eine Mission.“

Dieser erst vor wenigen Wochen geäußerten Zuversicht wurde nun ein herber Schlag erteilt. Am Freitag vergangener Woche beschloss US-Präsident Donald Trump radikale Kürzungen bei der Agentur für globale Medien (USAGM). Sie finanziert von Washington aus nicht nur den Sender in Prag, sondern zum Beispiel auch Voice of America (Stimme Amerikas) oder Radio Free Asia. Die Weiterexistenz von RFE/RL ist nun fraglich. Direktor Stephen Capus ließ am Samstag verlauten, dass nach der drohenden Schließung bis zu 50 Millionen Zuhörern in verschlossenen Gesellschaften dann keinen Zugang zur Wahrheit mehr hätten. Und wieder fühlt sich die tschechische Regierung in der Verantwortung, dem Sender aus der Notlage zu helfen: Außenminister Jan Lipavský (parteilos) setzt sich auf EU-Ebene nun für eine Weiterexistenz von Radio Free Europe/Radio Liberty ein.

Autoren: Daniela Honigmann , Daniel Ordóñez
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