Die tschechische Justiz 14 Jahre nach der Wende

Es gibt wohl gegenwärtig in der Tschechischen Republik keinen Bereich, wo die Bürger im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union größere Hoffnungen auf die Verbesserung der jetzigen Lage hegen würden, als im Bereich der Justiz. Die Arbeit der tschechischen Richter oder Staatsanwälte sorgt schon seit langem nicht nur hierzulande für Kritik. Auch die Europäische Kommission bemängelte in den vergangenen Jahren in ihren regelmäßig veröffentlichten Fortschrittsberichten die Arbeit der Justizorgane. Der Hauptkritikpunkt war dabei fast immer die Säumigkeit der Gerichte, welche die bei ihnen eingegangenen Fälle erst nach vielen Jahren behandeln. Einige Tschechen nahmen dies in der Vergangenheit bereits zum Anlass den Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu verklagen und bekamen dabei oft Recht. Jüngstes Beispiel dafür war ein sich über mehrere Jahre hinweg ziehende Restitutionsfall. Die Kläger bekamen Recht und die Tschechische Republik muss ihnen nun eine finanzielle Entschädigung zukommen lassen.

Die verantwortlichen Politiker beteuern natürlich immer wieder, alles dafür zu tun, damit diese Missstände beseitigt werden. Der Normalbürger hat jedoch bislang wenig davon mitbekommen und zögert in vielen Situationen nach wie vor, sein Recht einzufordern und etwa eine Klage vor Gericht einzubringen. Oft spielt aber nicht nur die Befürchtung eine Rolle, ihr konkreter Fall könnte jahrelang unbehandelt beim Gericht liegen bleiben, sondern auch die Angst vor behördlicher Willkür.

Einer, der mit dieser Situation tagtäglich konfrontiert wird, ist der frühere Bürgerrechtler und Mitglied der Charta 77 John Bok, der Sprecher einer Bürgerinitiative, die es sich zum Ziel setzte mit zu helfen, eine unabhängige Justiz in Tschechien aufzubauen. In Anlehnung an den weisen alttestamentarischen Richter Salomon nennt sich dieser Verein Salomon, d.h. auf Tschechisch alomoun. Zur aktuellen Lage der tschechischen Justiz im Jahr 14 nach der Wende meint John Bok gegenüber Radio Prag:

"Das Justizsystem ist nicht schwarz oder weiß, ist nicht nur schlecht oder gut, sondern es befindet sich in einem tristen Zustand. Erstens ist das die Folge der Politik, die hierzulande ganz allgemein betrieben wird, denn man hat einerseits die Notwendigkeit, ein funktionierendes Rechtssystem zu schaffen unterschätzt, anderseits auch durch die schlechte Führung des Justizministeriums. Eines der Probleme ist z.B., dass die Gerichte selber in manchen Fällen nachweislich geltende Gesetze brechen - wenn es etwa um die Rechte der Bürger dieses Staates geht. Wir können diese Fälle auch jederzeit beweisen. Alles, was wir in den vergangen neun Jahren in Erfahrung bringen konnten über Fälle von Justizirrtümern oder der Verletzung geltender Gesetze, haben wir in einer Gedenkschrift zusammengefasst und sie dem Justizminister geschickt. Das war eine Art Bilanz unserer bisherigen Tätigkeit, aber auch jener Fälle, die für die Beschuldigten leider zu keinem Freispruch vor Gericht führten, obwohl wir bis heute davon überzeugt sind, dass die Betroffenen unschuldig sind."

Seit 1989 befindet sich die Tschechische Republik auf dem Weg, ein Rechtsstaat zu werden. Die Politik hat dazu die notwendigen Voraussetzungen geschaffen und die Strukturen, etwa bei der Staatsanwaltschaft, dem westeuropäischen Modell nachempfunden. Ein gut funktionierendes Rechtssystem hängt jedoch auch von der Bereitschaft der Bürger ab, im Zweifelsfall von ihren Rechten Gebrauch zu machen und sie auch einzufordern. Wie hat sich also im besagten Zeitraum das Verhältnis der Bürger zur Justiz, bzw. ganz allgemein das Rechtsempfinden der Tschechen verändert. John Bok macht da aus seiner Enttäuschung keinen Hehl und nennt auch einige Ursachen dafür:

"Ich sehe dahinter leider vielleicht auch ein Versagen der öffentlich-rechtlichen Medien und des hiesigen Bildungssystems. Das Rechtsempfinden ist sehr gering, die Menschen sich ganz einfach unwissend. Oft, wenn sie es mit den Justizorganen oder Polizeiermittlern zu tun bekommen, werden sie gar nicht über ihre Rechte aufgeklärt und fordern das auch gar nicht ein. Oder aber, sie versuchen, im guten Glauben bei Polizeiverhören mit verschiedenen Aussagen ihre Unschuld zu beteuern, ohne aber zu wissen, dass später alles gegen sie verwendet werden könnte. So kann es passieren, dass ein Mensch dann im wahrsten Sinne des Wortes Opfer des gesamten Justizapparates wird."

Monatlich wenden sich laut John Bok etwa 50 Personen an den Verein Salamoun mit der Bitte um Hilfe bei konkreten Rechtsfällen. Die meisten davon müssen jedoch laut Bok gleich wieder abgelehnt werden, weil es dem Verein einerseits an den notwendigen Mitteln fehlt, um die Sachen zu verfolgen, andererseits aber will Salamoun nicht die Rolle von Rechtsanwälten übernehmen. Vorrangiges Ziel des Vereins ist es nämlich überall dort aktiv zu werden, wo im Zuge des Ermittlungsverfahrens Verletzungen der elementarsten Grundrechte vermutet werden.

Wann ist die Vereinigung Salamoun entstanden, was sind deren Ziele? John Bok erinnert sich im Folgenden auf die Anfänge:

"Die Vereinigung wurde 1994 gegründet, doch schon zuvor hat sich jeden von den Gründern mit bestimmten Fällen befasst. Als sich dann aber die Fälle häuften, sahen wir, dass es nicht mehr möglich war diese aus der Position von Einzelkämpfern zu verfolgen, und wir haben dann eben ziemlich überstürzt den Verein gegründet. Seither haben wir vielleicht an die Tausend Fälle verfolgt, aber nicht allen konnten wir natürlich nachgehen. Unser Ziel dabei war und ist es immer noch dabei zu helfen, verloren geglaubte Akten und eventuelle Beweise zu finden, die den einen oder anderen Fall in ein völlig anderes Licht rücken würden. In vielen Fällen waren wir dabei sogar erfolgreicher als die Rechtsanwälte oder Polizisten."

Bei weitem richtet sich jedoch die Kritik des Vereins nicht ausschließlich gegen die Richter oder Staatsanwälte. Auf der offiziellen Homepage von Salomoun, die als einziges Medium dient, mit dem der Verein mit der breiteren Öffentlichkeit in Kontakt treten kann, sind auch einige Fälle aufgelistet, wo Anwälte ihren Verpflichtungen den Mandanten gegenüber untreu wurden und sich etwa ohne Wissen ihres Auftraggebers mit der Polizei zu arrangieren versuchte. Kritisiert wird dort ebenfalls, dass vor allem jene die Anwälte, die den Angeklagten per Beschluss des Gerichts zugewiesen werden, in vielen Fällen wichtige Termine vor den Untersuchungsrichter nicht wahrnehmen und dann auch nicht vor Gericht erscheinen. Diese Erfahrung ist, so Bok gegenüber Radio Prag, für viele seiner Mandanten oft ganz besonders schmerzlich. Bok war als Regimekritiker vor 1989 selber von den damaligen Behörden oft verfolgt worden und weiß deshalb, wie wichtig eine Vertrauensbasis zwischen Anwalt und Mandant ist. Wie viele ehemalige Bürgerrechtler beteiligen sich an der Tätigkeit des Vereins Salamoun?

"Ich bin eigentlich der einzige, zusammen noch mit einem weiteren Kollegen, die wir schon damals unsere Erfahrungen mit dem Justizsystem des Landes machten. Ich aber hatte eigentlich noch relativ Glück, denn bis auf einige Fälle, als ich in Untersuchungshaft war, wurde ich eigentlich vom Gericht nie zu einer Haftstrafe verurteilt. Dank meines Anwalts war ich auch einer der wenigen, denen es gelungen ist, aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Bestimmt spielt diese persönliche Erfahrung eine große Rolle dabei, was ich bis heute tue."

Gibt es eigentlich irgendwelche Statistiken, in welchen Fällen sich die Menschen am häufigsten an die Mitglieder des Vereins Salamoun wenden? Abschließend kommt noch einmal der frühere Bürgerrechtler John Bok zu Wort:

"Ein hoher Prozentsatz derer, die in diesem Land verurteilt werden und wo wir unsere Zweifel haben, ob das von Seiten der Behörden im Einklang mit dem Gesetz geschah, werden aufgrund des Paragraphen 50 ins Gefängnis geschickt, d.h. wegen Betrugs, bzw. versuchten Betrugs. Viele davon werden heute beschuldigt, dass sie z.B. versuchten, sich eine eigene Existenz aufzubauen und dabei vorsätzlich die gewährten Kredite nicht zurückzahlen wollten. Natürlich trifft das für viele Fälle zu, aber wir behandeln bereits mehrere Fälle, wo völlig eindeutig ist, dass diese Lage nicht durch Eigenverschulden verursacht wurde. So kommt es vor, dass Schulden kriminalisiert werden, obwohl Schulden an sich keine Straftat darstellen, was auch in internationalen Verträgen und Konventionen enthalten ist. Meiner Meinung hängt das damit zusammen, dass die Richter aus früheren Zeiten übernommen wurden und oft nicht wissen, was das bedeutet sich auf eigene Beine zu stellen. Sie können somit gar nicht nachempfinden, was das für ein großes Abenteuer darstellt."