Egon Wiener: Meine Heimat ist das Sudetenland
Egon Wiener begann, erst im Rentenalter zu schreiben. Er verfasst vor allem kurze Erzählungen und Feuilletons im Internet und in regionalen Zeitungen. Darüber hinaus hat er schon fünf Bücher herausgegeben, zwei von ihnen simultan tschechisch und deutsch. Wie Wiener bekennt, das Schreiben sei für ihn ein Weg, wie sich mit seiner komplizierten Geschichte eines Sudetenbewohners abzufinden.
„Ich bin hier in Liberec / Reichenberg in dritter Generation einer auf diese Weise gemischten Familie geboren. Meine Vorfahren und ich haben alle Probleme der Minderheiten hautnah miterlebt. Meine Mutter war Tschechin, mein Vater ein deutschsprachiger Jude wie bereits mein Großvater. Dieser war um 1860 als Händler ins damalige Reichenberg gekommen. Die Frau, die er heiratete – also meine Oma –, stammte aus einer Familie, die sich bei den deutschen Sozialdemokraten engagierte. Das Zusammenleben in der Familie war sehr harmonisch, soweit ich weiß, sie feierten mit ihren Kindern sowohl das jüdische Fest Chanukka als auch christliche Weihnachten. Meine Großmutter war nämlich Christin. Fast alle jüdischen Mitglieder meiner Familie wurden von den Nazis ermordet. Die anderen kämpften während des Zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten: die Deutschen in der Wehrmacht, in die sie eingezogen worden waren, die Tschechen freiwillig in den alliierten Armeen. In der Schlacht bei Kursk standen sie sogar einander gegenüber.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht so geschickt, sich offen zu seinen deutschen oder jüdischen Wurzeln zu bekennen. Haben sie das damals wie eine Belastung gespürt?„Ich bin Anfang 1947 geboren, also in der Zeit, als sich unsere Familie wieder zusammenfinden musste. Die Brüder meines Vaters waren rechtzeitig vor dem Krieg geflohen und hatten an der Ostfront gegen Nazi-Deutschland gekämpft sowie in England und Italien. Auch mein Großvater kehrte aus dem Ausland zurück. Meine Großmutter hatte fast die ganze Kriegszeit über ihren jüngsten Sohn hinter dem Schornstein in einer Gaststätte in Hrádek nad Nisou / Grottau an der Neiße versteckt, wo er arbeitete. Er heißt Walter Wiener und lebt immer noch. Die Lage nach dem Krieg entwickelte sich jedoch schlecht für all diejenigen, die nicht für die kommunistische Politik schwärmten. Meine Verwandten mit jüdischem Blut, die den Holocaust überlebt hatten, emigrierten nach Israel. Es blieben nur mein Vater, mein Großvater und meine Großmutter hier. Und zu Ihrer Frage: Meine ersten Erkenntnisse, dass ich ein bisschen ‚anders‘ bin, reichen in die Schulzeit zurück. Damals beschimpften mich einige Mitschüler als Juden, andere als Deutschen. Ich weiß nicht, was mir mehr wehtat. Das sind aber Erfahrungen, die jeder Angehöriger einer Minderheit macht und mit dem er sich abfinden muss. Bei mir war es so, dass ich viele Jahre später nach Kugelschreiber gegriffen und zu schreiben begann. Ich schreibe über mein Leid, aber auch über das Schöne, das meine Ansichten geformt hat. Das teile ich gerne meinen Lesern mit.“
Haben Sie in Ihrer Jugendzeit mit ihrem Vater über diese Ereignisse gesprochen?„Das ist, denke ich, die größte Schwierigkeit aller, die überlebt haben. Mein Vater wollte über die Probleme, die er als Jude und auch als Deutscher gehabt hatte, gar nicht sprechen. Er hat nie gut Tschechisch gelernt, seine Muttersprache war Deutsch, und das war immer zu erkennen, wenn er redete. Zugleich wollte er aber mit mir nicht Deutsch sprechen, damit die Menschen nicht sagen konnten: Das sind Deutsche. Das war auch bei meiner Großmutter und Mutter der Fall. Heute kommt es den Menschen unbegreiflich vor, alle wollen Fremdsprachen beherrschen, aber damals war dies anders. Meine Eltern wollten nicht auf uns aufmerksam machen, damit die Geschichte nicht die neue Generation belasten konnte.“
Ihr Name ist Egon Wiener, aber im Geburtsschein steht Jiří. Warum?„Ja, und das ist ebenfalls ein interessantes Problem, das ich erklären muss. Auch viele meiner Freunde haben nach meinem deutschen Vorname gefragt, obwohl sie mich Jiří nennen. Es war so: Ich bin zwar in Liberec geboren, wir haben ansonsten aber in Görsdorf gelebt, das heute zu Hrádek nad Nisou gehört. Dort gab es viele Bergleute und Antifaschisten, und die durften nach dem Krieg zum Großteil in der Tschechoslowakei bleiben. Meine tschechische Mutter wollte mich Jiří nennen, aber die deutsche Oma Egon, nach meinem Vater. Meine Oma ließ meinen Namen eintragen und gab Egon an erster Stelle an. So wurde ich zu Egon Jiří. Aber wie gesagt, alle haben lieber alles verschwiegen, was deutsch klang. Für alle war ich also nur Jiří. Nach dem Abitur in der Mitte der 1960er Jahre begann ich dann, den Namen Egon zu nutzen.“
Sie haben erst vor ein paar Jahren begonnen, Bücher zu schreiben. Ihre Titel lauten zum Beispiel: „Meine Heimat ist das Sudetenland“ oder „Das erstaunliche Land Sudetenland“. Ist das für Sie ein Weg, um sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen?„Ja, ganz klar. Jeder von uns, der etwas Schlimmes erlebt hat, will dafür belohnt werden und zeigen, dass er nicht überflüssig ist. Ich bemühe mich, meine Leser nicht nur zu erheitern, sondern auch sie zum Nachfragen zu bringen. Daher spreche ich in meinen Büchern auch kontroverse Themen an. Ich habe beispielsweise schon mehrmals Lesungen in Zittau gehabt, also unweit von hier in Sachsen. Jedes Mal war der Saal voll, es waren wohl noch mehr Menschen als hier in Liberec. Die Fragen wiederholen sich immer wieder: Warum erzähle ich gerade solche oder solche Geschichten? Was beabsichtige ich damit? Ich kann aber nur mit einer weiteren Frage antworten: Habe ich nicht das Recht oder sogar die Pflicht, mich zu den historischen Problemen der deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen zu äußern? Aber aus welcher Sicht? Man muss das verstehen: Ich hatte drei Großmütter, weil der Vater meines Vaters zweimal verheiratet war. Alle Großmütter waren gegen jegliche Gewalt, aber jede von ihnen verstand dies anders! Ich kann nicht so einfach sagen, wessen Sicht richtig und wessen falsch gewesen ist. Und noch ein Thema belastet meinen Herzen: Dürfen wir, die später geboren sind und also dem Holocaust entkommen sind, überhaupt glücklich sein? Sprechen wir nur für uns selbst oder auch für unsere ermordeten Vorfahren? Heute scheint es mir wieder ein dringendes Thema zu sein, über diese Probleme zu sprechen und zu einer Lösung aufzurufen.“
Und zu welchem Antworten sind Sie gekommen? Sind Sie glücklich?„Ja, ich kann sagen, ich bin glücklich. Ich bin mittlerweile 68 Jahre alt, seit etwa fünf Jahren schreibe ich. Bisher habe ich fünf Bücher herausgegeben. Ich schreibe gern, auch bei Nacht und jedes Mal dann, wenn ich eine bestimmte Stimmung ausdrücken will. Thematisch setze ich mir keine Grenzen: Mich interessieren die Steine, die Gewässer, die Wälder, die Luft, die Menschen, die nicht mehr leben, und auch historische Begebenheiten, egal ob bedeutende oder scheinbar ganz unwichtige. Ich schreibe über einen armen Arbeiter oder über einen Millionär, der sich im Wald verirrt hat. Ich vergesse auch nicht diejenigen, die in dieser Gegend im 19. Jahrhundert die Textilindustrie hochgezogen haben, aber auch nicht jene, die in diesen Fabriken mit Schweiß und Blut 15 Stunden täglich arbeiten mussten. Das Schreiben ist für mich nicht nur Leidenschaft, sondern auch Heilmittel für alles.“
Ihr letztes Buch heißt „Meine Heimat ist das Sudetenland“. Was bedeutet für Sie dieser Begriff, das Sudetenland?„Man könnte vermuten, dass dies ein Marketingtrick von mir ist, um noch mehr Leser zu gewinnen. Es ist aber nicht so. Das Sudetenland, das war und bleibt ein geographischer Begriff, die Bezeichnung der Gegend hier. Auch wenn sich Nachkriegs-Präsident Edvard Beneš bemüht hat, wie er konnte, er hatte nicht immer Recht. Er hat sich beispielsweise geirrt, als er per Dekret verbat, den Begriff ‚Sudetenland‘ – Tschechisch Sudety – in der Tschechoslowakei zu verwenden. Und obwohl die Gültigkeit dieses Dekrets praktisch erloschen ist und niemand, hoffentlich, seine Einhaltung einfordern wird, gilt ‚Sudetenland‘ als gemeines Wort. Die Polen haben damit kein Problem, sie verwenden diese Bezeichnung auch in heutigen Landkarten. Geographisch gesehen zieht sich diese Gegend von Ostböhmen bis Karlsbad. Als Konrad Henlein 1938 diese Gegend Adolf Hitler als Gau anbot, ging er davon aus, dass sie vor allem deutschsprachig besiedelt war. Dadurch bekam der Begriff ‚Sudetenland‘ eine politische Note, und das hat bis heute überdauert. Aber sachlich gesehen leben alle, die in Reichenberg, im Riesengebirge oder im Erzgebirge leben, weiter im Sudetenland. Das ist unsere Heimat. Ich will also diesen Begriff in meinen Büchern rehabilitieren, ich gebe ihm seine wahre Bedeutung und auch Kraft zurück.“