Ein Haufen Blech mit viel Geschichte: Spurensuche nach der Aussiger Unternehmerfamilie Schicht
Rudolf Schicht hat einen berühmten Vorfahren: Johann Schicht, der einst in Ústí nad Labem / Aussig ein Firmenimperium aufbaute. Auch Rudolf Schicht stammt aus in der nordböhmischen Stadt an der Elbe und war in seiner Kindheit mit dem Unternehmen eng verbunden. Sein Vater arbeitete als Chauffeur bei der Firma, bis die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg Tschechien verlassen musste. Heutzutage berichtet Rudolf Schicht als Zeitzeuge Schülern von seiner Kindheit in der Stadt. Während seiner letzten Erzählreise erreicht ihn ein Anruf: Ein Autosammler aus Prag vermutet, die Reste eines Wagens der Firma entdeckt zu haben und will nun mehr darüber wissen. Wer wäre eine bessere Informationsquelle als Rudolf Schicht?
„Das war vielleicht das beste Auto von der Serie der Zwölfzylinder Tatra! Es wurden davon nur 22 Stück gebaut und dieses Auto ist das erste von den vier Sportcabrios in der Serie.“
Nur einige tausend Mark bezahlt Kasík für die Autoreste – ein Schnäppchen. Sein Ziel: Alle restlichen Teile zu finden und den Oldtimer detailgetreu nachbauen zu lassen. Dafür braucht er Informationen, woher das Auto stammt und wer es fuhr. Die Schnitzeljagd nach Informationen beginnt. Ein Detail lässt den Sammler aus Prag schließlich stutzig werden: An der Karosserie findet er ein Emblem mit der Inschrift „JHS“. Was das bedeutet, erfährt er erst später. Es steht für den Namen „Johann Schicht“.
„Für mich war damals wichtig, dass es ein Sportcabrio war. Ich wusste nicht wirklich, wer die Familie Schicht war. Für mich war das nur ein Name“, sagt Kasík.Ústí nad Labem: Hier ist „Schicht“ nicht nur ein Name, sondern ein Symbol für die glorreiche industrielle Vergangenheit der Stadt bis zum Zweiten Weltkrieg. Thomas Oellermann ist Historiker am Collegium Bohemicum in Ústí:
„Das ist die große Firma vor Ort gewesen, die in Schreckenstein, also auf der östlichen Seite der Elbe, das komplette Ufer sowohl baulich als auch sozial beherrschte. Sie war der größte Arbeitgeber.“
Johann Schicht, JHS; brachte die Firma 1873 nach Aussig. Während der Gründerzeit wuchs die Firma gewaltig an. Als Johann Schicht 1907 starb, war die Zahl der Beschäftigten von 12 auf 1800 angewachsen. Historiker Oellermann zum Erfolgsrezept der Firma:
„Die Schichts waren zu ihrer Zeit bei den Produkten sehr innovativ. Sie saßen außerdem an einem perfekten Ort: an der Elbe, der Verbindung zwischen Innerböhmen mit Prag und Sachsen. Natürlich, das wissen wir heute, war auch die soziale Komponente ganz entscheidend. Es ging bei den Schichts nicht darum, den Arbeiter auszubeuten und ihn in einem Zwölfstundentag zugrunde zu richten, sondern ihm auch soziale Einrichtungen zukommen zu lassen. Das verbesserte das Arbeitsklima und die Stimmung der Arbeiter.“Ceres-Margarine und Hirschseife – die Produkte des Schicht-Imperiums sind bis heute weit bekannt. Johann Schicht wurde vor fünf Jahren sogar von den Bürgern in Ústí zum bedeutendsten Sohn der Stadt gewählt.
Herbst 2012, wieder in Ústí nad Labem. Ein weiterer Sohn der Stadt kehrt in seine Heimat zurück. Er ist ebenfalls ein „Schicht“: Rudolf Schicht. 1933 in Aussig geboren, musste er die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg in Richtung Deutschland verlassen. Mittlerweile in Paderborn ansässig, kommt er von Zeit zu Zeit zurück in seinen Geburtsort. Dann engagiert er sich im Rahmen eines Projektes des Collegium Bohemicum als Zeitzeuge. In den Schulen der Stadt stellt sich Rudolf Schicht den Fragen der Schüler über die Geschichte von Ústí. Vor allem erinnert er sich an das Firmengelände:
„Das war früher ordentlicher. Es hat keinen Stil mehr. Zum Beispiel das Schicht-Bad: Ich kann mich entsinnen, als Kind bin ich sehr oft hin, habe dort schwimmen gelernt und bin später dort geschwommen. Wir wohnten nur zwei Minuten entfernt. Zu der Zeit war es das modernste Bad, ich habe noch kein besseres gesehen. Schade eigentlich, dass es jetzt so herunterkommt.“Rudolf Schichts Vater war Kriegsinvalide und Chauffeur der Firma. Mit der Unternehmerfamilie ist Rudolf Schicht nur entfernt verwandt. Trotzdem horchen die Aussiger bei seinem Nachnamen auf. Der Historiker Oellermann betreut das Zeitzeugenprojekt in Aussig und erzählt:
„Wir sind mit Rudolf Schicht während seines Besuches in Ústí einmal mit dem Taxi gefahren. Da habe ich dem Taxifahrer erklärt, neben ihm säße ein alter Aussiger, ein ‚Schicht’. Der Taxifahrer war wirklich begeistert und hat gesagt: ‚Ein Schicht, ja klar! Das sagt mir was!’“
Doch noch jemand anderes wurde auf Rudolf Schicht aufmerksam: Autosammler Pavel Kasík. Die Teile für seinen Oldtimer hat er mittlerweile alle zusammen, aber an Informationen mangelt es noch. Und wer könnte sich besser auskennen, als der Sohn des ehemaligen Chauffeurs?Prag im Herbst 2012. Rudolf Schicht ist eingeladen bei Oldtimerfan Kasík. Zusammen mit seiner Frau und Historiker Oellermann macht Rudolf Schicht sich auf den Weg. Mit im Gepäck: zwei alte Fotos aus dem Familienalbum. Die beiden Bilder hat er nach dem Tod seines Vaters gefunden, sie zeigen den ehemaligen Chauffeur und seinen Dienstwagen. In Prag angekommen staunen die Gäste nicht schlecht, als sie auf Kasík treffen – einen Mann im Anzug und mit eigenem Chauffeur, nicht gerade wie man sich einen begeisterten Autofan vorstellt. Kasík ist Staatssekretär im tschechischen Justizministerium, aber das soll heute nebensächlich sein. Heute geht es nur um sein Hobby, die Oldtimer:
„Ich war sieben oder acht Jahre alt, als ich zum ersten Mal Oldtimerbörsen oder Oldtimerrallyes besuchte. Ich habe vor allem Tatra-Fahrzeuge, darunter zwei Stromlinien-Tatras, außerdem noch eine Bugatti von meinem Vater. Aber die anderen Autos sind nicht so interessant wie der Wagen von den Schichts.“Bei Kasík angekommen, führt der erste Weg der Schichts in die Garage. Der Moment der Wahrheit ist gekommen. Kasík weißt auf einen Haufen grauer Einzelteile. Für Rudolf Schicht reicht ein kurzer Blick Für Rudolf Schicht reicht ein kurzer Blick, um das Auto zu erkennen. ‚Das ist es!’, ruft er freudestrahlend. Etwas fällt Schicht aber ebenfalls sofort auf:
„Das ist nicht die Originalfarbe, oder? Das muss schwarz gewesen sein!“Pavel Kasík kann das nur bestätigten:
„Die Kotflügel waren schwarz und die Karosserie war dunkel, blau oder grün.“
Aber Rudolf Schicht weiß es besser:
„Nein grün auch nicht. Wenn, dann kann es nur dunkelblau gewesen sein.“
Wie Detektive versuchen die beiden Experten schließlich mehr über die Geschichte des Autos herauszufinden. Rudolf Schicht zückt eines seiner Familienfotos. Darauf zu sehen: zwei Männer mittleren Alters, die auf dem Trittbrett ihres Wagens hocken. Schicht tippt auf den linken Mann und erklärt:
„Das, das ist mein Vater. Und daneben ist ein Kollege von ihm. Mein Vater hat 1931 geheiratet. Da ich keinen Ehering an seiner rechten Hand sehe, muss das Bild vor 1931 gemacht worden sein.“Pavel Kasík ist skeptisch und kramt in seinen Dokumenten. Mehrere Ordner voller Bilder und Zeichnungen, Tabellen und alten Briefen hat er inzwischen über das Tatra-Cabrio gesammelt.
„Aber das Auto hat Herr Schicht ein paar Tage vor Weihnachten 1931 erst gekauft!“
Tatsächlich entdeckt er dazwischen ein genaues Datum, wann der Wagen zugelassen wurde. Auch wie es dem Auto viel später erging, hat der Sammler Kasík genauestens dokumentiert:
„Dieses Auto wurde in den 70er Jahren in Mähren verschrottet. Es wurde bis damals als Feuerwehrauto genutzt. Dann war es bei verschiedenen Sammlern in Tschechien, der Slowakei und Deutschland. In den 90er Jahren habe ich es dann nach Tschechien zurückgeholt.“Unklar bleibt, was mit dem Auto zwischen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Verschrottung passierte. Ein Erklärungsversuch von Rudolf Schicht:
„Ich weiß, dass die Firma die Autos während des Krieges auf alle Fälle abgeben musste. Wo sie dann im Einsatz waren, das weiß keiner. Die höheren Beamten von Schicht sind dann mit der Kutsche gefahren!“
Auch wenn nicht alle Fragen beantwortet werden konnten – die Informationen des alten Aussigers helfen Oldtimerfan Kasík wieder einen Schritt weiter zur Erkenntnis. Außerdem hat ihm Schicht Abzüge seiner Familienfotos mitgebracht, die er für den Sammler signiert. Und zumindest eines ist nach der besonderen Begegnung klar: Tatsächlich fuhr der Vater von Rudolf Schicht früher das Auto, dessen Kleinteile heute in Kasíks Garage lagern.