Eingesperrt in Theresienstadt: Helga Pollak dokumentierte das Leben im Ghetto
Helga Pollak ist eine von 15 Überlebenden aus dem Theresienstädter Zimmer 28. Insgesamt lebten 55 Mädchen in dem Mädchenheimzimmer. Während ihrer Zeit in Theresienstadt hat Helga Pollak Tagebuch geschrieben. Heute ist es eines der wenigen Zeugnisse über das Ghetto Theresienstadt.
„In ein 28 bis 30 Quadratmeter großes Zimmer zu kommen, mit ungefähr dreißig Kindern, ist schon gewöhnungsbedürftig. Am Anfang waren sie auch nicht freundlich zu mir, weil sie schon länger zusammen waren. Es waren schon Cliquen geformt, und ich gehörte halt zu gar keiner.“
Seit ihrer Ankunft in Theresienstadt hat Helga Pollak Tagebuch geschrieben. Es ist eines der wenigen Zeugnisse, das nicht vernichtet wurde. In ihrem Tagebuch beschreibt Helga Pollak ihren ersten Tag im Zimmer 28 des Mädchenheims so:
„Freitag, 29. Januar 1943: Ich bin eingezogen ins Mädchenheim. Es ist ein sonniges Zimmer im Gebäude der ehemaligen Kommandantur. Das Haus liegt neben der Kirche, unsere Fenster gehen auf den Hauptplatz. Ich könnte immer aus dem Fenster schauen, weil ich schöne Berge sehe (Mittelböhmisches Gebirge, den Berg Milesovka). Die Mädchen haben keinen guten Eindruck auf mich gemacht. Als ich ihnen sagte, dass ich zu ihnen ziehe, baten sie die Betreuerin, mich anderswo unterzubringen. Die Betreuerin hat es versucht, doch es ging nicht. Ich schlafe auf einer Matratze im mittleren Teil der dreistöckigen Pritschen. Alles drückt mich. Ich bin sehr müde, deshalb höre ich auf zu schreiben.“
„Die Mädchen haben keinen guten Eindruck auf mich gemacht“
Doch die junge Helga Pollak fand bald eine Ablenkung vom tristen Alltag im Theresienstädter Ghetto. Die Inhaftierten organisierten – anfangs heimlich – Unterricht für die Kinder. Sie probten die Kinderoper „Brundibár“ ein und führten diese insgesamt 55 Mal auf. Neben dem Singen im Chor wurden die Kinder ermuntert, selbst kreativ zu werden – zum Beispiel ihre Gefühle zu malen. Außerdem konnten sie Konzerte und Theateraufführungen besuchen.
„Für mich hat das sehr viel bedeutet. Das war eigentlich zum Schluss das Vorwiegende in Theresienstadt. Als ich mich bereits an das Kinderheim gewöhnt hatte und es für selbstverständlich fand, hat diese Kultur sehr viel Einfluss auf mich gehabt. Vielleicht mehr als alles andere im Leben nachher.“Ihr Vater – Otto Pollak – vermerkt regelmäßig in seinem Tagebuch, wie seiner Tochter ein Konzert oder eine Oper gefallen hat. Auch seine Aufzeichnungen sind heute noch vorhanden und ergänzen die Erinnerungen seiner Tochter Helga. Allerdings hat er keine Texte geschrieben, sondern stichpunktartig festgehalten, was in Theresienstadt passierte. Außerdem hat Otto Pollak den Gesundheitszustand seiner Tochter sehr genau dokumentiert. Sie war oft krank, hatte Mittelohrentzündungen, Typhus, und auch die Wanzenplage erwischte sie. Immer wieder lag sie deshalb im Krankenzimmer. Wenn sie krank war, konnte Helga Pollak keine Tagebucheinträge verfassen. An manchen Stellen gibt es Lücken von bis zu zwei Wochen. So schrieb sie am 18. März 1944:
„Seit 17 Tagen habe ich nichts geschrieben, sei mir nicht böse. Möglich, dass ich jetzt eine längere Zeit nicht mit dir sprechen werde. Ich liege seit zehn Tagen im Bett mit einer Magengrippe. Ich habe Gelbsucht (Nahrung ohne Margarine und viel Zucker), es schmeckt mir viel besser als das Essen der Kinderküche. In der Kinderküche gibt es dauernd Knödel, während es bei der Gelbsucht für Theresienstadt ziemlich vielseitige Gerichte gibt.“Helga Pollak schrieb viel über das Essen in Theresienstadt. Denn es war kein gutes Essen, wie sie selbst sagt. Die Kinder wurden bezüglich des Essens sogar bevorzugt, erinnert sie sich.
„Man nahm sogar von den Alten noch etwas weg, um es der Kinderküche zu geben. Damit wir etwas mehr Kalorien hatten. Aber gut war das Essen nie. Wir hatten einmal die Woche so Buchteln mit einer Soße, die wahrscheinlich Kaffee war – aber unechter. Dann hatten wir Haschees, deren Geruch mich schon vertrieben hat. Ich schrieb, dass wir einmal einen Buchweizenbrei hatten, der grässlich war. Wir hatten Knödel. Aber das war ja alles nicht gut.“
Umso mehr freuten sich Helga Pollak und ihre Familie über die Nahrungsmittelpakete, die sie von ihrer nicht-inhaftierten Verwandten Mařenka bekamen. Am 15. Oktober 1943 notierte Helga Pollak in ihr Tagebuch, das sie zu dieser Zeit „Bruder Spinne“ nannte:
„Das Hirn leidet hier genauso wie der Körper“
„Gerade kam die Nachricht, dass ich ein großes Paket bekommen habe. Es war das bisher schönste Paket, das unsere Familie erhalten hat. Es wog 20 kg. Es ist nicht nett, dem Bruder Spinne zu schreiben, was in dem Paket war und ihm hier in Theresienstadt Appetit zu machen. Inhalt: 4 kg Brot, 5 kg Kartoffeln, ¼ kg Butter, ¼ und 1/8 kg Margarine, ½ kg Kunsthonig, ¾ kg Marmelade, 2 Röhrchen Sacharin, 3 Sardellenpasten, eine große Tüte Kekse, 10 Puddingpulver, Suppenwürfel, 20 Deka Zucker, Graupen und Nudeln und 4 Eier. Etwas habe ich bestimmt vergessen, aber es reicht ja schon, dass ich nicht alles, was im Paket war, vergessen habe. Hier in Theresienstadt leidet nämlich das Hirn genauso wie der Körper.“
Verbesserung versprachen sich Helga Pollak und ihre Freundinnen von dem Besuch des internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944. Die Kommission wurde auf genau festgelegten Wegen kreuz und quer durch Theresienstadt geführt. Es war alles exakt geplant. Außerdem war es den Theresienstädtern verboten, mit den Gästen zu sprechen. Und trotzdem gab es anfangs noch Hoffnung.„Man hat schon gedacht, dass es etwas Ehrliches ist und dass eine Verbesserung stattfinden wird. Wir waren sehr enttäuscht von diesem Besuch, weil die Gäste wirklich nur die Wege gingen, die vorgesehen waren. Die Besucher sind nie aus der Reihe getreten. Ihnen ist nicht eingefallen, eine Tür von einem Haus, an dem sie vorbeikamen, aufzumachen und zu schauen, was dahinter ist. Ich habe mir richtige Verbesserungen erwartet – dass vielleicht keine Transporte mehr gehen, dass die Lebensmittelversorgung viel besser wird, weil wir unter Hunger gelitten haben.“
Zwei Mal knapp dem Tod entkommen
Vier Monate nach dem Besuch des Roten Kreuzes im Oktober 1944 wurde Helga Pollak nach Auschwitz deportiert. Durch Glück hat sie die Selektion überlebt. Sie wurde zu einem Arbeitseinsatz in einer Munitionsfabrik in Oederan in Sachsen zugeteilt. Und das nur, weil sie sich um vier Jahre älter gemacht hat. Statt ihres richtigen Geburtsjahres 1930, hat sie angegeben 1926 geboren worden zu sein. Damit war sie 18 Jahre alt und musste Zwangsarbeit leisten.„An der Rampe sagte ich noch mein richtiges Alter, aber als dann die Schreiberin in die Baracke kam und alle unsere Namen und Geburtsdaten aufgenommen hat, hat sie ganz deutlich gesagt: ‚Es ist niemand jünger als 1926 geboren.‘“
Die Warnung der Schreiberin hat Helga Pollak das Leben gerettet. Bis zur Räumung des Konzentrationslagers Flossenbürg, zu dem auch das Außenlager Oederan gehörte, musste sie schwere Zwangsarbeit leisten. Im April 1945 wurde das Konzentrationslager wegen der immer näher rückenden Front evakuiert. Hunderte Menschen wurden in offenen Viehwaggons Richtung Westen gebracht. Helga Pollak war glücklich, als sie merkte, dass sie nach Theresienstadt gebracht worden war. Eines wurde ihr allerdings erst klar, als sie aus der Quarantänestation in Theresienstadt entlassen wurde:„Ich wusste nicht, dass Theresienstadt nicht mehr das Theresienstadt war, das ich verlassen hatte. Inzwischen gab es viele Todestransporte. Und Theresienstadt war mit fremden Leuten übervölkert. Alle möglichen Sprachen wurden dort gesprochen. Und es wurde Flecktyphus eingeschleppt, dadurch konnte ich gar nicht zu meinem Vater, sondern kam in die Quarantäne. Aber ganz kurz muss ich bei meinem Vater gewesen sein, weil ich mich erinnere, dass er meine schmutzigen Kleider verbrannte und mir etwas anderes zum Anziehen gab.“ In Theresienstadt hat Helga Pollak die Befreiung durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 miterlebt. Einen Monat blieben sie und ihr Vater noch in Theresienstadt. In der Zwischenzeit kam eine Cousine, um die beiden abzuholen. Gemeinsam fuhren sie nach Kyjov. Dort mussten Vater und Tochter feststellen, dass sie 61 Verwandte verloren hatten. Allein Helga Pollaks Mutter hatte überlebt. Sie konnte 1938 noch rechtzeitig nach England flüchten. Ein Jahr nach Kriegsende kam es dann zum lang ersehnten Wiedersehen in London. Helga Pollak emigrierte nach England zu ihrer Mutter und holte ihr Abitur nach. Außerdem lernte sie ihren späteren Mann kennen.