Erfolgsgeschichte mit Verspätung – die Industrialisierung der Böhmischen Länder

Stahlwerk Rudolf-Hütte in Třinec

Die Industrialisierung war ein Prozess, der das Leben von vielen Millionen Menschen revolutionierte. Sie begann im 18. Jahrhundert in Großbritannien und verbreitete sich über Frankreich und Deutschland auch im restlichen Europa. In der Habsburger Monarchie setzte sich der wirtschaftliche Fortschritt hauptsächlich in den Böhmischen Ländern durch. Warum dies so war und welche Konsequenzen daraus entstanden, das ist im Folgenden unser Thema.

Stahlwerk Rudolf-Hütte in Třinec
Die Maschine – sie steht im Zentrum des Industrialisierungsprozesses. Doch in der Habsburger Monarchie begann die Mechanisierung der Handarbeit vergleichsweise spät. Diese Verzögerung in Europas zweitgrößtem Staat hatte seine Gründe: So wurden die Reformen des auslaufenden 18. Jahrhunderts nicht vollendet, und die Regierungsform blieb auch im 19. Jahrhundert noch absolutistisch.

Erst 1859 wurden dort die Gewerbefreiheit und drei Jahre später das Deutsche Allgemeine Gesetzbuch eingeführt. Dadurch wurde der Weg frei zur Gründung von Unternehmen, und diese entstanden schon bald zu Tausenden. Das regionale Gefälle war allerdings enorm groß. Während Gegenden wie die Bukowina und Dalmatien rückständig blieben, verlief der industrielle Wandel ganz besonders dynamisch in den Böhmischen Ländern. Dort lagerten vor allem die einzigen bedeutenden Steinkohlevorkommen der Monarchie. Und es bestanden bereits erfolgreiche Betriebe, die nun modernisiert wurden und so an die Spitze der internationalen Konkurrenz gelangten. Ein solcher Fall war das Eisenwerk in Trzynietz, auf Tschechisch Třinec. Das Walzwerk dieses Unternehmens in Mährisch Schlesien wurde Anfang des 20. Jahrhunderts sogar als erstes weltweit elektrifiziert.

Ringhoffer-Werke
Erwähnenswert sind auch die Ringhoffer-Werke, deren Gründer 1796 aus dem Burgenland nach Prag kam. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Maschinenbaufirma eines der größten Unternehmen in der Monarchie. Solche Beispiele gab es viele weitere, sagt Antonie Doležalová, Historikerin an der Wirtschaftshochschule in Prag:

„Die meisten Vorkommen an Kohle, Eisenerz und weiteren Bodenschätzen, die wichtig waren für den raschen wirtschaftlichen Aufschwung, befanden sich auf böhmischem Gebiet. Es ist daher nur logisch, dass sich gerade dort die industrielle Herstellung konzentrierte. Neben der Schwerindustrie waren auch angeschlossene Bereiche erfolgreich. So hatte das Gebiet des heutigen Tschechiens zum Beispiel auch in der Zucker-, Textil- oder Glasherstellung eine dominante Stellung. Die Porzellanindustrie war sogar fast komplett in Böhmen konzentriert. Infolge dessen ging es den Böhmischen Ländern zu Ende des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich allgemein sehr gut. Sie entwickelten sich schneller als die Monarchie im Schnitt und überholten daher sogar die früher erfolgreicheren Regionen Wien und Niederösterreich.“

Schwarzer Freitag an der Wiener Börse am 9. Mai 1873
Der erste rasche wirtschaftliche Aufstieg kam 1873 durch den Krach an der Wiener Börse 1873 abrupt zu stehen. Die kapitalkräftigen Schichten wurden zurückhaltender und die Zahl der neugegründeten Betriebe schrumpfte; zudem war auch ein Mangel an technischen Innovationen zu spüren. Das galt für die gesamte k.u.k. Monarchie, in Böhmen zeigte sich jedoch noch ein spezifischer Aspekt: Besonders die Tschechen verloren ihren Mut zum Unternehmertum. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren nur zwei Prozent der Betriebe mit mehr als 20 Arbeitern in tschechischen Händen. Oder anders gesagt: Deutsch geführte Firmen besaßen durchschnittlich dreieinhalb Mal mehr Kapital als tschechische. Die Aktiengesellschaften verfügten dabei nicht nur über finanzielle Mittel der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien, sondern auch aus dem Deutschen Reich. Das Nachbarland war schließlich der wichtigste Wirtschaftspartner der Monarchie. Dies trug zu Spannungen bei zwischen beiden ethnischen Gruppen. Doch von einer absichtlichen Unterdrückung der Tschechen konnte nicht die Rede sein, erläutert Antonie Doležalová:

Albin Braf  (Foto: Wikimedia Free Domain)
„Die Volkswirtschaftler von damals nahmen die tschechische Rückständigkeit in diesem Punkt wahr, waren jedoch der Meinung, sie könne durch systematische Arbeit überwunden werden. Der tschechische Ökonom und Politiker Albin Braf betonte, die Tschechen müssten ihre Angst ablegen und den unternehmerischen Geist in sich wecken. Nach der Rückkehr von Studium oder Praktikum in Wien sollten sie nicht in die ‚warmen Amtsstuben‘ streben, sondern auch mit kleinem Geld unternehmerisch tätig werden, wie es die Deutschen täten, sagte er. Der Vorsprung der Deutschen hatte in seinen Augen keine nationalen Gründe. Er rief daher nach einem sogenannten tschechischen ´wirtschaftlichen Aufbruch´.“

Das nationalistische Argument, dass die Deutschen im Vergleich zu den Tschechen über größeres Kapital verfügten, hält auch Historikerin Doležalová für nicht haltbar. Es gab schon damals genügend Genossenschaften beziehungsweise Spar- und Darlehenskassen, die auf nationaler Idee basierten. Das tschechische Bankwesen gehörte zu den sich am schnellsten entwickelnden Wirtschaftsbereichen, es konzentrierte sich jedoch auf Investitionen in Russland, auf dem Balkan und in weiteren osteuropäischen Gegenden. Diese Zielrichtung wurde oft damit begründet, dass man den slawischen Brüdern und unterdrückten Völkern helfen müsse. Der wahre Grund lag aber wahrscheinlich eher darin, dass es in Böhmen nur wenige sozusagen „echt patriotische“ Investitionsmöglichkeiten gab.

Bahnhof in Bratislava
Nach der Entstehung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 erbte der neue Staat neben Positivem auch viele Probleme Österreich-Ungarns. Dazu gehörte der enorme wirtschaftliche Unterschied zwischen den gut entwickelten böhmischen Ländern und der zurückgebliebenen Slowakei sowie der Karpaten-Ukraine. Auch mussten die Eisenbahn- und Straßenverbindungen zwischen den westlichen und den östlichen Teilen des Staates erst einmal gebaut werden. Denn in der k.u.k. Monarchie waren vor allem Nord-Süd-Verbindungen entstanden. Die Tschechoslowakei übernahm des Weiteren auch den Steuerdualismus der Doppel-Monarchie, betont Doležalová:

„Die Slowakei gehörte früher zu Ungarn, das eine eigene Steuergesetzgebung hatte. In den böhmischen Ländern galten dagegen die Gesetze des österreichischen Teils der Monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg entschied sich die Regierung in Prag, diesen Dualismus zu bewahren, und zwar mit dem Argument, das unterschiedliche Steuerniveau solle die böhmischen und mährischen Firmen dazu motivieren, Filialen im zurückgebliebenen Osten zu gründen. Erst nachdem sich die Lage dort halbwegs verbessert hatte, wurden die Steuersätze vereinigt. 1927 begannen die böhmisch-mährischen Steuergesetze auch in der Slowakei und der Karpaten-Ukraine zu gelten.“

Wien
Ein weiteres Problem war der schon erwähnte Ursprung des Aktienkapitals. Die große Mehrheit der in Böhmen und Mähren tätigen österreichischen Firmen hatte ihren Sitz in Wien. Nationalismus spielte dabei keine Rolle. Während zahlreiche Städte und Kommunen zusätzliche Abgaben zu den ansonsten niedrigen Zentralsteuern erhoben, tat dies die Hauptstadt an der Donau nicht. Nach dem Zerfall der Monarchie war die Steuerflucht nach Wien aber nicht mehr möglich. Die betroffenen Aktionäre wurden nun zur sogenannten Nostrifikation aufgefordert. Dies bedeutete vor allem, den Firmensitz in die Tschechoslowakei zu verlegen. Als Anreiz bot die Regierung in Prag den Firmen an, ihre Steuerrückstände nicht einzutreiben.

Antonie Doležalová  (Foto: Archiv der Ökonomischen Hochschule Prag)
Eine weitere Forderung des Kabinetts war, dass die Mehrheit der Aktionäre die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft haben sollte. Um dies zu erfüllen, mussten die Firmen ihre Anteile an tschechoslowakische Banken verkaufen.

„Zu diesen Verkäufen kam es zu Beginn der 1920er Jahre, als in Österreich die Hyperinflation tobte. Für die tschechoslowakischen Banken waren deshalb diese Geschäfte sehr vorteilhaft, sie konnten den Preis bis um 60 Prozent reduzieren. Die Umsetzung der Nostrifikation war aber sehr kompliziert, sie richtete sich nach keinem Gesetz, sondern nur nach einer Vereinbarung zwischen den Regierungen in Prag und Wien. Das alles ging aus dem Friedensschluss von Versailles hervor, darin waren die Nachfolgestaaten der Monarchie verpflichtet worden, die Verhältnisse in der Privatwirtschaft zu regeln“, so Historikerin Doležalová.

Die preiswerten Käufe von Aktien österreichischer Betriebe hatten allerdings für die Tschechoslowakei auch einen negativen Nebeneffekt. Die Banken gaben dafür viel Geld aus, das ihnen dann für Investitionskredite fehlte. Besonders Anfang der 1920er Jahre war dadurch der Ausbau der Industrie gehemmt. Trotzdem konnte die Tschechoslowakei unmittelbar an die gute wirtschaftliche Entwicklung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen. Besonders in den 1930er Jahren gehörte sie zu den am besten entwickelten Staaten Europas.