Feiern die Tschechen den Staatsfeiertag durch Flaggenhissen?
Die Staatsflagge. Eine Regel besagt, dass sie an Staatsfeiertagen, von denen wir gerade heute in Tschechien einen begehen, gehisst werden soll. Wie hat sich jedoch diese Regel im Bewusstsein der Bevölkerung eingebürgert? Was für eine Beziehung hat man zu diesem Staatssymbol? Wir möchten uns in der heutigen Sondersendung zu den Wurzeln der tschechischen Staatsflagge aufmachen, ihre Geschichte bis in die Gegenwart verfolgen, und letzten Endes auch versuchen, die gerade genannten Fragen zu beantworten. In den nachfolgenden Minuten begleiten Sie dabei Markéta Maurová und Lothar Martin.
"Anfänglich wurde vorausgesetzt, dass die Tschechoslowakei eine weiß-rote Bikolore als Fahne verwenden könnte. Einer solchen hatte sich jedoch schon Polen angenommen, und weil auch die Flagge des benachbarten Österreichs weiß-rot war, war es notwendig, uns von den Nachbarstaaten zu unterscheiden."
Bereits Ende des Jahres 1918 nahmen Politiker Beratungen mit Fachleuten auf. Zudem wurde eine Kommission eigens für die Staatsflagge gegründet. Ihr Mitglied war auch Jaroslav Kurza. Diesem jungen Mann, der sich mit der Heraldik und Vexilologie beschäftigte, sollte später die entscheidende Rolle zukommen. Im Unterschied zu anderen Kommissionsmitgliedern konnte er sehr gut malen. Er setzte daher zunächst grafisch die Vorschläge einzelner Mitglieder um, die in den folgenden Monaten behandelt wurden. Als sich erwiesen hatte, dass die Staatsfahne nicht weiß-rot sein kann, wurde vereinbart, dass es am besten wäre, die blaue Farbe hinzuzufügen, damit eine slawische Trikolore entsteht. Und es ging nur darum, wie diese drei Farben miteinander verbunden werden.
"Wahrscheinlich war es damals gerade Jaroslav Kurza, der mehrere Varianten schuf: die blaue Farbe bildete z.B. einen winzigen Streifen an der Flaggenstange oder einen waagrechten engeren Streifen zwischen weiß und rot. Und dann kam er auf die Idee, ein blaues Dreieck an der Stange zu platzieren."
Dieser Entwurf stieß auf breite Zustimmung und wurde weiter überprüft. Die Kommission ging nämlich sehr sorgfältig vor und wollte nichts dem Zufall überlassen. Ein zu überprüfendes Kriterium war zum Beispiel, ob die Fahne von der Ferne gut sichtbar sei. Und so konnte die Öffentlichkeit die Fahne mit dem kleinen blauen Keil im Jahre 1919 zum ersten Mal erblicken und beurteilen - sie wurde auf Dampfschiffen auf der Moldau in Prag getestet.
Der Keil war zunächst leider zu klein, er reichte nur bis zum Drittel der Fahne. Als der Entwurf dem Parlament vorgelegt wurde, traf er daher auf relativ großen Widerstand und der Billigungsprozess verzögerte sich. In die Kommission wurden daraufhin einige Künstler berufen, die den Entwurf der Heraldiker aus einer anderen Sicht Ansicht beurteilten. Erst Anfang des Jahres 1920 haben sie eine einzige kleine Veränderung vorgeschlagen, und zwar, dass der blaue Keil bis in die Hälfte der Flagge verlängert werden soll.
"Diese Form wurde am 30. März 1920 vom Parlament gebilligt und seitdem als die tschechoslowakische Staatsflagge benutzt. Und zwar bis 1939. Während der Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren durfte sie nicht mehr gehisst werden. Damals gab es eine spezielle Protektoratsfahne. Nach dem Krieg kehrte man dann mit Freude zu ihr zurück."
Die Bevölkerung kehrte nach dem Krieg zu ihrer Fahne mit Freude zurück. Wie verhielt es sich aber in den ersten Jahren ihrer Existenz? Hat sich sofort ein enges und positives Verhältnis zu ihr herausgebildet? Hat man sich dazu gleich bekannt?
"Der Weg dahin war ein bisschen komplizierter. In der Presse sind damals einige kritische Artikel erschienen. Aber ich meine, diejenigen, denen die Flagge gefällt, pflegen gewöhnlich nicht in den Zeitungen zu schreiben, meistens schreiben nur die Kritiker. Die kritischen Stimmen hielten sich in Grenzen und im Laufe der Zeit, als die Flagge bei verschiedenen Wettbewerben, bei Sportwettkämpfen, also der Repräsentation der Tschechoslowakei im Ausland zu sehen war, gewann sie immer mehr an Popularität. Innerhalb von zwei, drei Jahren fand sie Gefallen und wurde nicht mehr kritisiert."
Trotzdem existierten gewisse Unterschiede in der Akzeptanz im tschechischen und im slowakischen Teil der Republik.
"Das ist eine interessante Frage. Die Slowaken nutzten nämlich immer noch gerne die weiß-blau-rote Fahne, die dort seit 1848 als slowakische und slawische Trikolore verwendet wurde. Allerdings soll erwähnt werden, dass die ersten Fahnen, die Anfang des stürmischen Jahres 1848 von Slowaken benutzt wurden, erstaunlicherweise auch nur weiß-rote wie in Böhmen waren. Von 1939 bis 1945 wurde die Trikolore mit den drei waagerechten Streifen vom Slowakischen Staat angenommen. Dies hinderte jedoch die Slowaken nicht daran, bei den Demonstrationen im November 1989 erneut auf diese Flagge zurückzugreifen."
Und damit sind wir schon übergesprungen in die jüngste Geschichte der tschechoslowakischen Staatsflagge, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts in ein tschechisches Hoheitssymbol verwandeln sollte. 1993 zerfiel das gemeinsame Land der Tschechen und Slowaken in zwei selbständige Staaten. Die Slowaken entschieden sich damals für ihre ursprüngliche Trikolore. Der rechtliche Anspruch auf das alte tschechoslowakische Symbol war daher frei und die Tschechische Republik konnte es übernehmen. Es wurde eigentlich keine andere Variante, kein Gegenvorschlag in Betracht gezogen. Das tschechische Parlament traf eine einstimmige Entscheidung - im übrigen war es eines der wenigen Gesetze, über die eine so breite und einmütige Eintracht herrschte."Wir haben damals im Parlamentsausschuss für Heraldik über die Frage beraten, welches Symbol man für die selbständige Tschechische Republik wählen kann. Unter uns war damals der bekannte Heraldiker Jiri Louda, der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in England kämpfte. Und dieser Mann erzählte uns sehr offen darüber, was für ihn und seine Freunde seinerzeit die tschechoslowakische Flagge bedeutet habe und dass es eine große Schande wäre, dieses Symbol, das den Bewohners Böhmens, Mährens und auch einigen Slowaken sehr nahe steht, in der Tschechischen Republik nicht weiter zu benutzen."
Für die im Ausland kämpfenden Tschechen und Slowaken war die Staatsflagge während des Krieges von einer riesigen Bedeutung. Dies galt damals natürlich auch für diejenigen, die im Protektorat lebten. Immer wenn sich die Nation bedroht fühlt oder große geschichtliche Umbrüche erlebt, greift sie nach diesem Symbol - so war es im August 1968, aber auch im November 1989, als man überall auf den Straßen ein weiß-rot-blaues Fahnenmeer sehen konnte. Heute, in einer weniger angespannten Zeit, erinnert man sich der Fahne wohl nur in dem Augenblick, wenn unsere Sportler Erfolge im Ausland feiern. Da verspürt man eine regelrecht heiße Beziehung zu ihr. Aber sonst? An einem Tag wie heute?
"Etwas anderes ist es bei offiziellen Staatsfeiertagen. Dort herrscht wohl immer noch das Gefühl des Zwangs aus der Zeit des Sozialismus. Daher können wir an gewöhnlichen Häusern nur wenige Fahnen sehen. Aber andererseits - eine ähnliche Haltung gab es auch zur Zeit der Ersten Republik. Schon seit 1920 wurde kritisiert, dass die Leute nur selten Fahnen heraushängen. Wir sind halt eben ein etwas anderes Volk als etwa die Amerikaner, für die die US-Staatsflagge ein sehr bedeutendes Symbol ist und für deren Verbrennung ihnen z.B. sehr strenge Strafen drohen. Bei uns wurde sie nie so gesehen. Andererseits aber, wenn eine Euphorie darüber entsteht, dass wir in einem Bereich einzigartig waren und zum Beispiel bei einer Weltmeisterschaft gesiegt haben, dann sind überall viele Flaggen zu sehen."
Liebe Hörerinnen und Hörer - die Sondersendung, die dem Hoheitssymbol der Tschechischen Republik gewidmet war, ist am Ende angelangt. Es bleibt uns nur noch, auf die Straße zu gehen und zu schauen, wie viele Flaggen dort an den Häusern flattern. Wir feiern doch heute einen Staatsfeiertag. Ich danke Herrn Ales Brozek für seine Erzählung und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Aus Prag verabschieden sich von Ihnen Lothar Martin und Markéta Maurová.