Gescheiterte europäische Eingliederung: tschechoslowakische Außenpolitik 1918 bis 1938
1938 wurde die Tschechoslowakei von ihren Verbündeten Frankreich und Großbritannien verraten – beide Staaten stimmten der Abtretung der Sudetengebiete an Hitlerdeutschland zu. So verstehen bis heute die Tschechen die damalige Lage rund um die Unterzeichnung des Münchner Abkommens. Wie fest war also das Bündnis mit den genannten Staaten? Worauf beruhte die tschechoslowakische Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit? Wodurch wurde das Verhältnis mit den Nachbarländern geprägt?
„Die Sitzung des ständigen Rates der Kleinen Entente ist ein bedeutendes Ereignis. Schon seit 15 Jahren arbeiten unsere drei Länder zusammen, um eine politische Gemeinschaft in Mitteleuropa aufzubauen. Es war eine langsame und mühsame Arbeit, doch war sie zugleich systematisch und konstruktiv. Unser Konzept war nie bloß der Widerstand gegen den einen oder anderen Nachbarn. Es war ein Kampf gegen die Erneuerung der Vorkriegszustände und für ein neues Europa. Nun schließen wir die Vorbereitungsphase ab. Wir unterschreiben einen Organisationspakt, gründen einen ständigen Rat und bilden somit eine höhere Einheit der europäischen Politik. Die westeuropäischen Länder erkennen an, dass gerade in dieser komplizierten politischen Zeit ein wichtiger Schritt zu einem neuen Gleichgewicht im Nachkriegs-Europa getan wurde.“
Den Optimismus, den Edvard Beneš in seiner Rede verbreitete, bezeichnet Historiker Koura jedoch als realitätsfremd. Frankreich hatte sich damals schon längst von der Kleinen Entente abgewandt und eigentlich auch von der Tschechoslowakei. Die Interessen der Regierung in Paris lagen anderswo, weil die Karten der europäischen Politik neu gemischt wurden.„Die französische Strategie konzentrierte sich seit 1930 auf die Abwehr eines potenziellen deutschen Angriffs. Es entstand die bekannte Maginot-Linie, ein Bunkersystem zur Verteidigung, obwohl die deutsch-französische Grenze seit 1925 durch die Verträge von Locarno als gesichert galt. Deutschland drohte immer mehr mit einer Expansion, und seit Hitlers Machtergreifung Ende Januar 1933 hatte sich diese Gefahr noch verstärkt. Beneš muss das gespürt haben, wollte aber wahrscheinlich Optimismus vorschützen. Denn damals war eigentlich klar, dass die Kleine Entente kaum noch eine Bedeutung hatte. Insofern war Benešs Rede von 1933 sehr anachronistisch“, so Koura.
Jenseits der drei Hauptpfeiler bildeten die Beziehungen zur Sowjetunion ein ganz spezielles Kapitel in der tschechoslowakischen Außenpolitik. In den 1920er Jahren bestanden nur minimale Kontakte zwischen beiden Staaten, die Regierung in Prag lehnte es sogar ab, die Existenz der Sowjetunion de jure anzuerkennen. Doch nach der Weltwirtschaftskrise und mit der Verschärfung der politischen Lage in Mitteleuropa nahm das Interesse für das kommunistische Land immer mehr zu. Besonders nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland drängten die demokratischen Politiker darauf, Moskau für eine Koalition gegen Hitler zu gewinnen. In den 1930er Jahren verbesserte vor allem Frankreich sein Verhältnis zu Moskau, was Edvard Beneš ausgesprochen begrüßte. 1934 erkannte die tschechoslowakische Regierung die Sowjetunion offiziell an, das öffnete den Weg zu einem Bündnisvertrag. Frankreich und die Tschechoslowakei unterschrieben ihre Verträge mit dem Riesenreich im Osten im Jahr 1935 nur im Abstand von zwei Wochen zueinander. So entstand eine neue politische Allianz. Die Außenpolitik der Tschechoslowakei lag in der ganzen Zwischenkriegszeit voll in den Händen von Beneš. Ab und zu wurde der Minister zwar von einigen einheimischen Politikern kritisiert, wirkliche Vorstellungen von einer Alternative zu dessen Politik hatten sie jedoch nicht. Einzig erwähnenswert ist ein Versuch von Milan Hodža, der Agrarier wurde 1935 Regierungschef und neuer Außenminister nach der Wahl von Beneš zum Staatspräsidenten. Dazu Historiker Miroslav Šepták vom tschechischen Nationalarchiv:„Milan Hodža ging wie Edvard Beneš als Politiker konzeptionell vor. Mitte der 1930er Jahre entwickelte er die Idee, Mitteleuropa neu zu gestalten. Und zwar sollte eine freie Konföderation entstehen, mit zwei Sitzen: im polnischen Danzig und im griechischen Thessaloniki. Den Begriff Mitteleuropa definierte Hodža offensichtlich anders als wir heute. Er verstand darunter den gesamten Raum zwischen Deutschland und Russland. Diesen Raum hielt er nach dem Zerfall von Österreich-Ungarn nicht für stabil beziehungsweise für unfähig, sich der Expansion von Deutschland zu widersetzen.“
Der Hodža-Plan war aber aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt. Eine Voraussetzung wäre gewesen, dass sich das Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Polen sowie Ungarn verbessert hätte – dazu kam es aber nicht. Beide Staaten verfolgten ihre eigene Expansionspolitik und sie hielten die Tschechoslowakei eher für ihren Feind, als für ihren Partner. Darüber hinaus interessierten sich die Balkanstaaten für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, vor allem als Absatzmarkt ihrer landwirtschaftlichen Produkte. Beneš war grundsätzlich nicht gegen die Hodža-Idee, hielt sie aber nicht für realistisch. Er hoffte weiterhin auf gute Kontakte mit Frankreich. Trotz aller Bemühungen, Verbündete zu finden und so eine drohende Auseinandersetzung mit Deutschland abzuwenden, war die Tschechoslowakei im Krisenjahr 1938 schließlich auf sich alleine gestellt. Frankreich und Großbritannien kamen Hitler entgegen und unterschrieben das Münchner Abkommen. Die Politiker aus London und Paris glaubten, sie könnten mit der Abtretung der Sudetengebiete an Deutschland den Frieden in Europa erhalten. Schon bald mussten sie aber erkennen, welch Irrtum dies war.