Geschichte des tschechisch-deutschen Verhältnisses - Teil 7
Willkommen zum abschliessenden Teil unserer Miniserie Geschichte des tschechisch-deutschen Verhältnisses sagen Ihnen diesmal Katrin Schröder und Jürgen Webermann, Redaktion hat Lenka Cabelova.
Der letzte Teil war ein wenig theoretisch, heute werden wir uns dagegen viel mit der Realität beschäftigen. Zunächst sprechen wir über die letzten Tage des tschechisch-deutschen Zusammenlebens in einem Staat, obwohl das Wort Zusammenleben in diesem Kontext nicht besonders treffend ist. Das erste heutige Thema ist nämlich die Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. In der zweiten Hälfte wollen wir dann das historische Bewußtsein ansprechen und versuchen, über Möglichkeiten der Vergangenheitsbewältigung nachzudenken. Man muß sich die Situation am Ende des Krieges vorstellen. Hunderttausende von Umsiedlern und Flüchtlingen aus dem Osten, Transporte von verelendeten Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen, verschärftes Okkupationsregime.
"... Diese Entwicklung hat den in der tschechischen Bevölkerung angesammelten Deutschenhaß gesteigert, der zudem von politischen Kräften stimuliert wurde. Die deutsche Bevölkerung in der jetzt wiederhergestellten Tschechoslowakei wurde davon unvorbereitet getroffen; viele der Schuldigen waren zuvor geflohen. In den meist deutsch besiedelten Grenzgebieten entstand nach dem zusammenbruch der bis zuletzt intakten deutschen Verwaltung ein Machtvakuum." So beschreibt die Nachkriegssituation der böhmischen Länder die tschechisch-deutsche Historikerkommission im Buch Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung.
Die Entfremdung der Deutschen und Tschechen erreichte ihren Höhepunkt. Es ist zu sogenannten "wilden Vertreibungen" gekommen. Wie sah es aus? Fragen wir den tschechischen Historiker Jaroslav Kucera:
"Wir müssen zwei Phasen unterscheiden. Erstens die sogenannte wilde Aussiedlung, dort kann man zweifellos und mit gutem Gewissen von Vertreibung sprechen. Wer die Aufnahmen aus dem Kosovo gesehen hat, kann sich ein Bild davon machen, wie die Aussiedlung in manchen Gebieten des Grenzlands aussah. Besonders dort, wo die Lebensbedingungen wirtschaftlich attraktiv waren."
Man hatte aber bald Probleme mit der mangelnden Organisation. Zum Beispiel deshalb, weil oft auch wertvolle Arbeitskräfte vertrieben wurden. Auch das Ausland war mit dieser Art und Weise der Aussiedlung nicht zufrieden, das heißt vor allem die Vereinigten Staaten und England. Diese waren für ein schnelles Ende der wilden Vertreibung.
"Im Sommer begann die Regierung mit den Vorbereitungen zur planmässigen Aussiedlung. Dies schloß die Auswahl der Bahnstrecken und der Aussiedlungszentren ein, man hat ausführende Organe eingerichtet und ihnen eine Struktur gegeben. ...Die wilde Vertreibung endete im August 1945, als die Potsdamer Konferenz entschied, daß die Aussiedlung planmässig durchgeführt wird. Man solle aber mit den einseitigen Aussiedlungen aufhören, die bisher nur dank der Kooperation der Sowjetunion ausgeführt wurden."
Die planmässige Aussiedlung, die im Januar 1946 begann, hatte schon eine einheitliche Organisation. Staatliche Organe waren jeweils Bezirks- oder Ortskommissionen, die die Anzahl der zu transportierenden Personen erhielten. Sie hatten schon eine Kartothek dieser Menschen, in der auch die Reihenfolge festgelegt wurde. Zuerst wollte man nämlich ältere Leute und Beamte aussiedeln, die Landwirte und Arbeiter sollten am längsten in der Tschechoslowakei bleiben.
"Das Amt sandte diesen Menschen eine Aufforderung, am Sammelplatz zu zu erscheinen. Sie konnten in der Regel 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, manchmal mehr. Am Tag der Aussiedlung sollten sie Feuer und Licht löschen, das Haus versiegeln und dies alles mit ihrer Unterschrift bestätigen. Wertsachen mußten sie abgeben. Man durfte keine Wertmetalle, keine historischen Wertsachen, Devisen, Geld oder Aktien ausführen, nur Eheringe. Man hat dann alles kontrolliert, dabei auch, ob die Auszusiedelnden Bettwäsche und Geschirr hatten, also Ausstattung für die ersten Tage in den Auffanglagern in Deutschland, denn die Amerikaner wollten es so."
Und so weiter. Ein Transport hatte in der Regel 30 Waggons mit jeweils 40 Personen, einen davon mit Lebensmitteln, es gab dort meistens auch einen Deutschen, der medizinische Angelegenheiten erledigen konnte. Wie sah es aber mit den deutschen Antifaschisten aus?
"Schon im Herbst 1945 zeigte sich eine bedauerliche Tendenz der Regierungspolitik. ... Man wollte, wenn möglich, auch die Antifaschisten aus dem Land aussiedeln, und so kam es auch im Prinzip. Man hat spezielle Aktionen veranstaltet, die man als freiwillige Aussiedlung bezeichnete, obwohl das Element der Freiwilligkeit hier eher zweifelhaft ist. Die - in Anführungsstrichen - "Freiwilligen" hatten aber bessere materielle Bedinungen, jeweils wie es technisch möglich war. Es stimmt aber auch, daß es nicht immer so verlaufen ist. Es gibt Zeugnisse von Antifaschisten, die genau so wie andere Deutsche ausgesiedelt wurden."
Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, die Deutschen aus der Tschechoslowakei auszusiedeln? Diese Frage wollen wir hier nicht beantworten, es gibt zu viele Quellen und zu viele Meinungen, wie es dazu kam. Viele Menschen, unter diesen auch der tschechoslowakische Präsident Benes, der sudetendeutsche Sozialdemokrat Jaksch, Stalin, Churchill, Roosevelt oder der tschechische Widerstand, sie alle hatten verschiedene Ideen, wie man die Nachkriegsordnung formieren sollte, die sich aber mit der Zeit wandelten und einander beeinflußten. Erinnern wir an dieser Stelle daran, was die Historikerkommission dazu sagt:
"Die Radikalisierung der Vertreibungspläne und ihre Durchführung bei alliierter Zustimmung zum "Transfer" kann man nicht richtig beurteilen ohne Berücksichtigung der im Laufe der Kriegsjahre allgemein gewachsenen Barbarisierung und insbesondere der bekanntgewordenen deutschen Kriegsverbrechen..."
Diese Ansicht teilt auch die deutsche Historikerin Christiane Brenner:
"Der ganz wesentliche Bruch ist natürlich das Jahr 38 ... Vertreibung, das neue, eben nicht mehr wirklich demokratische System, auch die Verfolgung vieler Tschechen und Slowaken - also, diese Nachkriegsentwicklung ist nicht zu verstehen ohne 1938-39, ohne die Zerschlagung der ersten tschechoslowakischen Republik, die eben in der tschechischen Gesellschaft tiefe Zweifel daran ausgelöst hat, ob dieses System, mit dem man sich 20 Jahre so stark identifiziert hat, wirklich das richtige System ist. Also, dieser Bruch von 45, dieses komische, volksdemokratische System, der Mord an und die Vertreibung von so vielen Menschen, das alles lässt sich eben ohne die Vorgeschichte nicht erklären".
Auch Jaroslav Kucera erinnert daran in einem anderen Zusammenhang, nämlich im Kontext der Rechtskultur der Nachkriegszeit: Die Rechtskultur hat ohne Zweifel gelitten. Man muß aber in Betracht ziehen, daß sie schon vorher gelitten hatte. Ihre Zerstörung begann nämlich schon während der Okkupation. Nach dem Krieg ist diese Zerstörung vorangeschritten, diesmal unter tschechischer Ägide.
Es ging aber nicht nur um die Rechtskultur. Die dreiundfünfzig Jahre, die nach dem Krieg kamen, bedeuteten auch einen Umbruch in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Natürlich auch des historischen Bewußtseins.
"Die offizielle Geschichtsschreibung hat die ganze Aussiedlung und auch die Existenz der Deutschen in der Tschechoslowakei ganz erfolgreich verschwiegen. In das historische Bewußtsein der tschechischen Nation drangen nur Henlein und sein Verrat durch , ebenso die Partizipation der Deutschen an der Okkupation und K.H. Frank als Verkörperung des Bösen - man muß zugeben, berechtigterweise. Von dem siebenhundertjährigen, äußerst vielfältigen tschechisch-deutschen Zusammenleben ist im Bewusstsein vieler Menschen nur wenig übriggeblieben: Nur die Tatsache, daß es eine Aussiedlung gab. Aber wie das geschah - das hat die damalige offizielle Geschichtsschreibung nicht erörtert, und die Schulbücher auch nicht."
Das Thema der Vertreibung und Aussiedlung dominierte so vor allem in den Kreisen der Exil- und der inoffiziellen Geschichtsschreibung, wo man verhältnissmässig offen diskutierte. Der tschechischen Gesellschaft lagen aber solche Diskussionen fern.
"Das hat sich nach dem Jahre 1989 gezeigt. Als eines der ersten kontroversen und politisch instrumentalisierten Themen erwies sich gerade die Aussiedlungsfrage. Auf der einen Seite steht vollkommenes Unwissen der Gesellschaft, auf der anderen das Niveau und die Heterogenität der Exil- und Dissidentendiskussion. Das stieß aufeinander. Die Gesellschaft versteht die Diskussion nicht, und dies öffnet einen breiten Raum für bestimmte pauschalierende Urteile und auch für radikale Formulierungen, die an die Stelle von unklaren Positionen treten. Entweder für oder gegen die Aussiedlung."
Das verbessert sich aber zusehends. Heute können wir schon viele Schulbücher finden, die das Thema des tschechisch-deutschen Zusammenlebens differenziert und ausgewogen zu behandeln versuchen.
Der Ansatz der heutigen Schulbücher gibt Hoffnung, daß die kommenden Generationen mit der Vergangenheitsbewältigung weniger Schwierigkeiten haben, auch deshalb, weil sie besser informiert sein werden. Wir haben ebenfalls versucht, in unserer Miniserie über das tschechisch-deutsche Verhältnis ein wenig dazu beizutragen.